Versteckt im Vedeggio-Tal gibt es ein Labor, das keiner kennt. Im zweiten Obergeschoss des unscheinbaren grauen Gebäudes wartet ein Mann in Shorts und Flipflops, dessen Namen auch keiner kennt. Warum nur? Jürgen Schmidhuber lacht. «Entweder sind wir Schweizer zu bescheiden, oder wir müssen hier dringend eine Pressestelle schaffen», sagt er.

In Manno im Tessin, wenige Meter neben der Hauptstrasse, auf der pausenlos Lastwagen vorüberdonnern, befindet sich eines der weltweit besten Labore für künstliche Intelligenz: das Istituto Dalle Molle di Studi sull’Intelligenza Artificiale (IDSIA). Co-Direktor Jürgen Schmidhuber leitet hier seit gut 20 Jahren ein Team, das bereits Dutzende international bedeutender Preise gewonnen hat.

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Was ist künstliche Intelligenz?

Künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet den Versuch, menschenähnliche Intelligenz zu erschaffen. Idealerweise sollte der Computer oder das Netzwerk Probleme so eigenständig lösen wie Menschen, kreativ denken, mit Menschen kommunizieren und sich in der Welt zurechtfinden können. Vorerst bleibt dies aber noch eine Vision. Trotzdem übernimmt die sogenannt schwache KI immer mehr Aufgaben im Alltag, etwa die Spracherkennung auf unseren Handys oder als Leitsysteme im Verkehr.

«Wollen Sie ein Beispiel unseres Tuns? Dann holen Sie Ihr Smartphone hervor», sagt der 53-Jährige. Seine Forschung ist eine der Kerntechnologien von Google Voice, dem Spracherkennungsprogramm auf Android-Handys. Er findet es «ziemlich lässig», dass über eine Milliarde Menschen seine Algorithmen mit sich herumtragen. Selber hat er ein iPhone, von Apples Spracherkennung ist er aber mässig angetan. «Siri hat Aufholbedarf.»

Trotz der Bedeutung der Forschung fehlt dem IDSIA jeglicher Silicon-Valley-Charme, wie man ihn etwa von Google-Labors kennt. Keine kreativen Arbeitsplätze in bunten Ballgruben, keine Rutschbahnen zwischen den Etagen. Links und rechts eines langen Flurs sind Büros mit grauem Linoleumboden angeordnet, in denen Männer und Frauen konzentriert auf ihren Bildschirm starren. In einer grossen Halle liegen Roboter herum, ein paar Drohnen, der Kopf eines Androiden, Greifhände. Riesige, stickige Räume sind vom Boden bis zur Decke mit surrenden Rechnern gefüllt. Ein kleiner Farbtupfer ist der Abakus, der bunte Rechenrahmen im Büro von Jürgen Schmidhuber. «Falls der Server mal ausfällt», sagt er und grinst.

Lange galt er als Aussenseiter

Als einer der grossen Pioniere für künstliche Intelligenz (KI) propagiert Schmidhuber seit den achtziger Jahren tiefe und rückgekoppelte künstliche neuronale Netzwerke. Lange galt er damit als Aussenseiter, andere Trends dominierten die Forschung. Aber seit einigen Jahren erleben die neuronalen Netzwerke eine Blütezeit.

Vereinfacht gesagt simulieren Forscher ein Hirn, das selber lernt, wie es lernen soll. «Wie ein Baby. Zunächst ist es ganz doof. Dann begreift es ganz langsam, über Versuch und Irrtum, wie die Welt funktioniert. Etwa dass ein Buch runterfällt, wenn man es anstösst», sagt Schmidhuber. Erkennt das Programm ein solches Muster, stärkt oder schwächt es bestimmte Verbindungen zwischen Knotenpunkten im künstlichen Gehirn und kann künftig auf dieser Erfahrung aufbauen. Der Vorteil von solchen Netzwerken ist, dass sie sich nicht an vordefinierte Regeln eines Programmierers halten müssen: Sie können Lösungen entdecken, an die zuvor kein Mensch gedacht hat.

Plötzlich geht alles ganz schnell

Obwohl sich Jürgen Schmidhuber seit seiner Jugend mit lernenden Maschinen beschäftigt, ist er selber überrascht, wie rasant sich die Entwicklung derzeit beschleunigt. Während 2010 noch zehn Millionen US-Dollar in Start-ups für künstliche Intelligenz investiert wurden, sind es heute Milliarden. Ein Grund dafür ist die aktuelle Rechenleistung der Computer, die extrem komplexe Netzwerke ermöglicht. «Ich wusste schon als 25-Jähriger, dass wir warten müssen, bis die Computer aufholen. Heute rechnen sie für denselben Preis hunderttausend Mal schneller als damals.»

