«Ich denke oft daran, wie vielen ich nicht geholfen habe»
Seine Arbeit in den griechischen Flüchtlingscamps hat Michael Räber verändert. Ihn begleiten die Bilder von damals – und das Gefühl, nicht genug getan zu haben.
Veröffentlicht am 27. August 2020 - 13:28 Uhr
Ein Vater, der völlig durchnässt und von einem Weinkrampf geschüttelt sein Kind an sich drückt. Menschen, die sich auf einen Haufen Brennholz stürzen. Junge Männer, die einem weissen Kastenwagen voller Essenspakete nachrennen. Es sind Szenen aus Flüchtlingslagern in Griechenland, zu sehen im neuen Dokumentarfilm «Volunteer» über Schweizer Helfer.
Die Bilder lassen Michael Räber nicht mehr los. Er ist einer der im Film porträtierten Freiwilligen, der Organisator. Man sieht ihn, wie er seinen Arm um den weinenden Vater legt. Wie er dafür sorgt, dass Holz und Essen ohne Tumulte unter die Leute kommen.
Jetzt sitzt er auf einer Bank in einem schmucken Einfamilienhausquartier einer kleinen Berner Gemeinde – Tempo-30-Zone, Schweizerfahnen, Hühner im Freilaufgehege – und sagt: «Ich denke oft daran, wie vielen ich nicht geholfen habe.»
Das ist es also, was bleibt? Das Gefühl, nicht genug getan zu haben? Dabei hat gerade Michael Räber so vielen geholfen. Als die meisten wegsahen, schaute er hin – und packte an. 2015 stiess der selbständige IT-Spezialist und Logistikfachmann auf dem Heimweg von den Ferien in Athen auf gestrandete Flüchtlinge.
Statt nach Hause zu fliegen, besorgte er kurz entschlossen Nahrungsmittel und verteilte sie. Er mietete eine Wohnung, kochte täglich Hunderte Portionen für die in der Stadt campierenden Flüchtlinge. Er gründete das Hilfswerk Schwizerchrüz und setzte sich fortan in den hoffnungslos überfüllten Lagern dort ein, wo es gerade nötig war. 2016 hat er dafür den Prix Courage erhalten .
Trotzdem denkt er jetzt zuerst an die anderen. An die Kinder, die er zum Übersetzen einspannte und die ihren Eltern die negativen Entscheide der Migrationsbehörden beibringen mussten. An die afghanischen Knaben, die er nicht aus der Prostitution befreien konnte. «Es gab immer gute Gründe, warum etwas nicht anders ging. Aber das ändert ja nichts am Resultat. Ich bin mitverantwortlich für das Leid dieser Kinder», sagt er.
Ist es das, was das Helfen mit einem macht? Wird die eigene Hilflosigkeit nur noch grösser? Oder geht da einer einfach sehr hart mit sich ins Gericht?
Das Videoporträt des damaligen Prix-Courage-Gewinner Michael Räber (2016)
Viele Freiwillige haben Mühe, sich nach der Rückkehr wieder einzufügen in die vergleichsweise sorglose Welt hierzulande. Im Film sieht man Räbers Mitstreiter Thomas Hirschi, wie er am Handy ständig die neusten Entwicklungen verfolgt und nicht davon loskommt. Ein anderer Kollege, Michael Grossenbacher, sagt, er komme sich seit seiner Rückkehr vor wie ein Ausserirdischer. Geht es Räber auch so? Ist ihm die Schweiz fremd geworden? Sieht er deshalb eher, was er nicht geleistet hat, als umgekehrt?
Er verneint. Sagt, das sei einfach Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Er könne den Schalter ganz gut umlegen. Er geniesse seine Privilegien in der Schweiz – bewusst und ohne schlechtes Gewissen. «Mir wurde beigebracht, dass alle Menschen gleich viel wert sind und alle ein Anrecht haben auf ein gutes Leben. Dafür kämpfe ich», sagt er. Nicht er sollte weniger haben, sondern die anderen mehr.
Hat ihn sein Engagement gar nicht verändert? Er überlegt. «Man verändert sich ja immer.» Sicher sei, dass er heute viel mehr im Moment lebe als früher. «Das ist extrem befreiend, wenn man sich nicht ständig Gedanken macht über die Vergangenheit oder die Zukunft.» Womöglich sei es die Motivation, die ihn von anderen Helfern unterscheide, die sich nach der Heimkehr mehr schwertun. «Ich konnte einfach nicht glauben, dass so etwas in Europa geschieht, und es wurde mir bewusst, dass mich das vielleicht selber auch einmal treffen könnte.» Sein Antrieb sei nie Mitleid gewesen.
