Japanische Wissenschaftler haben kürzlich in einem Experiment die Vorläufersubstanzen allen Lebens erschaffen. Sie stellten nach, was vor Milliarden Jahren auf der noch jungen Erde geschah: Damals stürzten Meteoriten aus Kohlenstoff, Nickel und Eisen in den Ozean aus Wasser und Ammoniak. Im Labor mischten die Japaner eine Ursuppe und beschossen sie mit einer Minikanone. Das Ergebnis: Nach dem Aufprall konnten chemische Verbindungen wie Fettsäuren und Glycin nachgewiesen werden, Grundbausteine des heutigen Lebens.
Die Japaner gehen davon aus, dass bei den viel komplexeren Einschlägen in die Ursuppe auch Biomoleküle entstehen konnten – ein Schritt näher zum Leben. Für die meisten Naturwissenschaftler eine durchwegs plausible Vorstellung.
Doch was machte in diesem Fall Gott? Hat er den Lauf der Dinge in Gang gesetzt, um ihn dann der Evolution zu überlassen? Ist er selber Teil von allem, was existiert? Oder existiert alles ohne Gott?
«Ich begegne Gott in meinem Alltag überall, indem ich seine Welt und seine Natur betrachte und die Weisheit und den unendlich Guten darin erblicke. Und in besonderem Masse begegne ich Gott in jedem meiner Mitmenschen, den er geschaffen hat.» Amédée Grab, ehemaliger Bischof von Chur
«Gott ist, evolutionsbiologisch betrachtet, ein imaginäres Alphamännchen, eine Primatenhirn-Konstruktion, die einigen Mitgliedern unserer Spezies deutliche Vorteile im Kampf um Ressourcen verschafft hat», findet der Religionskritiker und Atheist Michael Schmidt-Salomon. Allerdings glauben nach wie vor die meisten Menschen an einen Gott – oder gleich an mehrere: 2007 bezeichneten sich in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung 80 Prozent der Schweizer als religiös. Friedrich Nietzsches «Gott ist tot» hat sich also nicht bewahrheitet. Heute machen sich sogar mehr Menschen denn je Gedanken über eine höhere Macht. Die Gottesbilder sind dadurch individueller, aber auch widersprüchlicher geworden, gerade in den monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam.
«Gott ist für mich nicht der, der grosse Worte verliert. Ich spüre ihn eher im Bauch. Oder in Form von Liebe, Frieden oder tröstenden Worten eines Mitmenschen.» Carmen Fenk, Sängerin
«Wie und warum richtiges Leben entstanden ist, kann die Evolutionsbiologie nicht erklären. Und es ist auch noch nie gelungen, im Labor eine lebende Zelle herzustellen», sagt Gian Luca Carigiet. Fürs Suppenexperiment der Japaner hat er deshalb nur ein Achselzucken übrig. «Nicht mehr als eine Hypothese.» Carigiet präsidiert den Verein ProGenesis, in dem sich Anhänger der Schöpfungslehre und Kritiker der Evolutionsbiologie gefunden haben. Sie misstrauen der «gottlosen Evolution», wonach aus Bakterien Arten und durch Mutation und Selektion neue Lebensformen bis hin zum Menschen entstanden sein sollen. Vielmehr soll Gott die Arten selber erschaffen haben. Es ist ein biblischer Gott, ein persönlicher Gott, oder ein «intelligenter Designer». Mit diesem Begriff operieren die sogenannten Kreationisten seit einigen Jahren. Sie vermeiden bewusst den Gottesbegriff und suchen den wissenschaftlichen Diskurs. Mit einigem Erfolg, vor allem in den USA. Politiker wie George W. Bush oder Sarah Palin setzen sich für die Gleichbehandlung von Evolutions- und Schöpfungslehre ein. Das wollen die Kreationisten auch in Europa erreichen. In der Schweiz kämpfen sie für entsprechende Schulbücher im Biologieunterricht.
«Wir haben es nicht mit einem Gott zu tun, der uns Menschen als Marionetten behandelt, sondern mit einem, der mit uns spricht. Nur Gott selbst kann uns sagen, wer er ist. Wichtig ist, dass wir uns ansprechen lassen und mitdenken.» Martin Lendi, emeritierter Professor, ETH
Mit dem Anliegen stehen sie keineswegs verloren da: Gemäss einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2007 wollen vier von fünf Schweizern, dass Evolution und Schöpfung in der Schule gleich behandelt werden. Und 2002 glaubten gut 43 Prozent der Schweizer, dass das Leben durch Gottes Schöpfung und durch eine von Gott gesteuerte Evolution entstanden sei. Eine wachsende Anzahl Christen praktiziert den bibeltreuen Schöpferglauben, vor allem in evangelikalen Gruppierungen. Derweil kämpfen die Landeskirchen relativ erfolglos gegen Besucherschwund.
