Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln
Ein Mann aus dem Bündnerland findet nach 30 Jahren seine leibliche Mutter – im Hinterland von Kolumbien. Er ist nicht nur glücklich darüber.
Veröffentlicht am 11. Oktober 2016 - 13:27 Uhr
Als sie den Raum betrat, begrüsste ich sie instinktiv mit ‹hola mamá›. Doch ich merkte sofort, dass sich das nicht richtig anfühlt. Es war das erste und letzte Mal, dass ich sie so nannte», berichtet Daniel Zimmermann.
Luz Alvis hatte vor 30 Jahren ihrer Familie erzählt, sie habe Magenprobleme und müsse deshalb zur Behandlung nach Bogotá. In Wahrheit war sie ein viertes Mal von einem vierten Mann schwanger. Aus Existenzangst wollte sie ihr Kind nicht behalten. Das alles wollte sie niemandem sagen.
Daniel Zimmermann beschreibt den Entscheid seiner leiblichen Mutter aus heutiger Sicht als «Akt der Liebe». Luz Alvis habe das einzig Richtige getan: «Sie hat mich zur Adoption freigegeben und mir damit ein unglaubliches Leben ermöglicht.»
Ein Leben bei Monika Schneider und Gabriel Zimmermann im beschaulichen Bündner Dorf Felsberg, wo er erst die Sekundarschule, dann die Handelsmittelschule besuchte und später einen guten Job bei der Bank bekam. Mehr als fünf Jahre lang hatte das Paar versucht, ein eigenes Kind zu bekommen. Dann erfuhr es durch einen Freund von einer Adoptionsagentur in Kolumbien. Am 28. März 1987 verliess Daniel Alvis, der von nun an Daniel Zimmermann hiess, sein Herkunftsland und begann im Alter von fünf Monaten sein zweites Leben.
Seine Eltern machten kein Geheimnis aus der Adoption. Doch Daniel verstand lange Zeit nicht, was das hiess. Er bemerkte, dass er mit seinem dunklen Haar und dem südländischen Teint anders aussah als sein blonder Bruder. Der war zwar zwei Jahre jünger, aber gleich gross wie er. «Als Kind war ich der festen Überzeugung, dass meine Mutter während der Schwangerschaft in Kolumbien in den Ferien war und das auf mich abgefärbt hat», erinnert sich Zimmermann.
Später begriff er die Geschichte seiner Herkunft zwar, interessierte sich aber nur mässig dafür. Im Gegenteil: Welcher Schüler will schon anders sein als seine Kameraden? «In die Freundschaftsalben habe ich unter Geburtsort jeweils ‹Chur› hingeschrieben. Mir war die Kolumbien-Geschichte peinlich.»
Jahre später lernte er bei einem Ausflug ins Tessin eine junge Frau kennen, die wie er aus Kolumbien in die Schweiz adoptiert worden war. Sein Interesse war geweckt. Die Frau bot ihm an, er könne sie und ihre Mutter auf eine dreiwöchige Reise nach Kolumbien begleiten. Da stand für ihn fest: Es war Zeit, Genaueres über seine Herkunft zu erfahren. Ein Schritt, den auch seine Eltern unterstützten. «Für sie war immer klar, dass ich irgendwann mehr über meine Wurzeln würde erfahren wollen», erzählt Zimmermann.
«Ich glaubte immer: Sobald ich meine Wurzeln gefunden habe, wird alles gut.»
Daniel Zimmermann
Während des zwölfstündigen Flugs nach Bogotá erzählt er den Frauen, warum er nach Kolumbien reist. Als die Maschine zur Landung ansetzt, greifen beide nach seiner Hand. Als das Flugzeug südamerikanischen Boden berührt, weinen alle drei.
In Kolumbien versucht der 22-Jährige etwas zu finden, an das er sich erinnern kann. Er sucht Menschen, denen er ähnlich sieht. Da ist nichts. Keine Strasse, kein Bild, kein Geruch, der nur die kleinste Erinnerung weckt. Auch im Kinderheim, in das ihn Luz Alvis einst gebracht hatte: nichts.
