Spielen bis zum bitteren Ende
Ein Tunesier und eine Bernerin lernen sich kennen und lieben. Doch dann zerbricht die binationale Ehe fast an der Spielsucht des Mannes.
Veröffentlicht am 19. Juli 2016 - 10:05 Uhr
Eine ganz normale Stube in einer ganz normalen Wohnung in einem normalen Wohnblock im Berner Hinterland. Durchs Fenster sieht man Kinder spielen. Die Sonne scheint. Doch nicht für das Ehepaar Melanie und Rami Saihi*. «Mein Mann kriegt von mir Zigaretten, etwas Geld für Töfflibenzin und zehn Franken Taschengeld», sagt die 40-Jährige. Ihr Mann Rami, 42, nickt: «Das Auto habe ich verzockt, darum fahre ich jetzt Moped.»
Dabei hat alles so gut begonnen. Die Bernerin verliebt sich im Urlaub auf Djerba in den feinfühligen Tunesier und er sich in die selbstbewusste, fröhliche Frau. «Natürlich war mir bewusst, dass solche Ferienlieben und erst recht Mischehen noch mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, als sie eine Partnerschaft ohnehin mit sich bringt», erzählt sie. «Ich beschloss, für eine Weile nach Tunesien zu ziehen. Um zu sehen, ob wir den Alltag gemeinsam gut bewältigen.»
Es geht gut weiter. Vorerst. Sie heiraten und erwarten bald ein Kind. Rami Saihi hatte in Tunesien Sozialarbeit studiert, allerdings nie im Beruf gearbeitet. Er hat stattdessen sein Glück in einem Ferienort auf Djerba gesucht – als «Zimmermädchen» in Hotels, selbstständig als Masseur, mit Henna-Tätowierungen, mit einem Shisha-Zelt. Doch nichts bringt das erhoffte Geld. Schliesslich baut er im Auftrag Wohnungen, steckt all sein Geld und geliehenes dazu in das Projekt – und wird über den Tisch gezogen. Die Familie steht vor dem Nichts.
«Das war der Moment, wo ich endgültig zurückwollte», sagt Melanie Saihi. «Ich wusste, ich könnte in der Schweiz für ein regelmässiges Einkommen sorgen. Und hätte erst noch meine Mutter in der Nähe, die auch mal zum Kind schauen könnte.» Ihr Mann freut sich auf die neue Heimat. «Er dachte, dass wir hier reich sein würden. Dass 5000 Franken in der Schweiz für eine dreiköpfige Familie nicht viel ist, wollte er einfach nicht glauben.»
Das Paar mietet in der Nähe der Mutter eine Wohnung, mit direktem Zugang zum Garten – «für unsere Tochter». Sie könnten es schön haben. Das Aufwachen ist umso härter. Schnell merkt Rami Saihi, dass die Familie mit den Einkünften seiner Frau nicht auf Rosen gebettet ist. Er darf als Ehemann einer Schweizerin zwar arbeiten. Doch die Suche nach einem Job gestaltet sich harzig. «Ich hätte noch so gern irgendeine Arbeit angenommen», sagt er. «Mir war ja klar, dass ich ohne gute Deutschkenntnisse nicht in meinem gelernten Beruf würde arbeiten können.»
Auch die regionale Arbeitsvermittlung kann nicht weiterhelfen. «Schliesslich hiess es, wir sollten uns bei der Sozialhilfe melden, damit er an einem Integrationsprogramm teilnehmen kann», erinnert sich Melanie Saihi. Für Deutschunterricht sei aber sie als Ehepartnerin zuständig.
«Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin. Aber ich fing an, ihn über das Handy-GPS zu kontrollieren.»