Scheitern Aufklärung und Evolutionslehre an einem 2000 Jahre alten Buch? Für den Berner Physiker und Theologen Hans-Rudolf Stadelmann ist «Intelligent Design» eine Mogelpackung. «Die Kreationisten versuchen, mit einer pseudowissenschaftlichen Argumentation ein 2000-jähriges antikes Gottesbild aufrechtzuerhalten, das im Widerspruch zu unserer heutigen von den Naturwissenschaften geprägten Weltsicht steht und so nicht mehr geglaubt werden kann». Er bedauert dies, denn Gott und wissenschaftliche Erkenntnis schliessen sich für ihn nicht aus. «Im Gegenteil: Im wissenschaftlichen Weltbild drängt sich eine Gottesvorstellung geradezu auf.» Nur könne dies nicht mehr der traditionelle, personifizierte Gott sein. Stadelmann verweist unter anderem auf Erkenntnisse der Elementarteilchen- und Quantenphysik, wonach vor der Entstehung von Energie und Materie eine «geistige Grösse» stand, die die Evolution der Welt bestimmt und die man als Gott bezeichnen kann. Gott kann demnach Ursprung und Teil von allem sein.
«Gott ist in meiner Nähe, wenn ich im Bett liege und bete. Dann gehe ich alle schönen und weniger schönen Momente des Tages durch und danke ihm für das Glück und auch die Weisheit, die er mir geschenkt hat.» Anna von Ledebur, Mittelschülerin
Doch kann Gott auch erfahren werden? Der amerikanische Radiologe Andrew Newberg spritzte einem tibetischen Buddhisten eine schwach radioaktive Flüssigkeit ins Blut, während sich dieser in tiefer Meditation befand. Das Verfahren zeigte an, welche Hirnregionen stark durchblutet und somit aktiv waren. Newberg stellte eine drastisch reduzierte Funktion jener Hirnregion fest, die für den Orientierungssinn zuständig ist. Der Buddhist erlebte die Meditation als ein zeitloses Verbundensein mit der gesamten Schöpfung. Den gleichen Effekt diagnostizierte Newberg bei intensiv betenden Franziskanerinnen. Manifestiert sich eine «Verbindung zu Gott» also in spezifischen Hirnaktivitäten?
Weitere Experimente brachten zusätzliche Indizien. Dem US-Neurologen Michael Persinger fiel auf, dass manche Epileptiker nach Anfällen von mystischen Erfahrungen berichteten. Er versuchte, die elektrischen Stürme im Gehirn nachzustellen. Sein sogenannter Gotteshelm stimulierte mit schwachen Magnetfeldern die Schläfenlappen des Gehirns. 80 Prozent der Personen empfanden die Gegenwart von etwas schwer Erklärbarem und fühlten sich nicht mehr allein (siehe nachfolgend: «Mit der Mütze in Richtung Gott»).
«Gott zeigt sich für mich in allem, was Lebendigkeit und Emotionen bedeutet: In blühenden Blumen, rauschendem Wasser, dem Lachen eines Kindes, einem Windhauch. Aber auch in Trauer und Schmerz. Ich begegne ihm also auf Schritt und Tritt.» Vreni Hauser, Kindergärtnerin
Zürcher Forschern gelang es 2001, durch Variation der Stromstärke den Bewusstseinszustand einer Epileptikerin zu verändern. Zuerst glaubte sie, in die Tiefe zu fallen, dann über sich selbst zu schweben. Sie erlebte eine ausserkörperliche Erfahrung, wie sie von Menschen in Nahtodsituationen geschildert wird, aber auch unter Einfluss gewisser Drogen oder durch Meditation hervorgerufen werden kann.
Dass solche Erlebnisse nur in Extremsituationen möglich sind, wird mitunter auf ein überbetontes Ichbewusstsein in unserer Gesellschaft zurückgeführt. Manche Forscher interpretieren spirituelle Erlebnisse der Johanna von Orléans oder des Apostels Paulus rückblickend als epileptische Anfälle. Paulus selber berichtete von einem Pfahl in seinem Fleisch, an dem er litt. Ob er damit diese Anfälle umschreiben wollte, ist allerdings umstritten.
