Von der Absteige zur Edel-Loge
Die Schweizer Jugendherbergen standen vor dem Aus. Heute machen sie schicken Hotels Konkurrenz.
Veröffentlicht am 20. Januar 2015 - 09:14 Uhr
Vier Frauen betreten die Jugendherberge in Saas Fee. Sie tragen elegante Mäntel und ziehen Köfferchen hinter sich her. Eine ruft: «Hey, ist das wirklich eine Jugi?!» In der Lounge nippen Après-Ski-Gäste auf champagnerfarbenen Ledersesseln an ihrem Mangolassi oder Prosecco, picken Tapas und wärmen sich am Cheminéefeuer. Andere Gäste stehen, ein Glas Rotwein schwenkend, vor den Panoramafenstern: bloss Schneeberge und Himmel. Die Frauen lachen. «Hey, so cool! Das ist ja wie im Fünfsternehotel!»
Das Fünfsternegefühl ist Konzept. Es steht für den neuen Kurs, den der Verein der Schweizer Jugendherbergen (SJH) in den neunziger Jahren eingeschlagen hat. «Es galt, eine starke Imagekorrektur umzusetzen. Weg von kratzigen Wolldecken, riesigen Schlafsälen, in denen um 22 Uhr die Lichter ausgehen und Männlein von Weiblein getrennt schlafen. Weg von alldem hin zu neuen Zielgruppen», sagte SJH-Chef Fredi Gmür gegenüber der NZZ über jene Zeit.
Die Jugis schrieben damals rote Zahlen. Die Gäste fehlten – oder anders gesagt: Die Jungen mit Rucksack, die sowieso immer herbeireisten, reichten nicht mehr aus. Um die Betten zu füllen, mussten Familien und ältere Semester angelockt werden. Diese Leute aber, das ahnte Gmür, hatten keine Lust auf Wolldecken und Kasernenmief.
Die Lösung lag im Wandel: Die Jugis sollten weiterhin preiswert und einfach sein, aber auch modern, komfortabel, attraktiv. Ein Spagat zwischen Einfachheit und Luxus. Bei der Herberge in Saas Fee zeigt sich das schon im Namen: Wellness-Hostel. Klingt so unpassend wie Trüffelcervelat. Tatsächlich aber umfasst das Haus eine topmoderne Wellnesszone mit Sauna, Dampfbad, Whirlpool, Wasserfallduschen, Hallenbad, Fitnessräumen und Massageangeboten.
In Saas Fee gibt es kaum noch Sechserzimmer mit Dusche auf der Etage. Die meisten Zimmer sind für zwei Personen oder vierköpfige Familien ausgelegt. Sie verfügen über ein eigenes Bad und ein separates WC –Ersteres mit lilafarbenen, Letzteres farblich passend mit giftgrünen Plättchen ausgestattet. Auf dem Lavabo im Bad liegen sogar, wie in einem Hotel, kleine Handseifen und Frotteetücher.
Die Zimmer selbst haben dunkles Parkett, Wände in gedeckten Farben oder mit trendiger Tapete. Die Betten sind gemacht, das Muster auf der Bettwäsche hat sich eine Schweizer Textildesignerin ausgedacht. Kosten für ein Doppelzimmer samt Frühstück und Eintritt in die Wellnesszone: Fr. 152.60 pro Zimmer und Nacht. Das ist nicht teuer, gemessen an dem, was man für das Geld bekommt.
Anfang des 20. Jahrhunderts, als der «Wandervogel» und andere Jugendorganisationen die ersten Herbergen gründeten, war das Ziel, mit wenig mehr als nichts hinauszuziehen und sich für möglichst wenig Geld in ein möglichst einfaches Nest zu legen. Die Idee prägte die Jugendherbergen jahrzehntelang. Und heute?
Chantal Anthamatten, die das Wellness-Hostel in Saas Fee seit der Eröffnung im vergangenen Sommer leitet, lacht laut. Für sie ist die Einfachheit überall, sogar in den schicken Doppelzimmern. Kein Fernseher, keine Minibar, kein Zahnputzglas, kein Badezimmerteppich, Regale statt Schränke, Hocker statt Stühle, keine Kunst an der Wand: «Es gibt nur das Nötigste, dafür in hervorragender Qualität.» Die Tische zum Beispiel: aus einheimischem Massivholz, von einheimischen Schreinern gefertigt. Sie waren teuer. Dafür scheinen sie robust genug, um die nächsten 500 Jahre zu überstehen. «Für mich ist das Einfachheit pur!»