Aus seinem Dossier erfährt er immerhin, wie seine leibliche Mutter heisst, dass sein leiblicher Vater vor der Geburt abgehauen ist und er zwei Brüder und eine Schwester hat. Bevor Zimmermann das Heim verlässt, besucht er die Neugeborenenstation, wo er selbst einst lag. «Als ich vor den vielen kleinen Bettchen stand und die Babys anschaute, wie sie dalagen, allein und hilflos, begann ich mit ihnen zu sprechen. Ich sagte ihnen, dass sie jetzt stark sein müssen und dass es ihnen irgendwann sehr gut gehen würde.»
Zwei Jahre später, es ist der 27. Juli 2011 – Daniel Zimmermann erinnert sich noch genau. Er ist erneut für einige Monate in Kolumbien in den Ferien. Morgens um sechs schallt die Nationalhymne aus dem Radio, und ein Energieschub fährt durch seinen Körper. Er weiss: Heute ist der Tag, um sich auf die Suche nach seiner leiblichen Familie zu machen.
Er fährt sechs Stunden lang Richtung Süden, in die Region, die seine leibliche Mutter vor 30 Jahren als ihre Heimat angab. Mit dabei hat er eine schlechte Kopie ihrer Identitätskarte, eine Namensliste der Familienmitglieder, seine persönliche Geschichte, die man im Kinderheim aufgeschrieben hatte, seinen kolumbianischen Pass, den er als Baby zur Ausreise bekommen hatte, seine Geburtsurkunde. «Die Busfahrt zog wie ein Film an mir vorüber. Ich erinnere mich bloss noch, dass ich mich die ganze Zeit gefragt habe, wie sie wohl aussieht und ob sie überhaupt noch lebt.»
«Dein Grossvater ist der Bruder meines Grossvaters. Du bist mein Coucousin», sagt der Fremde.
Chaparral ist mit knapp 50'000 Einwohnern ein besseres Bauernkaff im Zentrum des Landes. Die Leute tragen Sombrero und Poncho, und alle haben ein Buschmesser. Die Gemeinde liegt im Gebiet der kolumbianischen Guerillaorganisation Farc, deshalb verirrt sich kaum je ein Ausländer hierhin.
Es scheint fast unmöglich, hier mit einem schlechten, veralteten Passbild Spuren auszumachen. Doch Zimmermann stellt sich auf einen grossen Platz und fängt an, Fremden die Kopie der Identitätskarte seiner leiblichen Mutter zu zeigen, und erzählt ihnen seine Geschichte. Kopfschütteln, irritierte Blicke, wohlwollendes Nicken. Nützliche Hinweise? Nada.
Nach drei Stunden wirft ein junger Mann einen Blick auf die Namensliste der Familienmitglieder, die Zimmermann vom Kinderheim bekommen hat. «Dein Grossvater ist der Bruder meines Grossvaters. Du bist mein Coucousin», sagt der Fremde. Es dauert keine halbe Stunde, bis Daniel Zimmermanns Tante und Onkel vor ihm stehen und ihn ungläubig anstarren. Das musste alles ein grosser Irrtum sein – wäre da nicht diese Ähnlichkeit im Gesicht.
In Tränen aufgelöst gesteht Zimmermanns leibliche Mutter ihren Geschwistern schliesslich am Telefon, dass alles wahr sei, dass sie damals ein Kind zur Adoption freigegeben habe. «Meine Tante umarmte mich und sagte ‹willkommen in der Familie›», erinnert sich Zimmermann. In diesem Moment empfindet er nichts. «Es war einfach nur schräg.»
Kurz darauf sitzt der Mann aus dem Bündnerland in der Stube seiner kolumbianischen Familie. Zwei Stunden ging es mit dem Jeep von Chaparral in die Pampa hinaus, eine weitere Stunde mit dem Pferd einen Hügel hinauf, bis er schliesslich das Zuhause seiner leiblichen Mutter erreichte: eine 40 Quadratmeter kleine Holzhütte, in der mit Regenwasser geduscht und über dem Feuer gekocht wird.
