Nach der Ausschaffung droht ihr der Ehrenmord
Sie flieht vor Zwangsheirat und Gewalt aus der Türkei in die Schweiz. In der Heimat lauert der Tod – dennoch soll sie zurückgeschafft werden.
Veröffentlicht am 22. April 2025 - 06:00 Uhr
«Mein Verlobter war ein Psychopath»: Benazir Aslan (Name geändert)
In diesem Text will sie Benazir Aslan heissen. Die Kurdin ist dankbar, dass sie mitreden darf und ihre Meinung zählt. Auch wenn es nur um ein Pseudonym in einem Beobachter-Artikel geht. Denn in ihrem bisherigen Leben war ihr Wille weitgehend egal.
Doch auch die Schweiz foutiert sich darum: Trotz Zwangsheirat, versuchter zweiter Zwangsheirat und versuchtem Ehrenmord will man ihr kein Asyl geben – und sie wieder ausschaffen.
Zwangsheirat und Gewalt im Namen der «Ehre»
Von alldem erzählt Benazir Aslan mit Hilfe eines Dolmetschers. Die Ereignisse, die sie dabei schildert, und das Leid, das sie erlitt – das alles lässt sich nur schwer überprüfen. Es gibt wenig Beweismaterial. Auch deshalb sind Asylverfahren in derartigen Fällen oft verzwickt. Aber dazu später mehr.
Benazir Aslan, so berichtet sie, wuchs im Südosten der Türkei auf. In kurdischem Gebiet, wo Zwangsheirat und Gewalt im Namen der «Ehre» viel stärker verbreitet sind als in der restlichen Türkei. Mit 18 wurde sie vom Stammesoberhaupt, ihrem Onkel, zwangsverheiratet. Mit einem 14 Jahre älteren Cousin.
«Wenn ich ihn heirate, sterbe ich»
Nach sechs Jahren schaffte sie es aus der gewalttätigen Ehe, weil der Mann eine andere Frau heiraten wollte. Ein Happy End war das für Aslan aber nicht. Nach der Scheidung setzte das Umfeld die Familie stark unter Druck. Schliesslich wollte das Stammesoberhaupt sie ein paar Jahre später mit dem nächsten Cousin verheiraten.
«In dem Moment haben sie beschlossen, mich umzubringen.»
Benazir Aslan (Name geändert)
Erneut begann eine Zeit von Gewalt und Drohungen. Ihr jüngerer Bruder brach ihr die Nase, nachdem sie sich mit dem Verlobten gestritten hatte. Dieser selbst soll versucht haben, sie mit einem Messer umzubringen. Benazir Aslan war verzweifelt. «Er war ein Psychopath. Nach aussen wirkte er normal, aber wenn man mit ihm allein war, war er schrecklich. Ich wusste, wenn ich ihn heirate, werde ich sterben.»
Er fälschte Nacktbilder von ihr
Schliesslich fertigte ihr Verlobter gefälschte Nacktbilder von ihr an und verschickte sie an die Familie. «Sie glaubten, die Fotos seien echt. In dem Moment haben sie beschlossen, mich umzubringen», erzählt die 40-Jährige.
Danach eskalierte es: Ihr Bruder schlug sie und zog los, um seine Pistole zu holen. Doch die Mutter warnte Benazir – und schickte sie zur Polizei. «Sie meinte, sie allein könne mich nicht retten. Also rannte ich los, ohne irgendetwas mitzunehmen.»
«Ich konnte flüchten, weil ich keine Kinder habe»
Die Polizei nahm ihre Anzeige auf und brachte sie in ein Frauenhaus. Doch weil dieses voll war, konnte sie nicht bleiben. Auch fürchtete sie, dass ihr Onkel und die Familie sie dort finden könnten. Für kurze Zeit fand sie Unterschlupf bei einer heimlichen Freundin der Mutter. Dort war sie zwar sicher, aber sie konnte das Haus nicht verlassen, damit ihr Versteck nicht aufflog. Sie beschloss, das Land zu verlassen.