Melanie Saihi*, betroffene Ehefrau
Rami Saihi bewirbt sich bei Temporärbüros, egal, für welche Arbeit. Er kann zwar ab und an für ein paar Wochen oder Monate in einer Fabrik arbeiten, doch viel bringt das nicht. Eine längere Anstellung verliert er. Die Arbeitslosigkeit, die mangelnde Bestätigung beginnen an seinem Selbstwertgefühl zu nagen. Auch dass er, der in seiner Heimat das Familienoberhaupt war, so gut wie nichts zum Unterhalt seiner Familie beitragen kann.
«Ich fühlte mich wertlos. Ich konnte ja nicht einmal ein kleines Geschenk für meine Kinder kaufen», sagt er. «Rami hatte sich vorgestellt, dass man hier quasi auf ihn gewartet hat und er in Kürze Deutsch lernt», sagt seine Frau. «Ich konnte sagen, was ich wollte, er mochte der Realität einfach nicht ins Auge blicken.» Und er träumt weiter vom schnellen, grossen Geld.
Der Haussegen hängt immer öfter schief. Ein zweites Kind kommt. Bald trifft sich Rami Saihi nur noch mit Landsleuten. Weg mit den Sprachproblemen, den kulturellen Unterschieden. Jemand sein, dabei sein. Seine neuen Freunde befinden sich in ähnlichen Situationen. Arbeitslos, kein Geld, kein Status. Und eine nörgelnde Frau zu Hause, die ärgerlicherweise auch noch recht hat, wenn sie findet, er solle endlich besser Deutsch lernen. Wer etwas Geld hat, geht ins Kasino. Die Hoffnung geht mit rein und kommt auch wieder mit raus, für das nächste Mal. Das Geld bleibt meistens drin.
Geld. Ein ewiger Streitpunkt. Rami Saihi schickt dauernd Geld nach Tunesien. Für seine Mutter, sagt er. Aber wir haben nicht so viel, sagt sie. Sie streiten. Und immer wieder beschleichen Melanie Saihi Zweifel. Irgendwann beginnt sie, die Überweisungsbelege von Western Union von ihm zu verlangen, doch die hatte er jeweils «verloren». Das meiste sei wohl im Kasino gelandet, glaubt Melanie Saihi heute. Einmal behauptet ihr Mann, er habe mit dem Geld eine Wohnung in Tunis gekauft. «Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Wohnung wirklich existiert», sagt sie.
«Ich war so verzweifelt, schämte mich so sehr», sagt er zu seinem Suizidversuch.
Durch die Spielsucht verliert Rami Saihi immer mehr die Verbindung zur Realität. Wenn er gewinnt, trumpft er vor den Kollegen auf und – wie sich später herausstellen wird – vor irgendwelchen Frauen in seinem Schlepptau. Verliert er, ist er am Boden zerstört. «Er hat uns praktisch nicht mehr wahrgenommen», sagt Melanie Saihi. Das ohnehin knappe Geld wird noch knapper.
Melanie Saihi ist verzweifelt. Die Streitereien, die finanzielle Unsicherheit, die emotionale Distanz zwischen den Eheleuten machen sie mürbe. «Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin, aber ich habe angefangen, ihn über das Handy-GPS zu kontrollieren.» Es gelingt ihr, sein Passwort zu knacken. Sie findet Chats mit Frauen, mit denen er offensichtlich Affären hatte. Sie kontaktiert sogar die aktuellste seiner Geliebten. Die hat keine Ahnung, dass sie nur eine von vielen ist, dass «ihr» Rami sogar verheiratet ist. «Ums Geld hatten wir uns ja schon immer gestritten. Und seine Spielsucht ist eine Sucht, eine Krankheit. Deswegen verlasse ich ihn nicht», sagt Melanie Saihi. «Aber andere Frauen? Das war zu viel für mich.» Sie droht, ihn mit den Kindern zu verlassen.
Eines Tages fällt ihr auf, dass sein Auto lange vor dem Kasino St. Gallen steht. Sehr lange. Sie fährt hin und passt ihn ab. «Er regte sich fürchterlich auf, sagte immer wieder, er habe alles verloren.» Er schwört, nie mehr zu spielen. Er habe sich vom Kasino sperren lassen. Kurz darauf verschwindet er für mehrere Tage – sein Konto ist leer geräumt, alles ist verzockt.
