Wie Raumschiffe treffen sie ein, angetrieben von sanft brummenden Sechszylindermotoren: kantige Formen, poliertes Chrom, Ledersitze wie Fauteuils. «Fahrende Sofas» nennt man sie gern, die Honda Goldwings. Aus ihren Boxen dröhnt wahlweise Schlager, Country oder Rock’n'Roll.

Wir stehen im freiburgischen Ueberstorf auf dem Parkplatz des Gasthofs Zum Schlüssel. Hier soll die Ausfahrt des Goldwing-Clubs Schweiz ihren Anfang nehmen, Abfahrt pünktlich 10 Uhr. 

Aus der ganzen Schweiz sind die «Winger», wie sie sich nennen, angereist. Männer und Frauen mit bestickten Gilets plaudern auf der Terrasse des Restaurants, viele rauchen, einer hantiert mit einer Stange, die er für die Vereinsfahne an seinem Töff anbringen will. Es riecht nach feuchtem Gras und kalter Morgenluft. Hinter dem Parkplatz grasen Kühe.

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Spezialschuhe für die Goldwing: Trix Boos

Plötzlich braust eine schmächtige Gestalt heran, unter ihrem Helm flattern zwei künstliche Zöpfe. Goldwing-Fahrerinnen sind selten, Trix Boos ist eine von ihnen.

Blöde Sprüche hat sie sich schon oft anhören müssen. Besonders damals in Marseille, als ihre Goldwing mitten auf einer Kreuzung kippte und sie sie nur mit fremder Hilfe wieder aufstellen konnte. Als wir Trix Boos, 66 und vierfache Grossmutter, erstmals treffen, fährt sie bei einem Ausflugsrestaurant am Rande Zürichs in einem Pick-up-Truck von der Grösse eines Kleinlasters vor. 

«Meine Goldwing hat sechs Boxen. Meist höre ich Country-Musik und alte Schlager.»

Trix Boos, Goldwing-Fahrerin

Schon früh habe sie Töff fahren wollen, sagt Trix – fiel mit 19 jedoch durch die Prüfung. Weil sie kurz darauf Mutter wurde, verzichtete sie vorerst. Bestanden hat sie dann mit 42. Den Slalom, der für die technische Prüfung gefahren werden muss, hatte sie mit einem Ländler-Walzer im Ohr geübt. Für die Prüfung behielt sie das bei. «Meine Goldwing hat sechs Boxen», sagt sie stolz. Meist höre sie Country-Musik und alte Schlager. «Ich passe die Musik der Landschaft an.» 

Ihre Mutter hat sich einmal beklagt, dass sie mit ihr keine Tochter, sondern einen weiteren Buben bekommen habe. «Als Goldwing-Fahrerin braucht man breite Schultern», sagt Trix dazu. Und – zumindest in ihrem Fall – auch hohe Schuhe. Damit sie auf der Goldwing mit den Füssen den Boden erreicht, hat sie die Sohlen erhöhen lassen.

Der Stamm trifft sich zu Nüdeli und Rivella

Jeden ersten Freitag des Monats trifft sich der Zürcher Stamm im Restaurant Zum Türmli in Watt bei Regensdorf ZH. Als wir das hintere Säli betreten, herrscht schon ein aufgeregtes Durcheinander. Rund 40 Leute plaudern und lachen, manche stochern in den Nüdeli, andere nippen an einem Rivella. Kaum jemand trinkt Alkohol. 

Er hätte lieber Pommes frites zum Schnitzel gehabt, sagt einer. «Unsere Mitglieder sind Mechaniker, Schreiner, Glaser, Chauffeure, ein ehemaliger Banker, Spengler, ein Ex-Polizist», sagt Hanspeter Lüdin, neben dem ich Platz genommen habe. Lüdin ist Präsident des Goldwing-Clubs Schweiz und von Basel angereist.

1988 kam der Rückwärtsgang – und damit die ultimative Nahrung für den Spott anderer Töffler.

Mir gegenüber sitzen Beat Daum als erster Stammwirt und Fredy Batliner, zweiter Stammwirt und Mitgliederbetreuer. «Wir sind gemütliche Menschen», sagt Batliner. Harley-Fahrer hingegen seien meist laut, man höre sie stets von Weitem, da ist man sich einig. Hinter dem Windschild einer Goldwing könne man locker eine Pfeife dampfen, meint einer grinsend. 