«Ich habe gesehen, wie dünn die Decke der Zivilisation ist. Am Ende kannst du dich nur auf dich selbst verlassen.»
Michael Räber, 44, Flüchtlingshelfer
Tatsächlich wirkt es eigenartig distanziert, wenn Räber erzählt, wie er die Sache anging. Er spricht von Entscheidungsrastern für Situationen mit viel Zeitdruck und wenig Informationen. Von Hierarchien und davon, wie er schon am ersten Tag lernen musste: Hilfe ist eine Form von Gewalt. «Ich entschied, wann an wen wie viele Güter verteilt werden. Das ist eine grosse Verantwortung.»
Räber hat in der Armee bis zum Hauptmann gedient. Diese Ausbildung sei ihm zugutegekommen, sagt er. Bei Katastrophen Menschen nummerieren, um den Überblick nicht zu verlieren. Helfende mental vorbereiten, bevor man sie losschickt. Sich nur auf Kämpfe einlassen, die man gewinnen kann. Er habe eher als Drahtzieher gewirkt und weniger direkten Austausch mit den Flüchtlingen gehabt als andere Freiwillige. Auch deshalb falle es ihm wohl etwas leichter, sich abzugrenzen.
Spurlos sind die letzten fünf Jahre dennoch nicht an ihm vorbeigegangen. Seine Sicht auf Staat und Gesellschaft habe sich geändert, sagt er. «Ich habe gesehen, wie dünn die Decke der Zivilisation ist. Am Ende kannst du dich nur auf dich selbst verlassen.»
Einer, der unbekümmert durch sein privilegiertes Leben schreitet, ist Michael Räber also nicht. Dafür ist die Lage in Griechenland und andernorts viel zu hoffnungslos. Die Flüchtlinge leben nach wie vor auf engstem Raum ohne vernünftige sanitäre Anlagen, seit der Corona-Pandemie faktisch eingesperrt, ständig in Gefahr. Schlägereien und Vergewaltigungen sind in vielen Lagern an der Tagesordnung.
Seit der Geburt seines Sohnes 2017 ist Räber seltener vor Ort und kümmert sich zu Hause um den Familienalltag. «Die Bilder, wie die Kinder in diesen Lagern aufwachsen müssen, kann ich nicht abschalten, erst recht nicht, seit ich Vater bin», sagt er. Unerträglich sei dies, vor allem auch, weil es politisch gewollt sei. Abschreckung um jeden Preis, eine Schande. Seine Stimme bebt. «Wie soll ich meinem Sohn erklären, dass Gewalt und Unterdrückung falsch sind, wenn wir dies gleichzeitig tolerieren und sogar bewusst in Kauf nehmen?»
Ist es nicht extrem frustrierend, sich jahrelang zu engagieren und zusehen zu müssen, wie alles nur schlimmer wird? Räber gibt sich cool, zuckt mit den Schultern. Er habe nie bereut, damals nach den Ferien nicht nach Hause geflogen zu sein. «Man hat nicht so oft Gelegenheit, den Lauf der Zeit zu verändern, auch wenn es nur für einzelne Menschen ist.»
Sein jüngstes Projekt – ein Gemeinschaftszentrum auf der Insel Samos – hat er eingestellt. Die Arbeit der Freiwilligen wurde zunehmend durch Auflagen erschwert, Helfenden werde Schwarzarbeit unterstellt, einer sei vorübergehend im Gefängnis gelandet. «Für mich gilt: Wenn die eigene Freiheit in Gefahr ist, muss man aufhören.»
Es ist schwer zu sagen, was das Helfen mit ihm wirklich gemacht hat. Klar ist nur: Er hat vielen geholfen, manchen auch nicht. Und an den EU-Aussengrenzen nimmt das Drama seinen Lauf. Inzwischen allerdings, ohne dass die Weltöffentlichkeit noch gross Notiz davon nimmt.
Der Film «Volunteer» von Anna Thommen und Lorenz Nufer handelt von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, die aufbrachen, um Tausenden in Griechenland gestrandeten Flüchtlingen zu helfen. Er startet am 3. September in den Kinos.