Zur Sünde verführt
Unser Hirn bestimmt, ohne dass wir es wahrnehmen, was und wie viel wir essen.
aktualisiert am 4. September 2018 - 09:55 Uhr
Ein Mensch trifft jeden Tag durchschnittlich 200 Entscheidungen zu seiner Ernährung: Frühstücken oder nicht? Weissbrot oder Müesli? Wie viel wovon? Ernähre ich mich zu Hause oder verpflege ich mich auf dem Weg zur Arbeit? Jedes Mal, wenn wir an den Gipfeli im Kaffeeraum vorbeikommen oder an der Schale mit Bonbons, die auf dem Bürotisch einer Kollegin thront, entscheiden wir. Soll ich oder soll ich nicht? Gönn ich mir nachmittags zwischendurch einen Cupcake oder nicht? Oder vielleicht nur die Hälfte? Einen Drittel?
In meiner Kindheit war meine Familie einmal zu einer Grillparty bei Freunden eingeladen. Die Gastgeberin, eine gemütliche, mollige Frau, gönnte sich immer nur ein «Dritteli», wenn ihr Mann, der Grillchef, sie fragte, ob sie noch etwas Cervelat nehme. Das aber dreimal, bis sie eine ganze Wurst verdrückt hatte.
Viele Entscheidungen beim Essen treffen wir unbewusst, und wir können sie uns nicht erklären. Neuerdings schon. Der US-amerikanische Ernährungswissenschaftler und Konsumforscher Brian Wansink untersucht seit mehr als 20 Jahren das Phänomen «unbewusstes Essen». Seine Resultate sind erhellend: Wir essen nicht einfach ungesund oder zu viel, weil wir Heisshunger haben oder dem Lustprinzip folgen, sondern weil es überall Signale und Hinweise gibt, die uns zum Essen und oft eben zu sogenannt ungesundem Essen verleiten. Die Verführer sind Familie und Freunde, Verpackungen und Geschirr, Ablenkung und räumliche Nähe, Formen und Gerüche, optische Täuschungen und Volumen, Namen und Nummern, Farben und Gefühle. Doch alles der Reihe nach.
Für zwei Geschmacksrichtungen waren unsere Urahnen bereit, ihr Leben zu riskieren: fettig und salzig . («Fettig» steht seit der Entdeckung eines entsprechenden Rezeptors auf unserer Zunge nahe davor, als sechste Qualität in den Katalog der Grundgeschmäcker aufgenommen zu werden.) Fett verhalf ihnen zu einer Kalorienreserve, dank der sie Zeiten des Mangels überstehen konnten. Und Salz ist unter anderem darum lebenswichtig, weil es den Wasserhaushalt des Körpers reguliert. Die Geschmacksrichtung süss war ebenfalls überlebenswichtig, denn anhand der Süssigkeit konnten die frühen Menschen geniessbare Beeren und Früchte von giftigen bitteren unterscheiden.
Wir sind genetisch darauf programmiert, Pizza, Burger, Entrecote, Pommes frites, Schokolade, Beeren, Rahm und Kekse zu mögen, denn die Vorliebe für Fett, Salz und Zucker schafft die Voraussetzung fürs Überleben. Aber ausgerechnet diese drei Zutaten erklären moderne Ernährungsratgeber und Diätkochbücher zu unseren grössten Feinden. Paolo Colombani, 20 Jahre lang Ernährungswissenschaftler an der ETH Zürich, relativiert: «Es gibt keine ungesunden Lebensmittel. Es ist immer entscheidend, wie viel jemand von etwas isst.» Allein die Dosis macht das Gift. Warum wir uns trotzdem nicht immer im Zaum halten können und so furchtbar gern «sündigen», hat Brian Wansink herausgefunden.
Je grösser eine Schale oder Verpackung, desto mehr essen wir daraus. Das belegen mehrere Studien. Wansink und seine Studenten zum Beispiel haben ein Experiment in einem Kino gemacht. Sie verteilten gratis Popcorn, abgepackt in mittelgrosse und grosse Tüten. Obwohl ein Teil der Kinobesucher vom Essen kam, liess niemand sein Popcorn unberührt. Aber die mit den grossen Tüten langten im Schnitt 21-mal häufiger zu und assen 53 Prozent mehr Popcorn als diejenigen, die mittelgrosse Tüten erhalten hatten. Bei weiteren Experimenten mit Produkten wie Schokolinsen oder Frühstücksflocken zeigte sich immer wieder: Wer die grössere Menge erhält, isst auch mehr, weil die Packung eine Konsumationsnorm vorgaukelt, an der wir uns unbewusst orientieren.