Beat Daum beginnt von all den Extras zu erzählen, die sich anbringen lassen: Lämpchen, Hörner, Schalter für dies und das, vor allem aber zusätzliche Lautsprecher. Um mehr Gepäck zu transportieren, statten einige Besitzer ihre Maschinen mit einer Anhängerkupplung aus – und nehmen so auch mal ein Haustier auf die Reise mit. 

Harte Schale, weicher Kern: Beat Daum

Beat Daum stand kurz vor der Pensionierung, als er sich entschied, seine 1800er-Goldwing zu verkaufen. Heute fährt er ein Reverse-Trike – eine dreirädrige Goldwing. «Meine Partnerin schläft meist ein, wenn wir unterwegs sind», sagt er und rührt im Kaffee – wir befinden uns auf der Terrasse einer Bäckerei in Geroldswil. Wer Daum je begegnet ist, vergisst ihn nicht: wacher Blick, markante Gesichtszüge, Stoppelhaarschnitt.

Der gelernte Spengler, 71, war Scharfschütze im Militär, Kampfsportler, Schiessexperte. Er arbeitete als Personenschützer und Privatchauffeur, Barchef in Privatklubs mit Kontakt zu Prominenz wie Jackie Onassis und Gunter Sachs und zuletzt als Lieferwagenchauffeur. Im Widerspruch zu seinem harten Äusseren wirkt er im Gespräch sanft und zugänglich.

Wie Trix Boos hat auch er erst als 40-Jähriger mit dem Motorradfahren begonnen. Unterdessen habe er auf Goldwings eine halbe Million Kilometer zurückgelegt, allein 2018 waren es 30'000. «Goldwing-Fahrer sind gesellige Leute», sagt er. Aber auch bei ihnen gebe es Exzentriker; den Werner Märchy und seine Partnerin Emma zum Beispiel. Als ich sage, dass ich Märchy als Nächstes treffe, verdreht Daum die Augen: «Oh!»

Provokation im Tiger-Tanga: Werner Märchy und Emma Oberlin

Manchmal trägt Werner Märchy Damenstiefel. «Die Kleidung muss zum Motorrad passen. Da macht es mir nichts aus, Frauenkleider zu tragen», sagt der 66-Jährige und schaut schelmisch aufs Tischtuch. Neben ihm sitzt seine Partnerin Emma Oberlin, sie verzieht keine Miene. Wir sitzen in einem Seehotel in Kastanienbaum LU, beide tragen erlesene, sorgfältig aufeinander abgestimmte Kleider.

«Eigentlich müssten wir einen eigenen Goldwing-Club bilden», sagt Emma, und Werner stimmt ihr bei – einen Club, in dem auch anderes als Cordon-bleu gegessen werde. Wo man sich hübsch mache fürs Abendessen. In den Töffkleidern zu dinieren, passe nicht zum luxuriösen Erscheinungsbild der Goldwing. «Ich weiss, dass Emma und ich von den Club-Mitgliedern manchmal schief angeschaut werden», sagt er. Aber er möge eben die Provokation. So ist er während eines «Winger»-Ausflugs schon mal im Tiger-Tanga vor seine Kollegen am Pool getreten. «Ich habe keine Feinde, ich habe Neider», meint er und lacht.

Mit jeder neuen Modellreihe wurden die Maschinen ausgefeilter, breiter und schwerer: Sie erhielten Einspritzmotoren, Tempomaten, selbstausgleichende Hinterradfederungen, einen Tripcomputer.

Aus den Lautsprechern dröhnt «We Built This City» von Starship – es folgt ein 80er-Jahre-Hit auf den anderen, als wir durch die Freiburger Hügellandschaft rollen. «Spreeradio», sagt Roli Moll trocken. Ich darf als Sozius mitfahren; auf Drängen des Ehrenpräsidenten und Organisators Walter Zbinden hat sich Moll grummelnd dazu bereit erklärt.

Die Maschine, auf der ich sitze, sieht aus, als wäre sie frisch vom Produktionsband gerollt und noch keinen Meter gefahren: Die goldene GL 1500 aus dem Jahr 1991 hat keinen Kratzer und keine Delle. Molls GL 1500 ist ein Klassiker – so stellt man sich eine Goldwing vor.