Die Anwendungen für die neuronalen Netzwerke sind vielfältig. IDSIA hat damit etwa die Software einer Drohne programmiert, die Verirrte in den Bergen finden soll. Oder Netzwerke, die besser als Menschen Verkehrssignale erkennen können, ideal für selbstfahrende Autos. So erfolgreich ist das Labor, dass manche sich vor seinen Resultaten zu fürchten begannen. Der Tesla-Gründer und Tech-Pionier Elon Musk etwa überwies dem IDSIA Geld, um zu untersuchen, wie man mögliche negative Auswirkungen der KI vermeiden kann.

«Hallo, kleiner Freund» – Dieses Hirn soll selber lernen, wie es lernen soll.

Quelle: Claudio Bader

«Künstliche Intelligenz ist wie ein Baby. Es lernt über Versuch und Irrtum, wie die Welt funktioniert.»

Jürgen Schmidhuber

«Es ist lustig, plötzlich bin ich nicht nur Forscher, sondern auch Unternehmer», sagt Schmidhuber. Er ist soeben von einer langen Reise zurückgekehrt. Hielt einen Vortrag vor Wirtschaftsvertretern in Berlin, dann einen in New York, zurück nach Deutschland, danach China und London. «Ich weiss manchmal nicht mehr, welchen Jetlag ich gerade habe.»

Hinter IDSIA steckt nicht nur Jürgen Schmidhuber. Neben Forschern in anderen Bereichen wie Schwarmintelligenz sind auch seine Doktoranden und Postdocs bedeutend, die er aus der ganzen Welt ins Tessin holt – sein Talentpool, wie er es nennt. Eine Gruppe von ihnen wartet im grauen Gang und philosophiert über die ethische Verteilung von Forschungsgeldern, als Schmidhuber sie zum Mittagessen abholt. Zwei sind aus Deutschland, einer ist aus Indien, eine Frau aus Südkorea. 

Schnell wird klar, warum Schmidhuber von ihrer Intelligenz schwärmt: Die Themen am Mittagstisch reichen von den Sprachwurzeln des Italienischen über die Bedeutung von Bewusstsein bis hin zu logischen Denkfehlern in den Sozialwissenschaften.

Eher nebenbei wird Pasta mit Nusspesto in den Mund befördert. Ganz zuletzt diskutiert das Team engagiert darüber, wie Roboter mit neuronalen Netzwerken Charakterzüge wie Schüchternheit oder Schwermut entwickeln würden. Könnten sie auch böse werden, richtig mörderisch, wie der Computer Hal 9000 im Film «2001: A Space Odyssey»? Der Inder schmunzelt: «Also wenn es zum Krieg von Menschen und Robotern kommt, bin ich auf der Seite der Roboter.»

Roboter, ein paar Drohnen und Greifhände liegen in einer grossen Halle herum.

Quelle: Claudio Bader
Top-Leute aus der ganzen Welt

Schmidhubers Doktoranden und Postdocs sprechen Englisch miteinander. Viele stammen aus den USA, Deutschland und Holland, eher wenige aus der Schweiz. Trotz der Abgeschiedenheit des Labors, eine halbe Weltkugel von Silicon Valley entfernt, hatte der 53-Jährige nie Schwierigkeiten, gute Leute anzuwerben. Sein Ruf eilt ihm voraus. Ursprünglich wurde IDSIA im Tessin aufgebaut, weil der italienische Geschäftsmann Angelo Dalle Molle hier seine Gelder investierte, die er unter anderem mit dem Schnaps Cynar verdient hatte. Dalle Molle gründete vier wissenschaftliche Institute, darunter 1988 das IDSIA.

Heute ist IDSIA mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana und mit der Uni Lugano verbunden. «Vor zehn Jahren wäre es wohl richtig gewesen, nach Silicon Valley zu gehen. Aber jetzt ist es nicht mehr nötig», sagt Schmidhuber. Immer öfter investierten Tech-Riesen wie IBM oder Baidu im Ausland in Start-ups. «Und was gerne vergessen geht: Die Schweiz ist Weltmeisterin im Forschen. Pro Einwohner gibt es hier am meisten Nobelpreisträger, Patente und wissenschaftliche Zitate.»

«Superintelligente Maschinen würden sich nicht gross um Menschen kümmern.»