Doch nicht nur die Grösse der Verpackung spielt eine Rolle, sondern auch diejenige des Geschirrs. Wer eine bestimmte Menge von einem kleinen Teller isst, hat das Gefühl, mehr zu essen, als wenn er die gleiche Menge auf einem grossen Teller vorgesetzt bekommt. Dabei lässt er sich von einer optischen Täuschung in die Irre führen: Liegen zwei unterschiedlich grosse Kreise nebeneinander, erscheint der im kleineren Kreis eingezeichnete Mittelpunkt grossflächiger als der im grösseren Kreis (siehe Grafik). «Wir benutzen Hintergrundobjekte als Richtwert, um Grössen abzuschätzen. Das lässt sich direkt aufs Essen übertragen», schreibt Brian Wansink in seinem Buch «Mindless Eating». Natürlich hat er das mit Probanden getestet. Seine Erkenntnis: Wer mit einer grossen Dessertschale am Eisbuffet steht, schöpft mehr Glace und isst auch mehr als andere mit einer kleineren Dessertschale. Sogar die Grösse des Schöpflöffels spielt eine Rolle: Mit einem grossen Löffel schöpfen wir grosse Portionen, mit einem kleinen bescheidenere.
Die Verfügbarkeit von Nahrung beeinflusst unser Essverhalten, das demonstriert auch Wansinks Popcornexperiment: Wer mehr zum Naschen hat, der isst auch mehr. Daran zeigt sich die ungeheure Macht, die das Kaufverhalten auf unsere Essgewohnheiten ausübt – unabhängig davon, ob wir selber einkaufen oder ob das jemand anders für uns tut.
Doch was tun, wenn man eine Schachtel mit bunten Cupcakes geschenkt bekommt? Wer sichergehen will, dass er die Süssigkeit möglichst bald verdrückt, sollte sie in einer schmucken Schale auf dem Küchentisch ausstellen, direkt neben dem Arbeitsplatz oder auf dem Klubtisch vor dem Fernseher. Ganz einfach dort, wo man viel Zeit verbringt. Denn wir essen viel von etwas, wenn wir es ständig vor Augen haben und somit öfter daran denken. Weil es viel zu anstrengend ist, immer wieder nein zu sagen zu etwas, was lecker ist und einfach zu haben, wird aus vielen Nein plötzlich ein Ja – meist in der Form eines «Okay, aber nur eins!». Aus diesem Grund verzichten viele Eisverkäufer im Sommer darauf, ihre Ware mit einem Deckel zu schützen.
Als anstrengend empfinden wir es auch, ein paar Schritte gehen zu müssen, um die lockenden Cupcakes zu erreichen. Deshalb spielt nicht nur die Sichtbarkeit der Versuchung, sondern auch die Distanz dazu eine entscheidende Rolle: Studien zeigen, dass wir von Naschereien, die sich in Reichweite unserer Hände befinden, viel mehr verschlingen als von anderen, die nur ein paar Meter entfernt stehen.
Nicht nur der optische Reiz kann uns zum Naschen verführen, auch durch andere Sinneswahrnehmungen ausgelöste Gedanken können uns hungrig oder zumindest «gluschtig» machen. Wie die Hunde in Pawlows berühmtem Experiment fangen wir an, Speichel zu produzieren, wenn wir etwas sehen, hören oder riechen, was uns ans Essen erinnert. Ein Beispiel: Auf meinem Heimweg komme ich an vier Bäckereien vorbei, und aus jeder Backstube strömt mir der Duft von frischem Nussbrot, von Chocolate-Chip-Cookies, Aprikosen-Pistache-Kuchen oder mit Schokolade überzogenen Sablés entgegen. Wenn es nach meinen Augen, meiner Nase und meiner Vorstellungskraft ginge, hätte ich jeweils bereits ein Viergangmenü gegessen, bevor ich auch nur einen Fuss in meine Küche gesetzt habe. «Je mehr wir an etwas denken, desto mehr werden wir davon essen», sagt Wansink. Tatsächlich kann allein der Gedanke an Nahrung, die wir noch nicht gesehen, geschweige denn berührt haben, unsere Bauchspeicheldrüse dazu bewegen, Insulin zu produzieren, um den erwarteten Zuckerrausch verarbeiten zu können. Das Insulin senkt unseren Blutzuckerspiegel, was uns hungrig und die Versuchung riesig macht. Die Vorfreude steigert den Appetit.
Sobald wir gegessen haben, ist die Nahrung spurlos verschwunden. Das stellt uns vor ein Problem, denn es lässt uns gern vergessen, was wir an einem Tag so alles verschlingen. Brian Wansink konnte in einem Experiment zeigen, dass wir uns von sichtbaren Spuren unseres Genusses beeinflussen lassen. Seine Probanden assen deutlich weniger Hühnerflügel, wenn die abgenagten Knochen auf dem Tisch liegen blieben, als wenn sie rasch abgeräumt wurden.
