Wie direkt soll die Demokratie sein?
Das war die Woche vom 18. bis zum 24. September im Beobachter.
Veröffentlicht am 22. September 2023 - 17:35 Uhr
Liebe Leserinnen und Leser
Schön, sind Sie da.
In vier Wochen wählt die Schweiz ein neues Parlament. Sie fanden den Wahlkampf bisher nicht sonderlich inspirierend? Dann lesen Sie am besten, wie das bei den ersten Wahlen vor 175 Jahren so lief. Damals konnte man schon froh sein, wenn man überhaupt wählen durfte. Sie sind eine Frau? Ja, wo kämen wir denn da hin! Sie sind ein Mann? Schon besser, aber Sie haben in keinem Gasthof ein Hausverbot – und Ihre Eltern sind schuldenfrei, ja?
Oh, Sie sind Katholik? Wir hätten da noch ein paar Fragen…
Heute ist das alles zum Glück deutlich einfacher. Wählen ist ein Grundrecht – und es geht bequem per Post. Da geht aber noch mehr, finden manche: Direkte Demokratie sollte nicht aufwendiger sein, als sich eine Pizza nach Hause zu bestellen.
Die Geschichte der Woche
Unterschriften sammeln auf der Strasse? In St. Gallen bald Vergangenheit. Der Kanton will als erster das sogenannte E-Collecting einführen – und stellt damit die direkte Demokratie auf den Kopf. Wer eine Initiative oder ein Referendum einreichen will, soll die dafür nötigen Unterschriften künftig elektronisch sammeln können. Es ist denkbar, dass so quasi über Nacht genügend Unterschriften für ein Anliegen (oder gegen einen Parlamentsbeschluss) zusammenkommen.
Toll, oder?
Jein. Kritiker befürchten eine Flut von Referenden, unzählige Abstimmungen, schlimmstenfalls eine Blockade des ganzen Systems.
«Als ich las, dass St. Gallen als erster Kanton das elektronische Sammeln von Unterschriften für Volksbegehren ermöglichen will, wunderte ich mich: Ja, warum geht das eigentlich nicht schon lange? Die Recherche hat mir gezeigt, wie fein austariert unser System der direkten Demokratie ist und dass vermeintlich kleine Eingriffe grosse Auswirkungen haben können.» – Conny Schmid
Und damit zu den Neuigkeiten aus der Redaktion
Vielleicht erinnern Sie sich: Vor ein paar Wochen haben wir Sie an dieser Stelle gefragt, ob Sie im neuen Labor des Beobachters mitmachen. Zeit für ein Update: 151 Leserinnen und Leser haben sich bis jetzt gemeldet, um mit uns Beobachter.ch weiterzuentwickeln. Als Erstes haben sich diese Labormitglieder über vier Prototypen für neue Onlineformate gebeugt. Fazit ihrer Feedbacks: Zwei dieser Formate starten diesen Herbst – die anderen beiden sind nicht gut genug und müssen überarbeitet werden.
Es freut uns enorm, dass so viele Leserinnen und Leser im Labor mitmachen. Denn wir glauben, dass Medien nur dann eine Zukunft haben, wenn sie ihre Leserschaft mit einbeziehen, transparent sind – und Kritik nicht als Angriff, sondern als Chance zum Besserwerden verstehen.
Einziger Wermutstropfen: Bis jetzt ist die Weisheit des Alters im Labor noch um einiges stärker vertreten als der jugendliche Übermut. Sind Sie unter 45 – und haben Lust auf Experimente, Interesse an Journalismus und ein bisschen Zeit?
Danke für's Interesse
Was Sie gerade gelesen haben, ist ein Auszug aus dem Beobachter-Newsletter. Immer am Sonntag geben wir darin Einblick in die Redaktion – und stellen die wichtigste Geschichte der Woche ins Schaufenster.
1 Kommentar
Stimmbevölkerung: Verführt und überfordert; nächster Schauplatz: BVG-Referendum
Wenn wir ehrlich sind, ist ein grosser Teil der Stimmbevölkerung im Vorfeld einer Abstimmung von den jeweiligen Argumenten PRO und CONTRA heillos überfordert. Die Bundesratsargumentation ist in dieser Situation immer im Vorteil. Fernsehauftritte, Abstimmungsbüchlein - auch wenn dort oft brandschwarz gelogen wird (siehe Personenfreizügigkeit, Unternehmensbesteuerung, etc.) -, Vertrauen in die Regierung, Harmoniebedürftigkeit der Bevölkerung und Mainstream-Medien machen eine Gegenkampagne äusserst schwierig. Auch sind die Versprechungen von kurzfristigen Vorteilen (Subventionen!) gegenüber langfristig negativen Folgen (Schulden und Steuererhöhungen) abstimmungstechnisch weit besser und wirkungsvoller zu verkaufen.