Über der Motorradjacke trägt er ein abgegriffenes Wildleder-Gilet mit Fransen, die im Wind flattern. Trotz der Kälte fährt Moll ohne Handschuhe. Er spüre das Motorrad so besser, brummt der 65-Jährige. Sonst sagt er nicht viel: Moll gehört zu den wortkargen Fahrern und geniesst einfach die Fahrt. Wir befinden uns knapp hinter der Spitze des aus 25 Goldwings bestehenden Konvois.

«Zwar nicht legal, aber Probleme gab es nie»

Zuvorderst fährt Walter Zbinden, der weiss, wo es langgeht. Hinter ihm sitzt seine Frau und gibt Zeichen: Wenn sie den Arm nach links streckt, muss der nächste Töff die linke Einfahrt sperren, beide Arme ausgestreckt bedeutet: beide Seiten sperren. Fährt der Konvoi durch einen Kreisel, werden alle Zufahrten blockiert. «Das ist zwar nicht legal», sagt Zbinden später, aber Probleme hätten sie deswegen noch nie gehabt. Auch dem heutigen Tross begegnen die Leute mit Sympathie: Passanten winken, lachen, bleiben stehen. Roli Moll und ich winken auch, man kann nicht anders.

Als die Honda Goldwing 1974 präsentiert wurde, hob sie nicht sofort ab. Trotzdem sorgte sie an der Internationalen Fahrrad- und Motorrad-Ausstellung in Köln für Besucherschlangen: Die Grand Luxe, kurz GL 1000, mit dem wassergekühlten Vierzylindermotor und einem Antrieb mit Kardanwelle war ein technisches Meisterwerk. Fünf Jahre später rollte dann das erste «fahrende Sofa» vom Band – die GL 1100 Interstate.

1979 rollte das erste «fahrende Sofa» vom Band – die GL 1100 Interstate.

Nun hatte das Motorrad die typische Verkleidung, bequeme Fauteuil-Sitze, viel Stauraum, eine Luftfederung und ein optionales Soundsystem. Mit der GL 1100 brach das Zeitalter der schweren Reisemotorräder an, der «Supertourer». Zu Berühmtheit gelangt der Argentinier Emilio Scotto: 1985 brach er mit seiner GL 1100 auf zu einer Reise rund um die Welt. Nach zehn Jahren hatte er 780'000 Kilometer zurückgelegt, 232 Länder und Regionen besucht und einen Weltrekord aufgestellt.

Mit jeder neuen Modellreihe wurden die Maschinen ausgefeilter, breiter und schwerer: Sie erhielten Einspritzmotoren, Tempomaten, selbstausgleichende Hinterradfederungen, einen Tripcomputer. 1988 kam der Rückwärtsgang und damit die ultimative Nahrung für den Spott anderer Töffler. Er ermöglichte es jedoch weniger kräftigen Fahrern, das 390-Kilo-Gefährt zu manövrieren.

Der Marathon-Fahrer: Markus Frühauf

Markus Frühauf ist der Kilometerfresser. «Das Navigationssystem meiner alten Goldwing zeigte zwischen den Jahren 2012 und 2020 eine Viertelmillion», sagt er und beisst genussvoll in die Pizza. Der Immobilienbewirtschafter hat gerade Mittagspause und Zeit, in einem Restaurant in Schlieren ZH über sich zu erzählen. Wer seinem Facebook-Profil folgt, bekommt allerdings nicht den Eindruck, dass er viel arbeitet. Jeden Tag scheint er unterwegs zu sein.

Er publiziert Dutzende Fotos und ausführliche Beschreibungen der Ausflüge, die er mit seiner Lebenspartnerin Mägi unternimmt. Einst sei er 1100 Kilometer am Stück gefahren, besitze mittlerweile seine achte Goldwing. Er habe eine gewisse Unruhe in sich, gibt der 63-Jährige zu und lächelt, als müsse er sich dafür entschuldigen.

Selbst ein Unfall bringt ihn nicht zum Stillstand. «2005 stürzte ich mit der Goldwing auf der Fahrt nach Italien und krachte beinahe in eine Mauer. Ich stellte den Töff auf und fuhr weiter ans Treffen, wo ich mich mit Schmerzmitteln betäuben liess.» Wieder zu Hause, habe der Arzt ein gebrochenes Wadenbein und drei gebrochene Rippen festgestellt. 