Jürgen Schmidhuber

Doch durch den KI-Boom wird es schwieriger, die Schützlinge im Tessin zu halten. Jahrelang wurde die Forschung zu künstlicher Intelligenz primär von Universitäten betrieben, nun werfen digitale Giganten wie Google und Facebook im Duell um lernende Maschinen mit Millionen um sich und zahlen riesige Ablösesummen für Jungtalente. «Wie bei Fussballprofis», sagt Schmidhuber. Er hat manche Firmen, die jetzt den Markt aufwühlen, schon mit Kannibalen verglichen: Sie profitieren von öffentlich zugänglicher Forschung, tragen aber wenig zum weltweiten Erkenntnisgewinn bei. Auch für die Technologie, die in Google Voice steckt, hat Schmidhuber keinen Rappen gesehen – sein Team hatte die Forschung für die Öffentlichkeit publiziert.

Zugleich ist er stolz auf die Erfolge seiner Zöglinge. Zwei Ex-Doktoranden waren etwa Mitgründer und erste Angestellte der englischen Firma DeepMind, die Google 2014 für rund 600 Millionen Dollar aufgekauft hat. Seinen grössten Erfolg feierte das Start-up diesen März, als es mit dem neuronalen Netzwerk AlphaGo den weltbesten Go-Spieler 4:1 besiegte.

Um Abgängern von IDSIA eine Perspektive zu bieten – und um vom riesigen Interesse von Investoren zu profitieren –, hat Schmidhuber letztes Jahr mit vier Mitarbeitern das Start-up Nnaisense gegründet. Damit arbeitet er weiter an seinem Kindheitstraum: den ersten universellen Lerner schaffen. Eine künstliche Intelligenz, die sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet fokussiert, sondern wie Menschen die Welt grundsätzlich versteht. In «nicht so vielen Jahren», glaubt Schmidhuber, wird er eine KI mit den geistigen Fähigkeiten eines Kapuzineräffchens erschaffen. Ein grosser Sprung: Heutige KIs sind nicht einmal annähernd so intelligent wie eine Ratte.

Hawking, Gates und Musk beunruhigt

Schmidhubers Träume von universellen Lernern jagen manchen Angst ein. Stephen Hawking, Bill Gates, Elon Musk – alle haben schon vor den Gefahren superintelligenter KIs gewarnt, die die Menschheit zerstören könnten. Auf solche Horrorszenarien reagiert Schmidhuber jeweils leicht genervt, ist es doch eine der häufigsten Fragen, die er von Skeptikern beantworten muss. «Superintelligente KIs würden sich nicht gross um die Menschen kümmern», ist er überzeugt. «So wie wir uns auch nicht mit Ameisen abtun, sondern sie einfach leben lassen. Abgesehen von den ganz wenigen, die unser Haus besiedeln wollen.»

Vielleicht hat der 53-Jährige aber auch deshalb so wenig Angst vor der Zukunft, weil er nicht einsieht, warum die Menschen die Krone der Schöpfung bleiben sollten. Im Gegenteil: «Die Entwicklung wahrer künstlicher Intelligenz ist das letzte Bedeutsame, was man als Mensch noch erreichen kann», sagt er. Und grinst.

Die Top-Forschungen des IDSIA-Teams

  • 2011 entwickelte das IDSIA-Team um Jürgen Schmidhuber ein Programm, das sich selber die Erkennung von chinesischen Schriftzeichen beigebracht hat. In baldiger Zukunft wird es möglich sein, das Smartphone auf die Schrift zu richten und eine Simultanübersetzung zu erhalten. Das preisgekrönte Programm funktioniert auch in Französisch, Farsi und Arabisch.

  • 2012 hat ein IDSIA-Programm Dutzende Forscher der Elite-Universitäten ETH, MIT und Harvard geschlagen: Es erkannte neuronale Membrane auf mikroskopisch dünnen Hirnschichten von Tieren besser als Menschen. Damit lassen sich detaillierte Hirnmodelle bauen.

  • Das Institut gewann 2012 einen weltweiten Wettbewerb mit einem Programm, das in Mikroskopaufnahmen der weiblichen Brust winzige Brustkrebsherde findet, fast so gut wie erfahrene Histologen. Künftig könnten Menschen in armen Ländern ohne Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung per Handy Bilder zur Diagnose an einen automatischen Arzt schicken.

  • Ein neuronales Netzwerk der IDSIA konnte in einem Test 99,5 Prozent von deutschen Verkehrszeichen richtig lesen – auch bei schlechten Lichtverhältnissen. Menschen erkannten 98,8 Prozent richtig. Diese Fähigkeit wird in der Zukunft für selbstfahrende Autos wichtig sein, damit sie sich an Verkehrsregeln halten können.