Was bedeuten die Erkenntnisse über unser Gehirn für die Frage nach Gott? «Möglicherweise ist der Mensch neuronal so verschaltet, dass er eine sehr grosse Neigung hat, an eine höhere Instanz zu glauben», sagt Alex Gamma, Neurobiologe an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich. Unbestritten ist, dass Menschen unterschiedlichste religiöse Erfahrungen machen und dass sich diese irgendwo in der Aktivität des Hirns niederschlagen. «Wir Wissenschaftler glauben an den Materialismus. Dass es ein Hirnsubstrat fürs Erleben von Gott gibt, ist daher noch nichts Besonderes. Damit lässt sich auch nicht beweisen, ob Gott real ist oder nicht.»
«Wenn ich mir Gott vorstelle, dann ist es für mich ein Tier. Ich stelle mir einen Löwen vor, weil er so mächtig ist wie Gott.» Patrick Gingg, Primarschüler
Gamma vergleicht das Hirn mit einem Fernseher mit mehreren Kanälen, der verschiedene Sendungen empfangen kann. «Die Programme kommen aber nicht aus dem Gerät selbst, sondern aus dem Fernsehstudio. Das Hirn könnte ähnlich funktionieren. So könnten wir über einen Kanal verfügen, der uns ermöglicht, die Dimension, in der sich Gott befindet, zu empfangen. Eine Stimulation des Schläfenlappens könnte dann das Wechseln von einem auf einen anderen Kanal bewirken, den ‹Gotteskanal›.» Für Gamma, der sich selber als Agnostiker versteht – also weder an einen Gott glaubt noch dessen Vorhandensein ausschliessen will –, gibt es genügend Phänomene, die nahelegen, dass tatsächlich eine weitere Dimension existiert. Eine Dimension, in der vieles möglich ist, in der womöglich auch Gott einen Platz hat. «Sechsjährige haben in Studien zum Beispiel unaufgefordert aus ihren früheren Leben erzählt. In vielen Fällen konnten die Berichte der Kinder verifiziert werden. Strassennamen stimmten überein oder auch die Existenz von Verwandten, von denen den Kindern vorgängig niemand erzählt hatte. Da hat man Mühe, andere Erklärungen zu finden, als dass diese Kinder eine Wiedergeburt erlebt haben.»
Dagegen sieht der Theologe Stadelmann hinter der Reinkarnationsidee das Wunschdenken, über den Tod hinaus zu existieren. Aus seiner Sicht geht der menschliche Geist beim Tod «wieder im Weltgeist, also in Gott auf». Er lebe in diesem Sinne weiter, allerdings nicht mehr als individuelle Persönlichkeit. Hirnforscher können mittlerweile biologische Vorgänge für Phänomene nachweisen, die zuvor reine Glaubensfragen waren. Und mystische Erlebnisse sind auch nicht mehr zwingend Ausdruck von Neurosen oder Psychosen, sondern Teil eines «gesunden Geistes».
Auch für das rätselhafte Savant-Wissen haben Neurologen Erklärungen gesucht. Savants sind oft autistische Menschen, die mit spektakulären Fähigkeiten in spezifischen Bereichen verblüffen. Etwa 100 Personen mit solchen Begabungen sind heute bekannt. Einer von ihnen ist Daniel Tammet, der als Dreijähriger einen starken epileptischen Anfall erlitt. Er konnte 2004 die Kreiszahl Pi innert fünf Stunden bis auf 22514 Stellen nach dem Komma aus der Erinnerung wiedergeben. Zudem lernt er Fremdsprachen innert weniger Tage.
Ein anderer ist der 1992 geborene Jazzpianist Matt Savage, der sich im Alter von sechs Jahren über Nacht das Klavierspielen beibrachte. Mit sieben Jahren komponierte er bereits eigene Stücke und brachte seine erste CD heraus. Solche Fähigkeiten sind nicht einfach Gottesgaben, sondern hängen möglicherweise damit zusammen, dass diese Menschen ihre Hirnhälften besser unabhängig voneinander aktivieren können, wie neurobiologische Untersuchungen gezeigt haben. Auch bei der Autopsie des Physikgenies Albert Einstein fanden Forscher solche Hinweise.
