Bund prüft, ob es «kultureller Genozid» war
Eine Professorin sagt im Beobachter, die Verfolgung der Jenischen sei «kultureller Völkermord» gewesen. Der Bund begutachtet jetzt, ob er das so anerkennen will.
Veröffentlicht am 1. Februar 2024 - 16:10 Uhr
Die Bundesverwaltung prüft derzeit, ob sie die Verfolgung der Jenischen und Sinti in der Schweiz als «kulturellen Genozid» anerkennen will. «Das Resultat dieser Abklärungen wird voraussichtlich im laufenden Jahr vorliegen», sagt ein Sprecher des Innendepartements von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider.
Die Bundesrätin erhielt Anfang Jahr von der Gemeinschaft der Jenischen und Sinti einen offenen Brief. Darin fordern drei Jenischenorganisationen die Innenministerin auf, Bilanz zu ziehen über die Jenischenverfolgung in der Schweiz. Sie schreiben: «Die Bilanz heisst: Es war ein kultureller Genozid.»
Rassistisch begründete Kindeswegnahmen
Der Hintergrund: Von 1926 bis 1972 nahm die halbstaatliche Organisation Pro Juventute jenischen Familien die Kinder weg. Hunderte Minderjährige wurden systematisch von ihren Geschwistern und Eltern getrennt, um sie ihrer jenischen Wurzeln zu berauben. Die rassistische Aktion nannte die Pro Juventute schönfärberisch «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse».
Kleinkinder landeten in Kinderheimen und Pflegefamilien, Mütter wurden sterilisiert, junge Paare am Heiraten gehindert, Männer in Anstalten interniert, Generationen von Jenischen traumatisiert. Beendet wurde die Aktion erst, als der Beobachter die Pro Juventute 1972 in einer Artikelserie scharf kritisierte. Als die Akten des «Hilfswerks» öffentlich zugänglich gemacht und erforscht wurden, wurde klar, dass die Schweiz eine Politik der Ausrottung der jenischen Kultur betrieb. Bundesrat Alphons Egli entschuldigte sich 1986. Der Bund zahlte Betroffenen einen Pauschalbetrag.
Beobachter-Interview als Beleg eingereicht
Die Jenischenorganisationen kritisieren nun aber, dass das genozidale Ausmass der Verfolgung nie in Worte gefasst worden sei. Ihrem Brief an Bundesrätin Baume-Schneider haben die Jenischenorganisationen ein Beobachter-Interview beigelegt. Darin sagt die Neuenburger Strafrechtsprofessorin Nadja Capus: «Das Vorgehen der Pro Juventute umfasst möglicherweise einen Angriff auf eine Gruppe, mit der Absicht, sie kulturell auszulöschen. Man wollte die Jenischen nicht physisch zerstören, sondern die Eigenheiten der Völkergruppe unterbinden – durch Kindeswegnahmen.»
Und weiter: «Laut Konventionstext der Uno handelt es sich auch dann um einen Völkermord, wenn man ‹Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt oder überführen lässt ›. Also genau das, was im Fall der Kinder der Landstrasse passiert ist.» Das Vorgehen der Pro Juventute erfülle den Tatbestand des kulturellen Völkermords, sagt Professorin Nadja Capus. «Weil es darum gegangen ist, die Kinder der Gruppe zu entfremden.»
Jenische fordern Treffen mit Bund
Im Brief an Elisabeth Baume-Schneider schreiben die Jenischenorganisationen: «Wir stützen uns rechtlich auf die Auffassung der Universitätsprofessorin Nadja Capus.» Und weiter: «Der kulturelle Genozid hat das jenische Volk auf Jahrzehnte beschädigt. Der Bundesrat muss den Schritt zur Benennung der Tat als ‹kulturellen Genozid› machen.»
Die drei Jenischenorganisationen Radgenossenschaft der Landstrasse, Schäft Qwant und Jenisch-Manisch-Sinti fordern im Brief vom 8. Januar ein Treffen «mit einer Vertretung des Bundes». Ob es bald zu einem solchen kommt, ist unklar. Bundesrätin Baume-Schneider wolle sich zur Frage der Genozidanerkennung erst äussern, wenn die verwaltungsinternen Abklärungen dazu abgeschlossen seien, sagt ihr Sprecher.