Seine Frau ist alarmiert. Klappert seine tunesischen Freunde ab, die ihr beim Suchen helfen. Schliesslich findet sie ihn bei einem Kollegen. «Zu Hause sass Rami dann auf dem Sofa und wirkte völlig weggetreten», sagt sie. Im Bad entdeckt sie den Grund: Er hat eine Überdosis Antidepressiva geschluckt. Den Kindern tischt die Mutter eine Geschichte als Begründung auf, warum Papi sofort ins Spital muss. «Sie wissen auch heute noch nicht, dass ihr Vater spielsüchtig ist.»
«Ich war so verzweifelt, schämte mich so sehr», sagt Rami Saihi zu seinem versuchten Suizid. Ihm dämmert, dass er etwas gegen seine Spielsucht tun muss. Seine Frau bittet ihn, psychologische Hilfe zu suchen. Das sei jedoch nicht einfach gewesen, in seiner Kultur gehe man nicht freiwillig zum Psychiater.
«Aber meine Frau hat recht gehabt. Es machte meine Familie kaputt, und es ging mir nicht gut», sagt er. «Ich wollte nicht mehr leben. Ich konnte nicht mehr schlafen vor Sorgen, hatte ein schlechtes Gewissen und konnte doch nicht anders.» Dabei wisse er doch, dass das Glücksspiel nur ein Spiel mit der Hoffnung sei und dass am Ende immer das Kasino gewinnt. «Eigentlich kann man das Geld gleich wegwerfen.»
Rami Saihi lässt sich in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz sperren. Doch als er schwarz am Filmfestival in Locarno arbeitet, findet seine Spielsucht ein neues Ventil. Er fährt nach Mailand ins Kasino und verzockt den ganzen Lohn. Seiner Frau sagt er, man habe ihn nicht ausgezahlt. Und im österreichischen Bregenz schafft er es trotz Sperrung ins Kasino. «Es gibt Tricks, wie man dennoch reinkommt, das wissen alle Spieler», sagt er. Es brauche nur einen Verbündeten, der noch nicht gesperrt ist.
«Ich habe mir überlegt, rechtlich gegen das Kasino vorzugehen», sagt sie. «Doch mein Mann weiss den vollen Namen seines Komplizen nicht, und den bräuchten wir als Zeugen.»
Zum Glück haben die Eheleute getrennte Konten. Trotzdem ist Melanie Saihis Geld nicht sicher: Einmal schnappt er sich ihre Kreditkarte und belastet sie bis zur Limite. Dann nimmt er heimlich Kleinkredite auf – die er bei seinen finanziellen Verhältnissen nie hätte bekommen dürfen.
Erst als Mahnungen ins Haus flattern, merkt sie, was los ist. Dank einem von SOS Beobachter gesponserten Anwalt muss die Familie wenigstens nur den Kredit, nicht aber die 15'000 Franken Zinsen zurückzahlen.
Seit März hat Rami Saihi nicht mehr am Spieltisch gestanden. «Ich kann gar nicht spielen gehen, ich habe ja kein Geld.» Er sei seiner Frau dankbar, dass sie ihm kein Geld gebe und trotz allem zu ihm stehe. So richtig begriffen hat Rami Saihi aber nicht, dass seine Spielsucht eine Krankheit ist. Und dass wie bei anderen Süchten auch hier nur völlige Abstinenz hilft. Am Handy spielt er – zwar nicht um Geld – nach wie vor Kasinospiele.
«Es ist nicht schön, aber ich kann ihm nicht mehr vertrauen», sagt Melanie Saihi. «Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob er nicht bereits damals in Tunesien gespielt und mir nur Märchen aufgetischt hat.» Doch der Kinder wegen, die ihren Vater sehr lieben, will sie bei ihm bleiben.
* Name geändert.