«Gott zeigt sich als innere stimme oder als Sinnbild. Beides sind nicht eindeutige Zeichen. Gott ist eher wie ein Grundgefühl; dieses zieht einen konstanten inneren Dialog nach sich, und das kann manchmal sehr anstrengend sein.» Andrea Bianca, Pfarrer
Die Hirnforschung kann also einerseits immer mehr Phänomene weltlich-biologisch erklären, anderseits zeigt sie uns Hirnaktivitäten auf, die offenbar besonders dafür geeignet sind, mystische Erfahrungen zu sammeln oder gar göttliche Botschaften zu empfangen. Der US-Molekularbiologe Dean Hamer glaubte vor drei Jahren sogar, ein «Gottes-Gen» gefunden zu haben. Erst befragte er Probanden, ob sie häufig «Eingebungen beim Entspannen» hätten, dann untersuchte er deren Erbgut. Tatsächlich schien sich ein Zusammenhang zwischen einer ganz bestimmten Genvariante und der «Spiritualität» der Träger zu zeigen. Inzwischen ist klar, dass dieses Gen eine gewisse Bedeutung für Botenstoffe im Gehirn hat, dass sich aber komplexe Fähigkeiten nicht auf eine Frage der Beschaffenheit von Genen reduzieren lassen. «Einerseits hatte der Fragebogen nicht spezifisch mit dem Glauben an Gott zu tun; es ging um Spiritualität, und alles in den gleichen Topf zu werfen ist nicht zulässig. Anderseits bestimmt ein Gen allein nie etwas», sagt dazu der Zürcher Neurobiologe Alex Gamma.
Einen überlebenswichtigen Zweck erfüllen Gott und Religion nach Ansicht des Biologen David Sloan Wilson. Gott ist für ihn bloss eine soziale Erfindung: «Religion ist ein symbolisches System, mit dem eine Gemeinschaft effizient organisiert werden kann.» Wilson will diese Funktion für 35 überprüfte Glaubenssysteme nachgewiesen haben. Gott und Religion seien letztlich Produkte der Evolution, die einer Gemeinschaft bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen einräumten. Ein solches Glaubenssystem verlangt allerdings ein eindeutiges Gottesbild und daraus abgeleitete klare Regeln, die zudem rigide eingehalten werden müssen. Fundamentalistische Bewegungen dürften darum stärker von diesem Effekt profitieren.
Demgegenüber lassen sich mit mehrdeutigen Gottesvorstellungen, die zunehmend auf individuellen Erfahrungen beruhen, schwerlich Kirchen füllen oder gar Kriege führen. Ob dies nur ein weiterer Schritt in der Evolution ist oder ein Wunsch Gottes, bleibt letztlich eine Glaubensfrage.
Auf der Suche nach Gott habe ich mir Magnetspulen auf den Kopf gesetzt. Die Gott-Mütze heisst 8-Coil-Shakti und wurde von einem Mitarbeiter des Neurologen Michael Persinger konstruiert (siehe oben). Sie kostet rund 400 Franken. Die acht auf die Mütze gekletteten Spulen sind mit dem Audioausgang des Computers verbunden. Eine Software erzeugt Signale, die in Magnetfelder umgewandelt werden und bestimmte Areale des Hirns stimulieren. Shakti ist eine Hindugöttin, die Urkraft des Universums. Das verspricht einiges.
Ich habe mich für den Schläfenlappen entschieden. Tausende wollen auf diese Weise Spirituelles oder gar Gott erfahren haben. Bei mir passiert zunächst nichts. Dritter Versuch, das Signal etwas satter als empfohlen: Mein Bewusstsein schwappt wie Wein in einem Glas, will den Körper verlassen – tut es aber nicht. Es ist wie eine Out-of-body-Erfahrung in zu engen Jeans. Noch Tage später fühlt sich mein Gehirn etwas grösser an, was nicht heissen soll, dass auch mehr drin ist. Es ist wie nach einer intensiven Massage, die einem bewusst werden lässt, was man alles so hat.
Eine Schnellstrasse zu Gott ist die Mütze kaum. Ihm werden wohl nur jene begegnen, die auch magnetlos regen Kontakt mit ihm pflegen. Vielleicht ist es wie mit den Nahtoderfahrungen: Religiöse Westdeutsche schweben laut einer Studie schnell mal gen Himmel, während atheistische Ostdeutsche in einem eher tristen Raum sterben. Auch ein Grund, nach Gott zu suchen. Peter Johannes Meier