«Die Wissenschaft weiss nicht genau, was uns das Gefühl gibt, satt zu sein», sagt Wansink. «Es scheint eine Kombination aus verschiedenen Dingen zu sein: wie lange wir kauen, wie gut wir schmecken, wie viel wir schlucken, wie sehr wir übers Essen nachdenken und wie lange wir am Essen sind.» Eine bekannte Faustregel besagt, dass das Sättigungsgefühl erst nach 20 Minuten einsetzt, wenn wir meist bereits fertiggegessen und vielleicht auch schon ein Dessert verdrückt haben. Deshalb entscheiden viele Menschen, bereits bevor sie sich zu Tisch setzen, wie viel sie essen und wie satt sie sich danach fühlen werden. Kurzum: Wir essen oft Volumen statt Kalorien .
Barbara Rolls von der Penn-State-Universität im US-Bundesstaat Pennsylvania hat das in einem Experiment gezeigt. Die einen Probanden erhielten normal grosse Hamburger, die anderen kleinere, die aber mit Salat und Tomaten zur Normalgrösse aufgebauscht worden waren. Alle Probanden fühlten sich danach gleich satt, obwohl sie unterschiedlich viele Kalorien zu sich genommen hatten. Für einen zweiten Versuch füllte Rolls die immer gleiche Menge Erdbeer-Smoothie in Gläser ab, reicherte sie bei einem Teil aber zuvor im Mixer mit Luft an. Wer ein Glas mit zum doppelten Volumen aufgeschäumtem Erdbeersaft ausgetrunken hatte, fühlte sich danach voller als diejenigen, die die gleiche Kalorienmenge mit weniger Luftanteil getrunken hatten.
Von Gläsern lassen wir uns übrigens genauso irreführen wie von Verpackungen und Tellern. Generell gilt: Aus gedrungenen Gläsern trinken wir mehr als aus schlanken. Wieso? Auch hier spielt uns das Auge einen Streich, der anhand einer optischen Täuschung erklärt werden kann: Kombiniert man zwei gleich lange Linien zu einem auf dem Kopf stehenden T, erscheint uns die senkrechte Linie länger als die waagrechte (siehe Grafik). Das lässt sich wiederum auf die Gläser übertragen: Trinken wir aus einem schmalen, hohen Glas, haben wir den Eindruck, mehr zu trinken, als wenn wir die gleiche Menge an Flüssigkeit aus einem breiten, weniger hohen Glas zu uns nehmen. Deshalb schenken wir in ein gedrungenes Glas mehr ein und trinken trotzdem aus. Bei Wasser spielt das keine grosse Rolle, bei Bier, Wein oder Hochprozentigem kann die Täuschung verheerende Folgen haben.
Unabhängig davon, aus welchem Glas wir Wein trinken, Fakt ist: Steht auf der Flasche «Bordeaux», geniessen wir den Wein mehr – und auch das Essen –, als wenn er laut Etikett aus einer weniger renommierten Gegend kommt. Blindtests zeigen: Auch wenn der verkostete Wein immer derselbe ist, lässt sich fast jeder von unterschiedlichen Etiketten irreführen und beurteilt unbewusst, bereits bevor er einen Tropfen getrunken hat, ob das jetzt ein guter oder ein schlechter Wein ist. Und in der Konsequenz entscheiden wir gleich mit, ob uns das ganze Essen schmecken wird oder nicht.
Unser Gehirn lässt sich von Namen und Labels beeinflussen und programmiert deshalb die Geschmacksknospen falsch. Das gilt nicht nur bei Wein. Für ein Experiment liess Wansink seine Probanden im Dunkeln Erdbeerjoghurt essen. Der Clou: Er behauptete nur, es sei Erdbeerjoghurt, in Wahrheit war es aber Schokoladejoghurt. Nicht einer bemerkte den Unterschied!
Erdbeere? Schokolade? Oder vielleicht noch etwas Vanille? Fakt ist: Wer die grössere Auswahl hat, isst mehr. Stellen wir uns vor, jemand bringt zum Kaffee Luxemburgerli mit: Habe ich die Wahl zwischen Vanille und Schokolade, probiere ich von jeder Sorte eins. Vielleicht gönne ich mir noch ein drittes von der Sorte, die ich lieber mag, danach ist Schluss. Kann ich aber zwischen sechs Sorten auswählen, möchte ich ebenfalls von jeder eines probieren. Und noch bevor ich mir von meiner Lieblingssorte ein zweites gegönnt habe, habe ich doppelt so viele gegessen wie bei zwei Sorten. Auch dazu hat Wansink ein Experiment gemacht: Zwei Probandengruppen erhielten Schokolinsen in Tüten. In manchen Tüten gab es zehn, in anderen nur sieben verschiedene Farben. Wer zehn Farben zur Auswahl hatte, ass fast doppelt so viele Schokolinsen wie die anderen, nämlich 99 statt 56, und dies obwohl der Geschmack unabhängig von der Farbe immer derselbe war.