Luz Alvis fängt zu weinen an, versucht ihrem Sohn sogleich zu erklären, was passiert ist, warum sie getan hat, was sie getan hat. Täglich bringt Luz ihm nun Frühstück ans Bett, sie umsorgt und verhätschelt ihn – so sehr, dass es dem jungen Mann unangenehm wird. «Sie versuchte mit diesen Aktionen wohl irgendetwas wiedergutzumachen. Doch es gab nichts gutzumachen. Sie hatte richtig gehandelt.»
Nach fünf Tagen wird ihm alles zu viel. Zu viele Emotionen, zu viele Tränen, zu viele Fragen. Er braucht Abstand. «Ich glaubte immer: Sobald ich meine Wurzeln gefunden habe, wird alles gut. Aber so einfach ist das nicht. Wir kommen aus ganz anderen Welten, verstehen einander häufig nicht.»
Während Luz die Nähe zu ihrem Sohn sucht, geht dieser zunehmend auf Distanz. Er bereist wie geplant mehrere Monate das Land, lernt Spanisch, leistet einen Freiwilligeneinsatz in einem Heim für Strassenkinder, arbeitet in einem Hostel, lernt tanzen und Gitarre spielen. Nach einem halben Jahr in Kolumbien ist für Zimmermann klar, dass er für immer hier leben will.
Acht Monate nach seiner grossen Selbstfindungsreise bricht er seine Zelte in der Schweiz ab und wandert in sein Herkunftsland aus. Für seine Eltern kein einfacher Schritt. «Es gab Momente, in denen sie glaubten, dass mir in der Schweiz etwas fehlt. Doch so ist es nicht. Ich fühle mich in Kolumbien einfach wohler. Und es ist auch üblich, dass junge Menschen ins Ausland gehen. Das ist ein Phänomen unserer Zeit und hat nichts mit der Adoption zu tun.»
Der Schritt nach Kolumbien lohnt sich für Zimmermann. Vor gut drei Jahren hat er begonnen, für eine internationale Logistikfirma in Bogotá zu arbeiten. Vor einem Jahr hat er die Geschäftsleitung übernommen.
Auch sonst hat sein Leben wenig mit jenem seiner leiblichen Familie auf der Kaffeefarm gemein. Er wohnt im 18. Stock eines Hochhauses in einer schicken Gegend Bogotás, ist geschäftlich viel im Land unterwegs, geniesst ein gutes Leben mit seiner Freundin.
«Im Herzen bin ich Kolumbianer, im Kopf Schweizer. Ich habe zwei Heimaten. Doch im Moment kann ich mir nicht mehr vorstellen, in der Schweiz zu leben. Ich bin hier angekommen, fühle mich sehr wohl.» Er schätze vor allem die offene und flexible Art der kolumbianischen Gesellschaft. Nur wenn es ums Geschäftliche geht, ist Zimmermann ganz Schweizer: pünktlich, zuverlässig, aufrichtig.
Zimmermann hat den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter mittlerweile auf ein Minimum reduziert. «Ich habe schon ab der ersten Sekunde gespürt, dass es eine Barriere zwischen uns gibt. Ich mache ihr keine Vorwürfe, weil sie mich weggegeben hat. Aber irgendwo tief drin ist wohl dieser Schutzmechanismus, der mich davor bewahrt, sie zu nah an mich heranzulassen. Ich weiss nicht, ob sich das je ändern wird.»
Für seine leibliche Mutter Luz Alvis ist das eine schreckliche Situation. In einem Brief schreibt sie ihm, sie wünschte, sie wäre schon tot gewesen, als er sich auf die Suche nach ihr machte – um ihnen beiden das alles zu ersparen. Momente, in denen Zimmermann resigniert: «Im Kopf ist mir klar, dass Luz meine leibliche Mutter ist. Ohne sie gäbe es mich nicht. Doch mein Herz sagt mir: Meine Eltern leben in der Schweiz.»
Auch aus diesem Grund liess Zimmermann den Namen seiner leiblichen Mutter in der Geburtsurkunde ersetzen. «Ich bin nun auch in Kolumbien ganz offiziell der Sohn von Monika Schneider und Gabriel Zimmermann aus der Schweiz.»