«Ich hatte keinen Plan, wohin. Aber ich konnte flüchten, weil ich keine Kinder habe. Meine Schwester ist auch in einer gewalttätigen Zwangsehe gefangen, hat aber zwei Kinder. Ich denke, sie wird es niemals schaffen, wegzukommen», sagt Benazir Aslan unter Tränen. Oft ersticken sie fast ihre Stimme. Während sie redet, klammert sie sich mit den Händen ans Taschentuch.
Das Amt sieht die Sache anders
Benazir flieht nach Serbien und kommt über Umwege in die Schweiz. Im Juni 2024 beantragt sie hier Asyl – und versucht, ihre Geschichte zu beweisen. Sie legt Fotos, Videos, Polizeiprotokolle vor und ein Gerichtsurteil mit einer Geldstrafe gegen den Bruder. Etwa einen Monat später fällt bereits der Entscheid: Gesuch abgelehnt, Rückschaffung zumutbar. Benazir Aslan muss die Schweiz verlassen.
Das Staatssekretariat für Migration SEM begründet das unter anderem damit, dass der türkische Staat funktionierende Polizei- und Justizorgane habe. Dafür spreche, dass ihrem Bruder nach ihrer Anzeige auch der Prozess gemacht worden sei. Der Staat könne sie also schützen. Dass sie ihren Cousin, mit dem man sie zuletzt zwangsverheiraten wollte, trotz mehrfachen Drohungen und Übergriffen nie angezeigt habe, vermöge nicht zu überzeugen.
«Die Schweizer Behörden sind knallhart geworden.»
Sela Esslinger, Verein Sabatina Schweiz
Es sei zwar nicht auszuschliessen, so das SEM weiter, dass die Behörden in den südöstlichen Gebieten der Türkei in ähnlich gelagerten Fällen nur «zögerlich oder unzureichend aktiv» würden. Aber es sei ihr offengestanden, in eine westlichere Region umzuziehen. Weder die im Heimatland herrschende politische Situation noch andere Gründe würden gegen die Zumutbarkeit der Rückführung sprechen, heisst es im Asylentscheid. Sie sei jung, habe eine universitäre Ausbildung und sei fähig, sich in der Türkei ein neues Leben aufzubauen. Ihre Mutter habe ihr ja schon früher geholfen und würde dies vielleicht wieder tun.
Kein echter Schutz in der Türkei
«Aber hat jemand Benazir gefragt, ob sie sich auf die Hilfe verlassen kann? Ihre Mutter hat gesundheitliche Probleme, ist Analphabetin und steht stark unter dem Druck der Familie», sagt Sela Esslinger, Geschäftsführerin von Sabatina Schweiz. Der Verein in Weinfelden TG hilft Opfern von Zwangsheirat und Ehrgewalt.
«Es ist an der Zeit, die Situation in der Türkei neu zu beurteilen.»
Sarah Progin-Theuerkauf, Universität Freiburg
Esslinger sieht keinen Grund, an den Aussagen von Benazir zu zweifeln. Allein in den letzten zwölf Monaten landeten sieben ähnliche Fälle bei ihr, erzählt Esslinger. Kurdische Frauen aus der Türkei, von ihren Ehemännern und der Familie verfolgt, die mehrmals Job und Wohnort wechselten, Schutz in Frauenhäusern suchten, immer wieder von vorne begannen, aber immer wieder aufgespürt worden seien. Dauerhaften Schutz hätten sie im Heimatland nicht finden können. Deshalb seien sie in die Schweiz geflohen.
«Egal, wie oft auf die Frauen eingestochen wurde»
Esslinger kritisiert, dass die sogenannte Einzelfallprüfung des SEM die individuelle Situation der Betroffenen nicht genügend berücksichtigt. «Egal, wie oft auf die Frauen eingestochen wurde und sie wieder fliehen mussten, die Frauen erhalten hier nicht einmal eine vorläufige Aufnahme. Man mutet ihnen zu, dass sie immer wieder von vorne beginnen – ohne jemals wirklich sicher zu sein.»
Sela Esslinger war bei Anhörungen dabei, verhandelte mit Ämtern und half den betroffenen Frauen, gegen Negativentscheide vorzugehen. Doch: «Die Behörden sind knallhart geworden. Vor ein paar Jahren hätten die Frauen vielleicht noch eine Chance gehabt. Jetzt schöpfen die Behörden ihren gesamten Spielraum aus – selbst bei grossen psychischen Problemen.» Es zähle nur: Ist die Frau transportfähig? Was sie in der Türkei antrifft, interessiere niemanden. «Ist das wirklich zumutbar?»
