Der geplatzte Traum
Das unabhängige Gebiet Rojava in Nordsyrien wurde zum Hoffnungsprojekt, nicht nur für Kurden. Auch in der Schweiz fasziniert es viele.
Veröffentlicht am 5. Dezember 2019 - 19:36 Uhr
Der Westen sorgte sich wegen Terroranschlägen um die Sicherheit von Weihnachtsmärkten und öffentlichen Veranstaltungen. Bataclan war 2015, der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016.
Im fernen Syrien kämpften damals Kurden an der Seite der Amerikaner gegen den Islamischen Staat. Und so tauchten sie erstmals in den westlichen Medien auf: die Frauen im Kampfanzug, mit Pferdeschwanz und Kalaschnikow. Von Dschihadisten anfangs belächelt, spielten die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) eine für die Gotteskrieger verheerende Rolle.
Was im Westen kaum interessierte: Noch während der Kriegswirren bauten Kurden, Araber, Jesiden, Assyrer und Turkmenen Rojava auf, die demokratische Föderation Nordsyrien. Das Assad-Regime hatte 2012 die Kontrolle über die Region an der Grenze zur Türkei und zum Irak weitgehend verloren. Ganz weg war es aber nie. Rojava wurde wohl toleriert, weil Assad mit anderen Problemen im Land zu kämpfen hatte.
Das war die Chance für die Kurden, eine Region nach ihren Vorstellungen zu organisieren. Ein Ort, wo sie ihre Sprache sprechen und ihre Kultur leben dürfen. Alle Bevölkerungsgruppen sollten sich demokratisch beteiligen . Die Rojava-Verfassung garantiert Religionsfreiheit und Sprachenvielfalt, bekennt sich zu den Menschenrechten und verzichtet auf die Todesstrafe.
Für Zahida Hisen ist Rojava ein Projekt des Friedens – und zur Befreiung der Frauen. Alles habe aber viel früher begonnen, mit Apo – dem Onkel. So nennen Kurden ihren in der Türkei internierten Anführer Abdullah Öcalan. Zahida Hisen lernte ihn Anfang der achtziger Jahre persönlich kennen. Sie zückt ihr Handy und zeigt ein Foto: sie und der strahlende Apo im syrischen Exil. Bis vor drei Jahren lebte sie selber in Rojava.
Doch der Krieg zerriss ihre Familie, zerstreute die Kinder über mehrere Länder. Sie flüchtete in die Schweiz. Hisen ist eine sogenannte Friedensmutter, das zeigt sie mit ihrem weissen Kopftuch. Die Bewegung der Friedensmütter gedenkt regelmässig der im Krieg verlorenen Kinder und will sich für eine friedliche Lösung im Kurdenkonflikt einsetzen.
«Apo forderte uns schon damals auf, uns nicht mehr den Männern zu unterwerfen, sondern eigene Wege zu gehen», erinnert sie sich. Das wollte sie. Sie traf sich mit Frauen aus der kurdischen Bewegung. «Mein Mann war überhaupt nicht begeistert. Ständig diese Frauen im Haus, die einem dann auch noch widersprechen», lacht sie. Sehr wichtig wurden diese Frauen Jahre später im Kampf gegen den Islamischen Staat und in der Revolution von Rojava.
Wie die aussehen sollte, hatte ein alter Bekannter vorgedacht: Öcalan. Im Gefängnis verfasste er mehrere Bücher darüber. Und damals nahm er Abschied vom eigenen Kurdenstaat. Im Nationalstaat sieht er gar die Ursache für Unterdrückung und Kriege. «Alles, was das Zusammenleben betrifft, sollten jene möglichst zusammen regeln, die es auch betrifft», sagt Hisen.
«Mein Mann war nicht begeistert. Ständig diese Frauen, die einem widersprechen.»
Zahida Hisen, kurdische Aktivistin
Die Basis kann ein Dorf oder ein Stadtteil mit rund 150 Haushalten sein. Über die Belange der ganzen Stadt oder eines Kantons entscheiden dann Räte, möglichst ohne in die Autonomie der unteren Ebenen einzugreifen. Die Räte bestehen aus Delegierten der Kommunen. Das erinnert an schweizerischen Föderalismus.
Anders als in der Schweiz sitzen jedem Rat eine Frau und ein Mann gemeinsam vor. Eine Quote gibt es auch für die Verwaltung, wo Frauen und Männer jeweils zu mindestens 40 Prozent vertreten sein sollten. Themen, die nur Frauen etwas angehen, können sie auch in reinen Frauengremien besprechen. Es gibt sogar Dörfer, in denen ausschliesslich Frauen zusammenleben.
Im echten Rojava konnte längst nicht alles umgesetzt werden. In arabisch dominierten Gebieten lassen sich kaum genügend Frauen finden, die sich auch exponieren. Und manche politischen Gegner kritisieren die Dominanz der linken Kurdenpartei PYD. Trotzdem ist Rojava ein Lichtblick in einer von Nationalisten und Islamisten geprägten Region.
Es strahlt auch nach Westen aus, ist zu einem Hoffnungsprojekt für emanzipierte und linke Aktivistinnen in Europa geworden. «Von Rojava kann man sicher lernen. Zum Beispiel wie man mit Männern umgeht», sagt Hisen. Der Abzug der Amerikaner und der Einmarsch der Türken hat die Kurden zurück in die Arme des Assad-Regimes getrieben, zumindest militärisch.
Die Türkei hat ihren Angriff mit Sicherheitsbedenken begründet. Militärisch gesehen ist das aus der Luft gegriffen. Vor den Kalaschnikows der Kurden muss sich die hochgerüstete Nato-Macht kaum fürchten. «Erdogan hat wohl Angst vor unseren guten Ideen», sagt Zahida Hisen. Die will sie sich von ein paar alten Männern nicht zerstören lassen. Dann zählt sie alle auf, von Assad bis Trump.