Anthamatten strahlt Distanz und Eleganz aus, mit streng nach hinten gebundenem schwarzem Haar, schwarzem Rock, schwarzer Bluse, schwarzen Ballerinas und roten Lippen. Sie führte bis vor kurzem ein Fünfsternehotel im Ort. «Die Welt dort, das war Luxus. Die Welt hier ist etwas anderes.»
Keiner der Gäste trauere der Jugendherberge von gestern nach. «Bis jetzt kam niemand und rief: Oh, wie schade, das ist ja gar keine Jugi mehr!» Alle seien begeistert. Das, was vor 20 Jahren angestossen wurde, trifft heute den Nerv der Zeit.
Der anhaltende Erfolg ist der beste Beweis: Im letzten Jahr waren die Jugis im Schnitt zu 55 Prozent belegt. Das klingt nach wenig, liegt aber über dem Durchschnitt bei der Konkurrenz, der traditionellen Hotellerie. Der Plan, neue Gäste anzulocken, ist aufgegangen. Die reiferen Semester ab 45 machen heute den grössten Teil aus, knapp 40 Prozent. Viele bringen ihre Kinder mit. Viele könnten sich auch ein teures Hotel leisten. «Aber sie mögen die ungezwungene Art einer Jugi», sagt Chantal Anthamatten. «Hier können sie im Trainingsanzug zum Frühstück kommen, sich zu Fremden an den Tisch setzen und ein Gespräch führen.»
Die Jugis mussten sich auch innerlich der Zeit anpassen. Der Verein Schweizer Jugendherbergen wandelte sich von der defizitären Non-Profit-Organisation zum professionellen Unternehmen, das marktwirtschaftlich und strategisch denkt. Die Herberge in Davos ist ein gutes Beispiel dafür. Sie heisst, wen wunderts, Youthpalace. Das Haus wurde 1913 als Sanatorium für tuberkulosekranke Kinder erbaut, in der Hochblüte der Belle Époque in Davos. Wo auf den südwärts ausgerichteten Balkonen Schwindsüchtige in Betten lagen, lassen sich heute Gäste auf eleganten Liegestühlen bräunen. Auf dem Parkplatz stehen teure Karossen.
Youthpalace-Leiter Michael Behling hat ein gepierctes Ohr, eine gepiercte Augenbraue und freundliche hellblaue Augen. Er erzählt, wie der Verein das Haus 2000 kaufte, renovierte und ein Jahr später eröffnete. Es war ein strategischer Schritt. Eigentlich schien das alte Sanatorium nicht geeignet für eine Zukunft als Jugi. Da war zu viel des Guten: zu viel Fläche pro Zimmer und für jedes Zimmer eine eigene Dusche und ein eigenes WC.
Aber zusätzlich zur Imagekorrektur hatte der Verein Mitte der neunziger Jahre auch eine «Netzwerkstrategie» erarbeitet: Die Herbergen sollten über die ganze Schweiz verteilt ein engmaschiges Netz bilden und in den renommierten Tourismusorten im Besitz der SJH sein. Davos war darin ein weisser Fleck gewesen. Man war gespannt, wie die Gäste auf den Komfort reagieren würden. Die Jugi in Davos bot als erste den Hauch von Luxus, der später durch alle neuen Häuser wehen sollte.
Die Gäste hätten angerufen und wissen wollen, ob sie Schlafsack und Handtücher mitnehmen müssten, erinnert sich Behling. Er habe immer geantwortet: «Bei uns gibt es alles.» Damals fing der Verein auch an, das Verhalten der Gäste zu beobachten. Wenn mehr oder weniger Gäste nach Davos kamen, wollte die Geschäftsstelle in Zürich genau wissen, warum. Sie wollten auch wissen, wie alt die Gäste waren, woher sie kamen, wie sie reisten, ob sie mit einer Gruppe unterwegs waren, mit der Familie oder allein.
Behling lernte, die Gästestruktur mit Computerprogrammen zu erfassen. «Früher gab es das nicht. Da kamen die Gäste, wie sie halt kamen.» Heute liest die Zentrale in Zürich die Bewertungen der Gäste auf den Online-Plattformen. Wenn sich Kritik zwei- oder dreimal wiederholt, meldet sie sich bei Behling und überlegt gemeinsam mit ihm, was man verbessern könne. «Für die Betriebsleiter ist der Druck deutlich gestiegen», sagt Behling. Aber das störe ihn nicht. Es sei notwendig, um im Tourismus zu überleben.
Den professionellen Geist erkennt man auch daran, dass die Architektur gezielt als Marketinginstrument eingesetzt wird. Die Häuser, die in den vergangenen Jahren entstanden sind – etwa in Scuol (2007), Interlaken (2012) oder Gstaad-Saanenland (2014) –, sind nichts anderes als der Versuch, das geänderte Image in ein dreidimensionales Gebilde zu übersetzen.
