Ursula Biondi sass ein Jahr lang in der Strafanstalt Hindelbank hinter Gittern – ohne eine Straftat begangen zu haben. Die Zürcher Vormundschaftsbehörde hatte sie 1967 dort als «Erziehungsmassnahme» versorgt. Hermine Huser nahmen die Behörden das Kind weg, als sie 20 war. Sie musste in der Spinnerei von Emil Bührle Zwangsarbeit verrichten. 

Das sind nur zwei Beispiele aus einem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Schweizer Sozialstaats. Der Beobachter hat mehrere brisante Fälle aufgedeckt

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Traumatische Erfahrungen an Kinder weitergegeben

Nun haben 150 Forschende im Auftrag des Bundesrats Merkmale, Mechanismen und Wirkungen der schweizerischen Fürsorgepolitik untersucht. Es ging um die Frage: Wie ist der Umgang der Schweiz mit Menschen in Notlagen – damals und heute? Die Ergebnisse wurden am Donnerstag präsentiert. Wichtige Erkenntnisse sind: 

  • Menschen, die Ende der 1950er-Jahre in Heimen platziert wurden, waren als Erwachsene öfter krank. Ihre Lebenserwartung war und ist geringer als jene von Personen, die nie fremdplatziert waren. 
     
  • Die Entwicklung der kognitiven, motorischen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten sind verlangsamt bei Menschen, die im Heim aufgewachsen sind. Fazit der Forschenden: Interventionen von Behörden können sich ein Leben lang negativ auswirken. 
     
  • Die behördlichen Eingriffe tangierten nicht nur die Direktbetroffenen, sondern auch die Nachkommen, heisst es im Bericht: «Unwissentlich gaben und geben Eltern ihre traumatischen und traumatisierenden Erfahrungen weiter.» Alexander Grob, Entwicklungspsychologe und Präsident der Forschungsgruppe, fordert Konsequenzen: «Um zu verhindern, dass nach der zweiten eine dritte Generation betroffen ist, braucht es einen einfachen Zugang zu unentgeltlicher Unterstützung.»
     
  • Die Selbstbestimmung von Menschen in prekären Situationen kommt weiterhin zu kurz. Die Fachleute des Kindes- und Erwachsenenschutzes sollen die Betroffenen fragen, was ihnen guttue und was sie brauchten. Und die Antwort bei der Anordnung von Massnahmen besser berücksichtigen. 
     
  • Die Forschenden empfehlen: Der Kindes- und Erwachsenenschutz soll auf Bundesebene einheitlicher organisiert werden. Bund, Kantone, Gemeinden – im Sozialwesen gebe es zu viele Akteure, die mitredeten. 

Die Ergebnisse des Forschungsberichts sind umfassend dokumentiert. Sie sollen helfen, «die Erinnerung an das Geschehene aufrechtzuerhalten», sagte der Präsident der Forschungsgruppe an der Medienpräsentation. 

Die aufwendig gesicherten Erkenntnisse sollten aber auch genutzt werden, um Betroffene und ihre Nachkommen wirkungsvoll zu unterstützen.