Am 9. Januar 2024 retteten Karin und Hans Dürrenberger einer Frau das Leben. Und hatten selber unglaubliches Glück: Auch sie wurden nicht von dem Schnellzug erfasst, der im Bahnhof Kaiseraugst auf die drei zuraste.

Der Nachmittag hatte gemütlich angefangen. Das Ehepaar hatte an jenem verhangenen, kalten Nachmittag mit seiner dreijährigen Bobtail-Hündin Maila einen Spaziergang dem Rhein entlang von Rheinfelden ins benachbarte Kaiseraugst gemacht. Dort wollten die beiden den Zug zurück nach Rheinfelden nehmen. Sie waren eine Viertelstunde zu früh dran – zum Glück.

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In der Unterführung am Bahnhof Kaiseraugst sahen sie vor sich eine Frau in einem Rollstuhl mit einer älteren Frau als Begleitperson die Rampe hochfahren. Plötzlich ein Hilfeschrei!

Hans Dürrenberger versichert sich kurz, dass kein Zug in Sicht ist, springt dann aufs Trassee runter.

Dürrenbergers rennen die Rampe hoch und sehen nur die Begleitperson auf dem Perron stehen. Dann realisieren sie, dass die Rollstuhlfahrerin samt ihrem Gefährt auf den Gleisen liegt. Hans, 73, versichert sich kurz, dass kein Zug in Sicht ist, springt dann aufs Trassee runter. Karin, 67, bindet erst den Hund an und folgt ihrem Mann.

Gemeinsam versuchen sie, die ältere Dame aus der gefährlichen Lage zu befreien. Das stellt sich als schwierig heraus, denn sie ist zwischen dem Rollstuhl und dessen Motor eingeklemmt.

Dann der Schrei der Begleitperson: «Der Zug kommt!»

«Ich blieb mit meinem Winterhandschuh zwischen dem Gas- und Rückwärtshebel und dem Hebel, an dem ich mich halten kann, hängen. Mein Rollstuhl fuhr einfach weiter, und ich stürzte mit ihm ins Gleisbett», sagt die Rollstuhlfahrerin später im «Blick». Da ihr linker Arm gelähmt ist, kann sie diesen nicht zu Hilfe nehmen, um den rechten Arm zu befreien.

Der Motor ist schwer. Doch es gelingt den Dürrenbergers, ihn wegzuziehen und die Frau aus der Verhedderung zu lösen. Dann der Schrei der Begleitperson: «Der Zug kommt!»

Hans Dürrenberger springt sofort hoch aufs Perron. Karin Dürrenberger versucht noch, die Frau von den Schienen wegzuziehen, realisiert aber, dass sie es nicht schaffen wird. Es folgt ein lauter Knall, als der Zug den Motor des Rollstuhls erwischt. 

Ein grauenhafter Anblick?

Karin Dürrenberger schaffte es in letzter Sekunde zurück auf den Bahnsteig. Sie spürte einen heftigen Schlag am Bein. «Ob der Zug mein Bein erwischt hat oder die Luftdruckwelle es gegen die Perronmauer geschlagen hat, weiss ich nicht.» 

Der Zugführer hatte eine Notbremsung eingeleitet, denn dieser Zug, der IR 36, hält normalerweise nicht in Kaiseraugst, sondern erst in Rheinfelden. Wegen des langen Bremswegs kam er aber erst am Ausgang des Bahnhofs zum Stehen. 

Wie durch ein Wunder wurde die 70-Jährige, die aufgrund ihrer MS-Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesen ist, nicht vom Zug erfasst.

«Das alles dauerte höchstens 30 Sekunden», sagt Hans Dürrenberger, der früher in der freiwilligen Feuerwehr gedient hat. «Ich realisierte, dass es meine Frau auch aufs Perron geschafft hatte, fürchtete mich aber trotzdem, hinzuschauen, denn die Rollstuhlfahrerin musste ja noch unten liegen. Ich erwartete einen grauenhaften Anblick.» 

Doch wie durch ein Wunder wurde die 70-Jährige, die aufgrund ihrer MS-Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesen ist, nicht vom Zug erfasst. Sie habe sich wie in den alten Filmen ganz flach zwischen die Schienen gelegt und das Beste gehofft, sagte sie später. Tatsächlich rührten die einzigen Verletzungen, die sie erlitt, vom Sturz. Sie hatte sich den rechten Ellbogen und das rechte Handgelenk gebrochen und eine Schramme am Knie zugezogen.

Niemand «verschnetzelt»

In der Zwischenzeit hatte die Begleitperson der Rollstuhlfahrerin die Ambulanz gerufen. Und Hans Dürrenberger gab der Zugbegleiterin Entwarnung: «Alle Beteiligten leben noch. Es hat niemanden verschnetzelt.»