In Interlaken hat das Gebilde die Form eines massiven, langgezogenen, viergeschossigen Kubus, der trotz aller Wuchtigkeit zu schweben scheint. Das liegt vor allem am verglasten Erdgeschoss mit seiner fast 60 Meter langen Eingangshalle. Sie leuchtet in einem warmen Licht, ist belebt. An den langen Tischen im Restaurant diskutieren Gruppen junger Chinesen, auch einige Inder. An den kleineren Tischen sitzen Männer und Frauen aus dem Altersheim gegenüber. Sie sagen, sie kämen nachmittags immer, weil es hier viel mehr Leben gebe als bei ihnen.
In der angrenzenden Küche werken drei Köche. Neben dem Restaurant ist viel leerer Raum, der den Eindruck von Grosszügigkeit vermittelt. Mittendrin ein Billardtisch. Dahinter die Lounge mit Ledersofas, mächtigem Cheminée, Designer-Stehlampen. Junge Koreaner fläzen sich auf den Sofas, vertieft in Laptops und Smartphones.
Keine Trennwand in der ganzen Halle. Separater Essraum, abgetrennte Küche, Pingpongtisch im Keller, das ist in der Architektur der neuen Jugis nicht mehr vorgesehen. Alles soll offen, durchlässig, transparent wirken. Die Menschen sollen sich begegnen können.
Ueli Zürcher, Herbergsleiter seit Anbeginn, ist verliebt in sein Haus. Er lebt mit seiner Familie selbst hier, im obersten Stock. «Ich fühle mich extrem wohl. Dieses Gefühl hatte ich schon, als das noch ein Rohbau war.» Die Gäste sind nicht minder begeistert, ihre Bewertungen im Internet wahre Lobeshymnen: «so viel Licht»; «wunderschön und ultramodern»; «noch nie so eine coole Herberge gesehen». 2013 gingen die Preise «Beste Jugendherberge weltweit» und «Gemütlichste Jugendherberge weltweit» nach Interlaken. Ueli Zürchers Ohren glühen vor Stolz. Das liege bestimmt am Haus. Er und sein Team hätten gar nicht viel tun müssen, nur freundlich sein.
Die Wahrheit ist, dass die Architektur ohne Ueli Zürcher und sein Team niemals ihre Wirkung entfalten könnte. Auch die Geschäftsstelle des Vereins weiss das. Sie lud den Herbergsvater deshalb vor der Eröffnung im Mai 2012 nach Zürich ein. Dort lernte er, wie wichtig es ist, Gäste an der Rezeption stehend zu empfangen: auf Augenhöhe, am besten mit Händeschütteln. Er erfuhr auch, dass der Gast sich wohler fühlt, wenn er das Team auf den ersten Blick erkennt. Dass deshalb alle Angestellten dieselbe Kleidung tragen sollten. Man zeigte ihm, wie man ein Frühstücksbuffet einladend präsentiert. Oder dass Bilder bei dieser ausdrucksstarken Architektur unnötig sind.
Der Spagat zwischen Schlichtheit und Luxus, zwischen dem Groove einer Non-Profit-Organisation und Professionalität tat einigen Herbergsleitern ziemlich weh. Sie konnten und wollten mit dem Imagewandel nichts anfangen. Auch nicht mit den Weiterbildungskursen, die sie plötzlich absolvieren mussten und die Titel trugen wie «Vom Kasernenverwalter zum Gastgeber». Sie kündigten. Oder der Verein kündigte ihnen.
Es gibt aber auch Menschen, bei denen es andersrum lief. Sie bewarben sich als Herbergsleiter, gerade weil sie sich mit dem neuen Image so gut identifizieren konnten. Stefanie Daub etwa, die zusammen mit ihrem Mann seit drei Jahren die Jugi in Scuol leitet. Oder Thomas Schetty, der letzten Juni die neue Herberge in Gstaad-Saanenland übernommen hat. Sie sind beide um die 40 und arbeiteten ursprünglich in der Marketingbranche. Sie sagen Dinge wie: «Das hier ist genau mein Stil.» Oder: «Mir gefällt das Visionäre.»
Natürlich meinen sie die Häuser, die sie führen und in denen sie auch leben: Vorzeigeobjekte, preisgekrönt für Architektur und ökologische Bauweise. Sie meinen aber auch noch etwas anderes. Etwas, das man nicht sehen kann: Sie sind voll ansteckender Aufbruchstimmung.