Finanziell ausgebeutet – wie sich ältere Menschen schützen
Nicht Enkeltrickbetrüger, sondern nahestehende Personen sahnen ab: Jeder fünfte ältere Mensch ist betroffen. Was hilft dagegen?
Ralf Brand ist stolze 97 Jahre alt. Geistig ist der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter vif wie eh und je, aber körperlich gebrechlich. Und als seine Frau stirbt, tut sich ein Loch auf in seinem Leben. Zur Stelle ist die Pflegerin der Spitex. Sie heisst Karuna und war schon ein paar Mal bei den Brands, als die Ehefrau noch lebte.
Doch Karuna pflegt und putzt nicht viel, sondern erzählt dem alten Mann blumige Geschichten: Ihre Schwester im Ausland sei gestorben, und sie müsse für die fünf Kinder aufkommen – und brauche dringend Geld. Auch wegen ihrer gesundheitlichen Probleme. Und Brand zahlt. Zwischen 2000 und 7000 Franken im Monat, dann gibt er ihr seine Kreditkarte samt PIN-Code.
Lesen Sie Rolf Brands ausführliche Geschichte …
… hier.
In sozialen Medien zeigt sich die Pflegerin mit schicken Autos und teuren Kleidern – von armen Waisenkindern keine Spur.
Ralf Brand selbst ruft an bei der Spitex: Seine Zahlungen seien freiwillige Spenden. Die Spitex kündigt der Frau sofort. Auch Brands Tochter erfährt davon – und sieht auf den Kontoauszügen: Ihr Vater hat der Pflegerin insgesamt 360’000 Franken überwiesen.
Brands Enkelin forscht auf den sozialen Medien: Da zeigt sich Karuna mit schicken Autos und teuren Kleidern, von armen Waisenkindern keine Spur. Ralf Brand ist reingefallen – auch wenn bei ihm nie eine Demenz diagnostiziert wurde. Er schämt sich, dass ausgerechnet ihm das passiert ist. Zum Schutz aller Beteiligten sind alle Namen geändert.
Besonders an Demenz erkrankte Menschen sind gefährdet
Ralf Brands Geschichte ist typisch: Meist sind es nicht unbekannte Banden, die ältere Menschen mit Enkeltricks ausnehmen. Sondern nahestehende Personen, zu denen sie eine starke emotionale Bindung haben. Verwandte wie die eigenen Kinder, Neffen und Nichten – oder auch Pflegekräfte.
Besonders an Demenz erkrankte Menschen sind gefährdet. Gedächtnis, Sprache und Urteilsvermögen verschlechtern sich laufend. Aber auch ältere Menschen ohne Diagnose oder mit erst leichter Demenz sind in finanziellen Angelegenheiten rasch überfordert. Und können sich nicht gut wehren.
Im Schnitt um 120’000 Franken erleichtert
Die Zahlen erschrecken: Jeder fünfte Mensch über 55 Jahren wird finanziell ausgebeutet, meldet die Pro Senectute. 122’700 Franken kommen im Schnitt weg.
Täterinnen und Täter plündern Kontos, stehlen Goldschmuck oder überreden die Betroffenen, ihnen das Haus zu überschreiben oder sie im Testament zu begünstigen. Und wenn es die Opfer realisieren, sagen sie oft nichts. Aus Scham. Oder aus Angst, man könnte ihnen nicht glauben – oder sie würden gar eine Beiständin erhalten.
Wann ist jemand noch urteilsfähig?
Aber wie weit können betagte oder gar demente Personen überhaupt rechtlich gültig handeln? Das Gesetz definiert es so: Soweit sie urteilsfähig sind. Und da gibt es natürlich kein Schwarz oder Weiss – jede einzelne Handlung muss beurteilt werden.
Selbst wenn Demenz diagnostiziert ist, kann man in klaren Phasen noch durchaus vernünftig entscheiden und damit urteilsfähig sein. Möglich auch, dass jemand alltägliche Dinge noch bestens erledigen kann, aber überfordert ist mit komplexen Aufgaben wie der Steuererklärung.
Fragen, die sich das soziale Netz stellen sollte
Freunde und Familie, aber auch aufmerksame Bankangestellte, Pöstlerinnen, Jasskollegen, Spitex-Angestellte: Ein Netz von verschiedenen Bezugspersonen schützt am besten davor, ausgenutzt zu werden.
In finanziellen Belangen ist es hilfreich, wenn eine oder mehrere Vertrauensperson die Vollmacht auf das Bankkonto hat und regelmässig überprüfen kann, ob das Konto nicht missbraucht wird. Denn mehr Augen sehen mehr.
