Das Klingelschild am schmiedeeisernen Gartentor verrät nur ihre Initialen. Vera Rottenberg Liatowitsch, ehemalige Bundesrichterin, wohnt mit ihrem Mann in einem unauffälligen Mehrfamilienhaus mit Blick auf den Zürichsee. Die 72-Jährige ist voller Energie. «Meine Mutter erzählte immer, wie gleich nach meiner Geburt in Ungarn eine Bombe ins Nachbarhaus einschlug und ein Stück Decke in meinen Babykorb fiel», sagt sie und bietet Kaffee an. «Dass ich noch lebe, war nicht vorgesehen. Jüdische Kinder, die 1944 in Budapest geboren wurden, sollten eigentlich sterben.»

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An Vera Rottenbergs Handgelenk baumelt ein eingefasstes Geldstück aus Ungarn. Es erinnert an ihre spektakuläre Flucht. «Das Armband trage ich immer. Die Münze ist mit mir in die Schweiz geflüchtet», erklärt die Juristin. Sie erzählt nüchtern, wie sie als Säugling zusammen mit Mutter und Schwester in letzter Minute den Nazis entkommen konnte. Und wie sie in einer Schweiz aufwuchs, die ihre Familie wieder loswerden wollte.

Noch in den ersten Nachkriegsjahren verlangten die Behörden von der ungarischen Familie Rottenberg, dass sie weiterreiste – obwohl Mutter Berta bis zur Heirat Schweizerin gewesen war. «Wir wollten hierbleiben. Meine Mutter hat St. Gallen geliebt. Sie ist hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat alle schweizerdeutschen Liedli gekannt und mit uns oft gesungen.» Damals schrieb die Mutter in einem Brief, sie habe nach ihrer Verheiratung nach Budapest stets an Heimweh gelitten. Nur die Ferien in der Schweiz hätten es jeweils gemildert.

«Ich konnte nie einschlafen»

Doch in den Augen der Schweizer Behörden waren die Rottenbergs Fremde, die nicht bleiben konnten. «Sie hätten halt keinen Ausländer heiraten sollen», habe eine Beamtin der St. Galler Fremdenpolizei ihrer Mutter einmal gesagt. «Sie hatte zwei Brüder in Zürich, und meine Grossmutter lebte in St. Gallen. Trotzdem sollten wir die Schweiz verlassen. Obwohl wir keinen Knochen kannten in Amerika oder Israel.» Die Auswanderung scheiterte. Die Unsicherheit aber blieb.

«Sie hätten halt keinen Ausländer heiraten sollen.»

Eine St.Galler Fremdenpolizistin zu Vera Rottenbergs Mutter

«Ich wuchs mit grossen Ängsten auf. Weil ich wusste: Juden will man hier nicht. Das war in mir drin. Ich konnte als Kind nie einschlafen und fragte mich immer, warum niemand Hitler hat erklären können, dass wir Juden keine bösen Menschen sind. Konzentrationslager. Verschleppt. Vergast. Emigrant. Das war der Wortschatz, mit dem ich aufgewachsen bin.»

Fremde im eigenen Land

Die Fluchtgeschichte begann 1944 nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Ungarn. Vater Willi Rottenberg wurde ins «Arbeitslager» gezwungen, das er mit viel Glück überleben sollte. Die hochschwangere Mutter Berta lebte mit ihrer älteren Tochter Eva unter prekären Bedingungen in Budapest. Dem Schweizer Gesandtschaftssekretär Harald Feller gelang es jedoch, die Rottenbergs ins Schweizerheim umzuquartieren, das unter dem Schutz der Gesandtschaft stand. 

Nach zähen Verhandlungen mit Bern erhielt der Botschaftsmitarbeiter eine Einreisebewilligung für die Rottenbergs und drei weitere ausgebürgerte Schweizer Jüdinnen mit ungarischem Ehemann. Gleichzeitig konnte er Ausreisepapiere beschaffen – nach Verhandlungen mit Adolf Eichmann, dem Leiter des Nazi-Sonderkommandos zur Ermordung der ungarischen Juden. Im Oktober 1944, nur wenige Wochen nach Veras Geburt, reisten die sechs Geretteten mit Schweizer Identitätspapieren in die Schweiz. Hier mussten sie die Schweizer Ausweise wieder abgeben und waren von da an Ausländerinnen im eigenen Land.

Vera Rottenberg Latowitsch

Eva Rottenberg Liatowitsch erinnert sich an eine schwierige Zeit.

Quelle: Joseph Khakshouri

Vera und Eva Rottenberg wuchsen als staatenlose jüdische Mädchen in St. Gallen auf. 1958 wurden sie dort eingebürgert. Vera Rottenberg studierte Recht und wurde in Zürich als SP-Mitglied erst Bezirksrichterin und dann Oberrichterin. 1994 wählte sie das Parlament als erste jüdische Frau zur Bundesrichterin. «Stolz hat mich die Wahl nicht gemacht», sagt sie bescheiden. Sie habe einfach Glück gehabt. Dass sie Jüdin sei, habe sie in den 18 Jahren am Bundesgericht nicht negativ zu spüren bekommen.

Den Retter getroffen

Ende der neunziger Jahre traf sie mit ihrer Schwester erstmals ihren Retter Harald Feller. «Mir stand der Mensch gegenüber, ohne den ich jetzt tot wäre.» Sie habe erst nicht gewusst, wie sie sich verhalten solle. Auf das kurze Zögern folgte ein anregendes Gespräch. «Er stellte sein Verhalten als das Normalste der Welt dar. Doch das war es überhaupt nicht. Er hätte ja sagen können: ‹Tut mir leid, ihr habt kein Schweizer Bürgerrecht mehr, ich kann nichts mehr tun für euch.›»

Sie erzähle ihre Geschichte, weil man diesen Abschnitt der Zeitgeschichte nicht vergessen dürfe, sagt Vera Rottenberg Liatowitsch. «Die damalige Heiratsregel war eine gewaltige Diskriminierung der Frauen. Eine schreiende Ungerechtigkeit. Was das für die betroffenen Schweizerinnen bedeutete, muss in die etablierte Schweizer Geschichte eingehen.»

Die verstossenen Schweizer Familien

Wenn sie einen Ausländer heirateten, verloren Schweizerinnen bis 1952 ihr Bürgerrecht. Das bedeutete im Zweiten Weltkrieg für viele Frauen und ihre Kinder den Tod.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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