Mit den Kindern auf Weltreise
Wer die Welt kennenlernen will, muss sich Zeit nehmen. Leider sind Schulferien kurz. Kann man trotzdem mit Kindern auf eine grosse Reise gehen? Eigentlich nicht. Aber irgendwie schon.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2012 - 09:20 Uhr
Ein dreimonatiger Segeltörn, zusammen mit den Kindern – davon träumt Familie Gerber* schon lange. Jetzt, da Anna und Lino neun und elf Jahre alt sind, bietet sich eine gute Gelegenheit, mit dem Boot von Freunden das Mittelmeer zu erkunden.
Natürlich sind Lino und Anna schulpflichtig – und im Lehrplan finden Abenteuer- und Entdeckungsreisen nur statt, wenn sie andere machen. Wer selbst die Welt erkunden will, muss das in Freizeit oder Ferien tun – und die sind knapp.
Schüler können zwar in manchen Kantonen zusätzlich zu den regulären Ferienwochen freie Tage oder Halbtage beziehen, während deren sie dem Unterricht auch ohne Begründung fernbleiben können. Doch die kantonalen Regelungen sind unterschiedlich – von einem freien Halbtag pro Quartal bis zu fünf freien Halbtagen pro Schuljahr.
Für Tagesausflüge mögen sich diese Freitage eignen, als Ferienverlängerung eher nicht. Erstens können in den meisten Kantonen direkt vor oder nach der Ferienzeit keine freien Halbtage bezogen werden – weil die Klassen sonst «ausfransen» würden und ein geregelter Schulschluss oder -beginn deshalb nicht möglich wäre. Und zweitens sind die wenigen Tage keine Lösung für Familien, die wie Gerbers eine längere Reise planen: Für den dreimonatigen Segeltörn würden Anna und Lino das ganze Quartal zwischen Frühlings- und Sommerferien verpassen.
Was tun? Der Zeitpunkt für die Reise wäre ideal: Die Kinder sind gross genug, damit sie viel in Erinnerung behalten werden, aber in der Schule verpassen sie noch nicht Unmengen an Unterrichtsstoff und keine wichtigen Laufbahnentscheide. Und da die Kinder mit ihren Noten stets im vorderen Klassendrittel liegen und Gerbers bereit sind, den anfallenden Unterrichtsstoff unterwegs zu erarbeiten, dürfte die Reise auch die weitere Schulkarriere nicht beeinträchtigen.
Deshalb haben sich die Eltern von Lino und Anna – nach Rücksprache mit den Klassenlehrkräften – mit einem Gesuch um Unterrichtsdispensation an die Schulpflege gewandt. Weil zu erwarten ist, dass die kantonalen Schulbehörden auch bezüglich längerer Abwesenheiten nicht einheitlich reagieren, hat der Beobachter Gerbers Gesuch anonymisiert und den zuständigen Stellen in Bern, Zürich und Basel vorgelegt.
Im Kanton Bern würde Gerbers Dispensationsgesuch abgelehnt. Die Berner Verordnung über Absenzen und Dispensationen kennt zwar Regelungen für Alpzeit (bis zu drei Wochen pro Jahr) und sogar für zusätzliche Familienferien – allerdings nur, falls aus beruflichen Gründen nicht jährlich mindestens vier Wochen Ferien der Eltern mit den Schulferien zusammenfallen.
Immerhin: Mit einer Bewilligung des zuständigen Schulinspektorats ist es im Kanton Bern zum Beispiel möglich, die Schulpflicht vorübergehend mit Privatunterricht zu erfüllen. Dazu müssen die Kinder aber von der öffentlichen Schule ab- und anschliessend wieder angemeldet werden.
Auch für das Volksschulamt des Kantons Zürich ist eine längere Familienreise zwar «sehr bereichernd», aber «kein zureichender Grund», dem Unterricht fernzubleiben. Familien mit Kindern müssten gewisse Einschränkungen der «Reisefreiheit» in Kauf nehmen, teilt das Amt mit. Die Idee der Eltern, den verpassten Schulstoff selbst zu vermitteln, vermöge nicht zu überzeugen – zumal fraglich sei, ob das überhaupt möglich sei. Überdies könne mit dieser Begründung «das Dispensationsrecht fast gänzlich aushebelt werden».
In Basel sind nach Angaben des kantonalen Erziehungsdepartements in den letzten zehn Jahren nur rund zehn Gesuche eingegangen, die mit jenem von Gerbers vergleichbar sind. Die Schulbehörden entschieden in diesen Fällen jeweils «in Teilautonomie». Erwogen würden die Dauer des Urlaubs und die Chancen der Wiedereingliederung in die Stammklasse. Beim Wiedereintritt müssen die Schüler analog zu Neueintritten die erforderlichen Leistungen vorweisen. Die Schule kann die Rückkehrer provisorisch aufnehmen oder eine Aufnahmeprüfung verordnen. Die Erfahrung zeige, dass sich jeder Fall anders präsentiere und daher einzeln geprüft werden müsse. Die Gewährung von Urlauben durch die Schulleitung vor Ort sei daher sinnvoll.
Teilautonome Entscheide gibt es anscheinend auch im Kanton Bern. Entgegen der offiziellen Stellungnahme der Erziehungsdirektion wurde schliesslich das Gesuch der Familie Gerber dort nämlich bewilligt.
*Name geändert