Die Bezugspersonen sollten gemeinsam zum Beispiel klären:
- Wer schaut zu den Eltern und wird dafür in welcher Höhe entschädigt?
- Was, wenn ein Kind beschenkt wird, das andere nicht?
- Wie reagieren, wenn der Vater eine neue, junge Freundin hat?
- Was passiert, wenn die demente Mutter sich im Pflegeheim mit dem Nachbarn anfreunden will, obwohl sie noch verheiratet ist, das aber vergessen hat?
- Akzeptiert man es, dass die Tante lieber zu Hause einen Sturz riskiert, oder drängt man sie ins Pflegeheim?
Auf viele Fragen gibt es natürlich keine einfachen Antworten.
Rechtliche Selbstbestimmung – die Varianten und ihre Nachteile
Und was sieht das Gesetz vor, wenn das soziale Netz nicht genügt? Dann wird die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) aktiv.
Die Kesb kann einen Beistand einsetzen. Davon fürchten sich viele – sie wollen nicht, dass sich eine fremde Person in ihre Angelegenheiten einmischt. Um das zu vermeiden, sind Instrumente wie der Vorsorgeauftrag zwar eine gute Sache. Aber man sollte sie nicht nur aus Angst vor der Kesb nutzen – und sich auf jeden Fall vorher gut informieren. Denn im Zweifel ist eine professionelle Beiständin die bessere Wahl.
1. Vorsorgeauftrag
Darin kann man festlegen, wer einen vertreten soll, wenn man nicht mehr urteilsfähig ist. Man sollte nur Personen einsetzen, denen man voll vertraut. Und nicht nur auf die Familienzugehörigkeit schauen. Denn auch Angehörige können sich von eigenen Interessen leiten lassen. Wenn sie etwa entscheiden müssen, ob die 80-jährige Mutter in ein Pflegeheim soll, statt mit intensiver professioneller Pflege zu Hause zu bleiben – denn Letzteres kann noch mehr vom künftigen Erbe verschlingen.
Im Zweifel ist es besser, keinen Vorsorgeauftrag zu erstellen. Dann ernennt die Kesb eine Beiständin, sobald Unterstützung nötig wird. Der Vorteil: Die Beiständin muss regelmässig Rechenschaft bei der Kesb ablegen. Die Arbeit der vorsorgebeauftragten Person wird hingegen nicht überprüft.
2. Vollmacht
Der Vorsorgeauftrag wird erst wirksam, wenn die betroffene Person urteilsunfähig ist. Wer schon vorher Hilfe braucht, kann eine Vollmacht ausstellen – am besten für dieselbe Person, die auch im Vorsorgeauftrag steht. Das Risiko: Eine Vollmacht wird von keiner Behörde geprüft. Deshalb könnten Betroffene während längerer Zeit unbemerkt ausgebeutet werden.
3. Patientenverfügung und Patientenvollmacht
Damit kann man bestimmen, welchen medizinischen Massnahmen man im Fall einer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder wer darüber entscheiden soll. Etwa darüber, wann lebenserhaltende Massnahmen eingeleitet oder abgebrochen werden sollen, von wem man besucht werden darf oder ob man einer Organspende zustimmt. Ohne Patientenverfügung oder Vorsorgeauftrag entscheiden die nächsten Angehörigen über medizinische Massnahmen.
4. Testament
Wer bekommt wie viel? Das ist schnell bestimmt: von Hand schreiben, datieren und unterschreiben. Dabei könnten einen allerdings Nahestehende beeinflussen und sich übermässig begünstigen lassen – ob absichtlich oder nicht. Ein gewisser Schutz ist da, wenn ein Testament auf einem Notariat erstellt und öffentlich beurkundet wird. Denn die Notarin oder der Notar muss sich davon überzeugen, dass die betroffene Person versteht, was sie unterschreibt.
So oder so: Wer sich Sorgen um eine nahestehende Person macht, sollte das Gespräch mit dem Umfeld suchen. Wenn das nichts bringt, kann eine Gefährdungsmeldung bei der Kesb sinnvoll sein. Die Behörde muss untersuchen, ob die Person Unterstützung braucht. Wenn Geld verschwindet, sollte man das besser sofort der Polizei melden.
Das hat auch die Familie von Ralf Brand getan. Ein Strafverfahren gegen Karuna läuft, die Unschuldsvermutung gilt. Wie es ausgeht, wird Brand nicht mehr erfahren: Er ist mit 100 Jahren im Altersheim gestorben.