Unser Essverhalten hängt auch davon ab, mit wem wir bei Tisch sitzen. Grundsätzlich gilt: Je mehr Leute gemeinsam essen, desto mehr wird verzehrt. Im Familien- oder Freundeskreis knabbert man noch ein bisschen an seinem Salat oder nimmt ein weiteres Stück Brot, bis alle fertig sind. Oft passt man sich unbewusst seinen Tischgenossen an: Essen die anderen viel und schnell, tendiert man selber dazu, viel und schnell zu essen; essen die anderen langsam und wenig, will man nicht als Vielfrass gelten und passt sich ebenfalls an.
Amüsant sind die Ergebnisse einer Studie über das Essverhalten bei einem Rendez-vous: Um Stärke zu demonstrieren, essen Männer oft mehr als normal, Frauen, um attraktiv und zierlich zu erscheinen, oft weniger. Hier bestimmt das klassische Rollenbild den Appetit.
Unser Essverhalten hängt auch davon ab, mit wem wir bei Tisch sitzen. Grundsätzlich gilt: Je mehr Leute gemeinsam essen, desto mehr wird verzehrt. Im Familien- oder Freundeskreis knabbert man noch ein bisschen an seinem Salat oder nimmt ein weiteres Stück Brot, bis alle fertig sind. Oft passt man sich unbewusst seinen Tischgenossen an: Essen die anderen viel und schnell, tendiert man selber dazu, viel und schnell zu essen; essen die anderen langsam und wenig, will man nicht als Vielfrass gelten und passt sich ebenfalls an.
Amüsant sind die Ergebnisse einer Studie über das Essverhalten bei einem Rendez-vous: Um Stärke zu demonstrieren, essen Männer oft mehr als normal, Frauen, um attraktiv und zierlich zu erscheinen, oft weniger. Hier bestimmt das klassische Rollenbild den Appetit.
Ob beim Date, beim Geschäftsessen oder in geselliger Runde: Laut Wansink tragen wir so etwas wie «Ess-Drehbücher» in uns. Die können aus gesellschaftlichen Trends abgeleitet, aber auch von individuellen Motiven bestimmt sein. In einem meiner imaginierten Ess-Drehbücher stand, dass ich mir nach dem Yoga bei einem meiner vier Bäcker ein Aprikosen-Pistache-Törtchen gönnte. Andere haben die Gewohnheit, im Kino Popcorn zu essen oder zum Fussballschauen Bier zu trinken.
Jeder hat seine kleinen Vorlieben – und seine eigene Vorstellung davon, was er unter «Wohlfühlessen» versteht. Könnte man meinen. Doch es gibt offenbar signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Während beide Chips und Glace mögen, tendieren Männer ansonsten eher zu salzigen und warmen Speisen wie Pizza, Suppe und Pasta. Frauen dagegen mögen gern Süsses wie Schokolade und Kekse. Wansink wollte wissen, warum das so ist, und kam nach einer weiteren Studie zum Schluss: Männer mögen gekochte, warme Sachen, weil die ihnen das Gefühl geben, dass jemand für sie gekocht hat und sie umsorgt – wie früher vielleicht ihre Mutter. Frauen dagegen assoziierten Kochen mit Anstrengung und würden deswegen lieber zu einfachen Snacks greifen, zu Dingen, für die niemand in der Küche zu schuften brauche.
So unterschiedlich das individuelle Essverhalten auch sein mag, wir haben doch alle eines gemeinsam: Wir denken, dass wir zu clever sind, um uns von Werbung und Täuschungsmanövern reinlegen zu lassen. «Das ist es, was das ‹unbewusste Essen› so gefährlich macht: Wir sind uns selten bewusst, dass es auch uns passiert», sagt Wansink. Ich sollte mich deshalb bei der Bekannten mit dem Cervelat entschuldigen und das nächste Mal über mich selber lachen, wenn ich wieder einmal ein, zwei oder drei «Dritteli» der Pommes frites vom Teller meines Freundes stibitze.
Literatur
Brian Wansink: «Mindless Eating. Why We Eat More Than We Think»; englische Sprache, Random House, 2011, 292 Seiten, CHF 11.90
Deutsche Ausgabe (zurzeit nur als E-Book erhältlich): «Essen ohne Sinn und Verstand. Wie die Lebensmittelindustrie uns manipuliert»; Campus, 2008, 216 Seiten, CHF 18.70
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