Der sorgenvolle Präsident: Hanspeter Lüdin

Der Präsident des Goldwing Clubs Schweiz ist gerade von zwei Treffen in Slowenien und Österreich zurück, als ich ihn in Aesch BL besuche, wo er mit Frau, Tochter und zwei Katzen im Parterre eines Mehrfamilienhauses wohnt. Unter dem Vordach, neben Pool und Gasgrill, stehen zwei Goldwings und eine Werkbank. Er schraube selber an den Maschinen und helfe auch anderen.

Lüdin trägt im Club mehrere Namen. «Böpperli» nennen ihn die meisten, manchmal auch «Pips». Seit 2021 amtiert er als Club-Präsident, seine Tochter kümmert sich ums Sekretariat. Als Präsident sorge er dafür, dass der Club zusammenhält, er kenne fast jedes der rund 290 Mitglieder mit Namen. «Wenn jeder Goldwing-Fahrer auch Club-Mitglied wäre, hätten wir über 1000 Leute.» Manchmal stecke er ein Kärtchen hinter die Windschutzscheibe einer Goldwing, deren Besitzer er nicht kennt.

«Viele von uns lieben die Show.» Wenn es anders wäre, würden sie nicht so viele Lämpchen an die Maschinen bauen – manchmal auch nicht ganz legale. Es sei wie an der Basler Fasnacht, an der Hanspeter Lüdin in der Clique «Pub-Rueche» selbst auf einem Wagen als Waggis mitmacht: Die Leute würden in Zweierreihen Spalier stehen.

«Leider fehlt uns der Nachwuchs an jungen Fahrern.»

Ein Treffen in Rom nennt er als eines der grossen Highlights seiner Goldwing-Zeit. Die Autobahn nach Rom sei extra für die über 250 Goldwings gesperrt worden, auf einer Tafel stand: «Welcome Goldwingers». «So etwas kannst du in der Schweiz vergessen», sagt Lüdin. «Leider fehlt uns der Nachwuchs an jungen Fahrern.»

«Wir sterben aus», sagt Walter Zbinden. Die Mitgliederzahl begann vor rund 20 Jahren zu sinken – einst zählte der Club über 600 Mitglieder. Mehr als die Hälfte ist heute über 55, 20 Prozent der Mitglieder haben einen Jahrgang in den 1940er-Jahren. Der älteste aktive Fahrer ist 82. Zbinden, 67 und ehemaliger Club-Präsident, sieht die Mitgliederzahlen nicht nur wegen des Zeitgeists schwinden, sondern auch wegen des Preises. Ein 2022er-Modell mit Koffern ist in der Basisversion ab 34'690 Franken erhältlich. Viele Junge wünschen sich hingegen günstige, schnelle und wendige Motorräder als Alternative zum teuren Auto.

«Wir haben Leute aus allen Lagern. Die meisten sind einfach nicht so grün.»

Walter Zbinden, Ex-Klubpräsident

«Die Bedingung für eine aktive Mitgliedschaft ist lediglich der Besitz einer Goldwing – egal, ob sie gefahren wird oder nicht», sagt er. Es gebe keine Pflicht mitzumachen. Die Statuten besagen zudem, dass der Club politisch und religiös unabhängig ist. Zbinden sagt: «Wir haben Leute aus allen Lagern», und fügt nach einer kurzen Pause lächelnd an: «Die meisten sind einfach nicht so grün.»

Und doch: Wenn batteriebetriebene Goldwings Reichweiten von 300 oder mehr Kilometer schafften, würde Zbinden sofort umsteigen. Skeptischer zeigt sich Werner Märchy, seines Zeichens Fähnrich. «Der Sound wäre nicht mehr da, und das Schalten fehlt», findet er. Frühauf hingegen findet, die Lautstärke spiele keine Rolle: «Wenn der Motor zu laut ist, hören wir die Musik nicht mehr.»

Die Frühlingsausfahrt kommt an ihr Ende in Biberen BE. Mit dröhnenden Lautsprechern schweben die Winger auf ihren Raumschiffen aufs Parkfeld und stellen sie fein säuberlich Seite an Seite. Manche schreiten gleich zum Apéro mit anschliessendem Mittagessen, andere stehen noch auf dem Parkplatz, plaudern über die Fahrt oder fachsimpeln über ihre Maschinen. Zbinden tritt an Roland Moll heran, um sich zu erkundigen, wie es war mit mir auf dem Sozius. Moll, trocken: «Ich habe nichts gespürt, den nehme ich wieder mit.»