Er musste Hündin Maila von einem anderen Gleis zurückholen – der Knall des zerberstenden Motors hatte sie erschreckt, so dass sie sich losgerissen hatte. Und Karin Dürrenberger realisierte, dass sie nicht mehr mit ihrem linken Bein auftreten konnte. «Ich war erstaunlich gefasst.»

Als die Sanitäter ankamen, habe sie ihnen gesagt, sie sollten zuerst zu der Frau auf den Gleisen, ihr selbst gehe es gut. «Das grosse Zittern kam erst im Krankenwagen.»

Im Spital stellte sich heraus: Karin Dürrenbergers Wadenbein ist mehrfach gebrochen, das Schienbein ist auch «abenand», genauso wie mehrere Mittelfussknochen. Schon am nächsten Tag wird sie operiert.

Schmerzen und finanzieller Schaden

Auch heute noch, sechs Monate später, schmerzt Karin Dürrenbergers Bein. Das stabilisierende Metall ist noch immer im Fuss. Für die jung gebliebene Mittsechzigerin, die gern wandert, mit ihrem Hund ausgedehnte Spaziergänge macht und ihren Garten pflegt, hat sich viel verändert. Jeder Schritt schmerzt. «Ich musste mich damit abfinden, dass es noch eine Weile dauern wird, bis ich wieder voll fit bin.» 

Bislang waren bereits drei Operationen nötig, darunter zwei mit Vollnarkose. Eine weitere OP steht noch an – das Metall muss raus, sobald die Knochen vollständig zusammengewachsen sind. 

Die Haftpflichtversicherung argumentiert, nicht ihre Versicherte habe den Schaden an Dürrenbergers Bein verursacht, sondern der Zug. 

Die Krankenkosten belaufen sich bereits auf über 50’000 Franken. Neben dem Krankenkassen-Selbstbehalt von 700 Franken sind weitere unfallbezogene Kosten aufgelaufen, die das Ehepaar voraussichtlich selber berappen muss. Zwar versuchte die Krankenkasse, auf die Haftpflichtversicherung der Rollstuhlfahrerin Regress zu nehmen. Die Haftpflichtversicherung argumentiert aber, nicht ihre Versicherte habe den Schaden an Dürrenbergers Bein verursacht, sondern der Zug. 

Die letzte Hoffnung ruht nun auf der Kausalhaftung der SBB. Das bedeutet, dass die Bundesbahnen haftend gemacht werden können, obwohl sie in diesem Fall keine Schuld trifft. «Natürlich würde ich jederzeit wieder helfen. Trotzdem ist es stossend, dass ich ein Leben gerettet habe, aber den Schaden selber tragen muss», sagt Dürrenberger.

Das Opfer trifft nur durch Zufall auf seine Retter

An einem Samstag, rund zwei Wochen nach dem Vorfall, klingelte bei den Dürrenbergers das Telefon. Es war die Rollstuhlfahrerin, die sich bedankte. «Sie hatte nur durch einen Zufall erfahren, wer wir waren. Die Polizei hatte weder uns noch ihr die Kontaktdaten herausgegeben.» Das Ehepaar besuchte die Frau einige Male in der Reha in Rheinfelden, wo sie sich von ihren Verletzungen erholte. Mittlerweile erfolgt der Kontakt sporadisch. 

Dürrenbergers schrieben der Begleitperson einen Brief und bedankten sich ihrerseits dafür, dass sie ihnen mit ihrem Warnruf das Leben gerettet hat. Karin Dürrenberger sagt: «Es war ihr gar nicht bewusst gewesen.»

Ohne Eingreifen des Ehepaars wäre die Rollstuhlfahrerin durch den Zug getötet worden.

Die Zeit danach war speziell für die beiden. Die Rückmeldungen aus dem persönlichen Umfeld waren fast durchweg positiv. «Für uns selbst stand der eigentliche Vorfall nicht im Vordergrund. Vielmehr drehten sich die Gedanken darum, was alles hätte passieren können», sagt Hans Dürrenberger.

Dass sie die Frau zuletzt auf dem Trassee liegen liessen und sich aufs Perron retteten, plagt die beiden nicht, hat sie aber moralisch sehr beschäftigt. Albträume hätten sie beide keine gehabt. Und Karin Dürrenberger ist einfach froh, ihr Bein noch zu haben, auch wenn es noch immer schmerzt. Und sicher ist: Ohne Eingreifen des Ehepaars wäre die Rollstuhlfahrerin durch den Zug getötet worden.

In einer früheren Version dieses Artikels war bei den Krankenkassenkosten eine falsche Zahl angegeben. Wir haben das korrigiert. Die Redaktion, 9. 7. 2024

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