Wie die Gen Z das Internet auf den Kopf stellt
Sie ist jung, neugierig, online – aber die Generation Z sucht Informationen nicht auf Google, sondern in Tiktok-Videos. Warum?
Veröffentlicht am 19. Januar 2025 - 06:00 Uhr
Wenn Nora, 18, und Samawada, 17, endlich nach Südkorea reisen, werden sie vorbereitet sein. «Hotels, Strände, Wanderungen: Haben wir alles auf Tiktok recherchiert», sagt Nora. Dank den Videos habe sie eine gute Vorstellung davon, was sie erwarten wird: «Wir haben alle wichtigen Infos. Wir kennen den Vibe.»
Tiktok in der Kritik
Eine Strassenumfrage zu Social Media, das ist mutmasslich absurd. Als würde man unter Wasser zum Thema Sauerstoff recherchieren. Aber dann kommen trotz dieser sehr analogen Herangehensweise ein paar interessante Beobachtungen zusammen. Zunächst einmal die, dass junge Leute bis auf wenige Ausnahmen richtig Lust haben, über die Videoplattform Tiktok zu sprechen. Und über folgende These:
Die Gen Z sucht nicht mehr. Sie findet nur noch.
Folgendes ist passiert: Der Tech-Konzern Google hat festgestellt, dass immer weniger Junge die Suchfunktion nutzen. Wo gibt es den besten Döner der Stadt? Wie viele Bundesräte hat die Schweiz? Fast jede zweite Person zwischen 14 und 19 Jahren geht mit solchen Fragen direkt auf Tiktok. Die App ist die am schnellsten wachsende Social-Media-Plattform der Welt. Rund 1,7 Milliarden Nutzerinnen und Nutzer sind dort aktiv. Darunter 2,2 Millionen aus der Schweiz, heisst es bei Tiktok.
Google präsentiert die Fische, Tiktok kocht sie
Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Google ist Platzhirsch in Sachen Information. 90 Prozent aller Suchanfragen im Internet laufen über Google. Konkurrenz kommt jedoch von Künstlicher Intelligenz wie Chat GPT. Und eben Tiktok. Das ist relevant. Information ist so etwas wie das Fundament jedes gemeinsamen Gesprächs.
«Tiktok wiederholt Videos mit falschen Behauptungen unter den ersten 20 Ergebnissen, oft sogar unter den ersten 5.»
Misinformations-Monitor von Newsguard Technologies
Apropos: Den Unterschied zwischen Tiktok und einer Suchmaschine wie Google kann man ungefähr so erklären: In einem Meer aus Informationen fängt Google die Fische. Und die Nutzerinnen gehen dann wie auf dem Fischmarkt herum und suchen in der Auslage nach dem besten Fang. Die Auswahl ist gross, das Angebot vielfältig – man muss prüfen, abwägen, überlegen.
Tiktok hingegen ist wie ein Besuch im Restaurant. Auf den Tisch kommt, was der Koch anbietet. Und er weiss sehr genau, was Sie lieben.
Schnell, effizient, viral
Samawada sagt: «Ja. Ich nutze Google nicht mehr, ich kriege dort einfach nicht schnell genug Infos.» Schnell heisst: «Ein Video, das nicht länger als 60 Sekunden dauert.»
Diese drei Dinge haben die Freundinnen auf Tiktok über ihr Reiseziel gelernt: wie es dort aussieht, wo die Sehenswürdigkeiten sind und ob es Kleidungsvorschriften gibt. Sie kriegen diese Informationen alle aus ein und demselben Video.
Lieber als «tausend Links»
Hätten sie dieselben Stichworte – «Beste Strände, Korea» – bei Google in die Suchmaske getippt, hätten sie erst mal «tausend Links» öffnen müssen, wie sie sagen. Das dauert.
Tiktok sei also interessanter, schneller, besser. Eine «gute Information» in Sachen Reiseplanung beschreibt Nora als «Bilder, die Lust machen». Und konkret soll das Video sein. «Wie viel Miete ein Motorroller am Tag kostet, zum Beispiel.»
Information auf Augenhöhe
Wären wir hier bei Tiktok, so würden wir an dieser Stelle kurz weiterwischen zur nächsten Videosequenz. Prabhakar Raghavan, leitender Technologe von Google, sitzt auf der Bühne einer Tech-Konferenz und erzählt, wie er das Verhalten von Teenagern wie Nora und Samawada interpretiert.
«Junge Leute haben ganz andere Erwartungen an Information als wir», sagt der 64-Jährige und nennt zwei Beispiele, um das zu veranschaulichen. Erstens: «Sie haben in ihrem Leben niemals eine Landkarte auf Papier gesehen. Aber Google Maps sieht aus wie eine Landkarte, die auf dem Handy klebt.» Das sei «falsch», sagt Raghavan. Weil es die Lebenserfahrung junger Nutzerinnen nicht abbildet.