Eine belastende Ungewissheit
Seit letztem September liegt Aslans Beschwerde gegen die drohende Rückführung in die Türkei beim Bundesverwaltungsgericht. Jeden Tag könnte das Urteil fallen. Die Ungewissheit belastet die Kurdin schwer. Schon einmal musste sie wegen Suizidgefahr in einer Klinik behandelt werden.
In der Türkei hat sich die Lage für Frauen verschlechtert. 2021 beschloss Präsident Erdogan den Austritt aus der Istanbul-Konvention, einem internationalen Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe spricht von einem besorgniserregenden Rückschlag für die Rechte der Frauen.
«Ein Problem ist, dass viele Frauen ihre Verfolgung nicht glaubhaft machen können.»
Sarah Progin-Theuerkauf, Universität Freiburg
Das sieht auch das SEM so, wie es auf Anfrage des Beobachters heisst: «Der Austritt aus der Konvention und die fehlende Achtung der Frauenrechte, die er legitimiert, äussern sich in konkret beobachtbaren Tatsachen, wie zum Beispiel viel kürzerer Dauer der gegen gewalttätige Ehemänner verhängten Kontaktverbote sowie langsameren Reaktionen der Behörden und niedrigeren Strafen bei Nichteinhaltung dieser Verbote.» Man verfolge die Entwicklung aufmerksam.
Hat sich der Umgang mit türkischen Frauen deshalb verändert? Auf diese Frage geht das SEM nicht ein. Jedes Asylgesuch werde weiterhin einzelfallspezifisch und sorgfältig geprüft. Zwangsheirat, Androhung von Ehrenmord und Ehrgewalt könnten zwar sehr wohl Asylgründe sein. Wie oft diese aber tatsächlich als solche akzeptiert werden, lässt sich nicht sagen; das SEM führt dazu keine Statistik.
Wie beweist man Drohungen?
«Ein Problem ist, dass viele Frauen ihre Verfolgung nicht glaubhaft machen können», sagt Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europa- und Migrationsrecht an der Universität Freiburg. «Wenn sie nicht genügend Indizien für die Verfolgung haben, lehnt das SEM das Gesuch ab. Daran scheitern viele Asylgesuche. Sehr oft erfolgt der Druck in solchen Fällen ja mündlich und zu Hause, nicht per SMS oder in einer anderen beweisbaren Form.»
Ein weiteres Problem: Wer von Privaten verfolgt wird, muss begründen, wieso einen der Heimatstaat nicht schützen kann. Nach dem letzten Referenzurteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2018 biete die Türkei genügend Schutz vor Zwangsehen und Ehrenmorden. Seither habe sich die Lage aber verschlechtert, Polizei und Gerichte blieben relativ inaktiv. Gleichzeitig seien Behörden und Gerichte in der Schweiz eher strenger geworden – eine generelle Tendenz im Asylbereich.
Der blanke Horror
Progin-Theuerkauf fordert daher eine Praxisänderung: «Es ist an der Zeit, die Situation in der Türkei neu zu beurteilen.» Aber: Auch ein neues Urteil in dieser Sache würde nur bedingt helfen. «Das Problem ist nicht nur die rechtliche Einordnung, sondern eben meist die Glaubhaftmachung», sagt Progin-Theuerkauf. «Behörden und Gerichte müssen deshalb berücksichtigen, dass die Beweislage bei Zwangsheirat und Ehrgewalt schlecht ist.»
Eine Rückschaffung in die Türkei wäre für Benazir Aslan jedenfalls der blanke Horror. Nur wenige Monate nach ihrer Ankunft in der Schweiz habe ihre Cousine in der Türkei ins Frauenhaus fliehen müssen. Dort sei sie dann von ihrer Familie aufgespürt und getötet worden, erzählt Aslan.
So weit will sie es nicht kommen lassen. «Ich habe erfahren, dass es in der Schweiz legale Selbstmordmöglichkeiten gibt», sagt Benazir Aslan. «Ich habe vielleicht keine andere Wahl.»