Der Satz von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf löste spontane Umarmungen aus: «Ich möchte Sie im Namen des Bundes um Entschuldigung bitten für das Unrecht, das man Ihnen angetan hat.»

Es war der 10. September 2010. Soeben hatte sich die Schweiz offiziell bei den ehemaligen «Versorgten» und einstigen «Verdingkindern» entschuldigt. Das allererste Mal stand die Schweiz hin und gab zu, dass ihnen Unrecht geschehen war. Im stillen Schlosssaal der Strafanstalt Hindelbank BE waren Schluchzer zu hören, berichtete der Beobachter damals.

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Es war der erste grosse Meilenstein bei der Aufarbeitung der menschenrechtswidrigen Zustände im Schweizer Sozialstaat. Jahrzehntelang waren Zwangsarbeit, Zwangsadoptionen oder Kindeswegnahmen ohne Gerichtsbeschluss gang und gäbe.

2000er-Jahre: Betroffene machen Druck

Bei der Aufarbeitung spielten Betroffene die Hauptrolle. Schon früh machten Heimverwahrte auf Missstände aufmerksam. Der Beobachter erhielt immer wieder verzweifelte Briefe von «Versorgten» und prangerte ab den 1960er-Jahren vermehrt Heime an.

Doch das System hinter den «Einzelfällen» wurde bis in die 2000er-Jahre von zu vielen vehement verteidigt. Erst in den Nullerjahren startete ein Umdenken in breiten Schichten und ein Aufarbeitungsprozess.

Mehrere Betroffene schwiegen nicht mehr länger. Sie machten das Unrecht, das ihnen angetan wurde, öffentlich.

«Ich wurde Landesverräterin genannt. Es war die Hölle.»

Ursula Biondi-Müller, ehemals Betroffene

Ursula Biondi ging mit ihrer Geschichte 2002 an die Öffentlichkeit. «Doch niemand interessierte sich dafür», erzählt sie im Beobachter-Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen». «Eine ehemalige Journalistin sagte zu mir: ‹Früher hat man Landesverräter an die Wand gestellt.› Es war die Hölle.»

Das habe sich erst 2008 geändert, als der Beobachter und andere Medien begannen, über die administrativen Versorgungen sehr kritisch zu berichten.

Der betroffene Unternehmer Guido Fluri spielte mit seiner wichtigen Wiedergutmachungsinitiative ebenfalls eine entscheidende Rolle.

2010er-Jahre: Beobachter macht Druck

2010 publizierte der heutige Beobachter-Chefredaktor Dominique Strebel das Buch «Weggesperrt» über die Missstände bis 1980, die nun auch Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf stark interessierten.

2011 rüttelten die Beobachter-Redaktoren Otto Hostettler und Dominique Strebel mit einer Recherche die Öffentlichkeit und die Politik so auf, dass sie einen Journalismuspreis gewannen und in Bern viel auslösten mit der Forderung «Wiedergutmachung, aber richtig!». Am runden Tisch des Bundes durften sich die Betroffenen ab 2013 endlich Gehör verschaffen.

2014 trat schliesslich Guido Fluri mit seiner Wiedergutmachungsinitiative auf, die der Politik das Messer an den Hals setzte: Entweder ihr schmiedet ein gutes Gesetz inklusive Geldzahlungen an die Opfer, oder die Initiative kommt zur Abstimmung.

Fluri, der teils in einem Kinderheim aufwuchs, verstand es, die Politik für sein Anliegen zu gewinnen. Ein damaliger Ständerat nannte es «eine Sternstunde der Schweizer Politik».

«Der Beobachter hat massgeblich zur Aufklärung der Öffentlichkeit beigetragen.»

Bericht der unabhängigen Expertenkommission

Der Beobachter war einerseits Mitglied des Initiativkomitees. Andererseits hat er «massgeblich zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die administrativen ‹Versorgungen› beigetragen», schrieb die Unabhängige Expertenkommission in ihrem Bericht 2019. Der Bundesrat hatte sie zur Aufklärung eingesetzt.

Er hielt den Druck mit Recherchen laufend hoch und deckte 2014 etwa «Die Menschenversuche von Münsterlingen» auf: Über 1000 Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen dienten als Versuchskaninchen, was eine Forschergruppe fünf Jahre später bestätigte.

Zehn Jahre später willigte der Kanton Thurgau ein, 12,5 Millionen Franken an die Opfer zu zahlen. Die einstmalige Profiteurin Novartis übernimmt vier Millionen davon.

2020er-Jahre: Behörden machen keinen guten Eindruck

2017 trat schliesslich ein neues Gesetz in Kraft, ohne dass die Initiative zur Abstimmung kam. Die Betroffenen erhalten seither auf Gesuch einen einmaligen Geldbetrag von 25’000 Franken. Der Betrag ist bescheiden – gemessen an den riesigen Auswirkungen der staatlichen Massnahmen.

Im Gesetz steht dazu klipp und klar: «Der Bund anerkennt, dass den Opfern Unrecht zugefügt worden ist, das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat.» Die Bescheidenheit der Einmalzahlung hatte der Beobachter wiederholt kritisiert.

Geld ist bis heute oft ein Problem. In Biel benötigte es noch 2022 die Intervention des Beobachters, damit die Stadt einem einst bevormundeten 80-Jährigen nach 60 Jahren sein eigenes Vermögen zurückzahlte. Allerdings ohne ein Wort des Bedauerns.

Einmalige Zahlungen machen nichts «wieder gut» – sie sind eine Geste.

Ebenfalls 2022 beschloss die Stadt Zürich aufgrund von preisgekrönten Beobachter-Recherchen, den städtischen Opfern von Zwangsmassnahmen einen eigenen Solidaritätsbeitrag von ebenfalls je 25’000 Franken zu zahlen.

Der Beobachter setzt sich nun dafür ein, dass andere Gemeinden und Kantone nachziehen. Trotz des Wissens, dass solche Einmalzahlungen nur eine Geste sind und nichts «wiedergutmachen» können.