Und noch etwas Zweites ist dem Entwickler aufgefallen: Junge suchten zunehmend über die Sprachfunktion nach Informationen, nicht mehr durch das Eintippen von Wörtern. «Weil sie dadurch viel mehr Nuancen artikulieren können», sagt Raghavan.
Nuancen sind ein gutes Stichwort. Denn – Szenenwechsel – auf der Strasse in Basel fällt auf, dass Teenager Sprache und Slang mit Relevanz verknüpfen. Zum Beispiel Abel und Nina, beide 17. Nina sagt: «Ich kann bei Tiktok sofort entscheiden, ob mich etwas interessiert. Das hat mit der Person zu tun, die das Video macht. Wie sie redet, wie sie sich darstellt.»
Sie fühlen sich in den Medien nicht repräsentiert
Wenn Nina und Abel sagen, etwas sei «interessant», dann meinen sie: «Ich verstehe, worum es geht» (Abel). Und: «Es ist sympathisch gemacht» (Nina). Da geht es um so etwas wie Sprache, Aussehen, Verhalten, also diese ganze schwer in Worte zu fassende Sache namens Identifikation.
«Visuelle Information birgt die Gefahr, per se glaubwürdiger zu wirken als Text.»
Ika Idris, Social-Media-Expertin
Eine Studie des Leibnitz-Instituts für Medienforschung stützt diese Beobachtung. 14- bis 24-Jährige, die sich kaum für aktuelle Informationen interessieren, fühlen sich in Medieninhalten oft nicht repräsentiert. Sie wünschen sich «Meinungsvielfalt, Verständlichkeit und Begegnung auf Augenhöhe». Bislang erfüllen soziale Medien wie Tiktok diese Kriterien in ihren Augen am besten. Alles, was in Textform daherkommt, eher nicht.
Reisen, Schuhe, Krieg
Bei Fragen zu Reisen, Shopping oder dem besten Restaurant der Stadt kann man die Nutzung von Tiktok als eine Frage des Geschmacks beschreiben. Bei anderen Themen wie Politik oder Gesundheit steht mehr auf dem Spiel.
Denn «Tiktok wiederholt Videos mit falschen Behauptungen unter den ersten 20 Ergebnissen, oft sogar unter den ersten 5», zeigt die Analyse von Newsguard, einer Art Qualitätsprüfung für Onlineinformation. «Im Vergleich dazu liefert Google qualitativ hochwertige und weniger polarisierende Ergebnisse mit weit weniger Fehlinformationen.»
Der dunkle Algorithmus
Der Algorithmus von Tiktok ist eine Dunkelkammer – warum er was ausspielt und wer darauf Einfluss hat, weiss niemand so genau. Zudem purzeln die Themen wild durcheinander, Fakten und Meinungen stehen nebeneinander. Reisen. Schuhe. Dazwischen Bomben auf Gaza und brennende Wälder in Brasilien. «Visuelle Information birgt die Gefahr, per se glaubwürdiger zu wirken als Text», schreibt die indonesische Social-Media-Expertin Ika Idris in einer Analyse zum gesellschaftlichen Einfluss von Desinformation auf Tiktok, «weil sie die Welt anschaulicher abbildet.»
Die Teenager in Basel wissen, dass Tiktok kein Lexikon ist, sagen sie. «Man muss schon sehr gut hinhören, was jemand in einem Video sagt», findet Abel. Wenn er am Inhalt eines Videos zweifle, dann lese er immer auch die Kommentare. «Wenn dort viel Widerspruch kommt, dann stimmt was nicht.»
Suchen ja, aber anders
Die Gen Z ist dabei, in ein neues Internet umzuziehen. Eines, in dem Buchstaben eine untergeordnete Rolle spielen. Auch dort spielt Quellenkritik eine Rolle, und zumindest die Jugendlichen in dieser zufällig ausgesuchten Basler Nacht sagen, sie seien sich dessen bewusst.
Hat die Gen Z aufgehört zu suchen? Natürlich nicht, sie tut das nur anders und nicht mehr auf Google. Diese Teenager wollen reisen, sie wollen ausgehen, sie wollen gut aussehen. Sie sind neugierig. Der Rest ist Herausfinden.
- Studie des Leibniz-Instituts für Medienforschung: «Einblicke in die Bedürfnisse und Nutzungspraktiken gering informationsorientierter junger Menschen»
- Interview mit Prabhakar Raghavan, Cheftechnologe von Google, auf der Brainstorm-Tech-Konferenz 2022
- Medienmitteilung von Tiktok zu den Nutzungsgewohnheiten der Schweizerinnen und Schweizer
- «Misinformations-Monitor» von Newsguard über die Qualitätsunterschiede zwischen Tiktok und Google in Bezug auf die Verlässlichkeit von Information
- Blick auf den Woljeongri Beach in Südkorea durch die Linse einer Tiktok-Nutzerin