Stellen Sie sich vor, Sie werden einer Straftat beschuldigt. Eine Nachbarin will Sie beobachtet haben, illegal Abfall verbrannt, das Nachbarauto zerkratzt oder ihre Katze vergiftet zu haben.

Sie erfahren, dass die Polizei bereits ermittelt und die Nachbarin als Zeugin befragt hat.

Wer beschuldigt wird, darf Fragen stellen.

Verspüren Sie bereits ein Engegefühl in Ihrer Brust? Zu Recht, denn auch aus juristischer Sicht ist das beschriebene Vorgehen nicht ganz lupenrein.

Denn: Wer einer Straftat beschuldigt wird, darf anwesend sein und Fragen stellen – etwa wenn Zeugen oder Auskunftspersonen befragt werden. 

Partnerinhalte
 
 
 
 

Anspruch auf rechtliches Gehör

Wenn also Ihre Nachbarin bei der Polizei über Sie aussagt, dürfen Sie dabei sein – und sie Ihrerseits mit kritischen Fragen löchern. Das ergibt sich so aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör. 

Die Idee dahinter: Wenn eine Zeugin lügt, kann die beschuldigte Person sie am besten entlarven.

Sie könnten Ihre Nachbarin also direkt konfrontieren – etwa so: «Du behauptest, du hättest mich am 20. Juli gesehen. Aber dann war ich auf Sardinien in den Ferien.»

Belastende Aussagen sind neu nur verwertbar, wenn die Beschuldigten anwesend sind, wenn diese getätigt werden.

Wenn dieses Teilnahmerecht verletzt wird, dürfen belastende Aussagen grundsätzlich im Strafverfahren nicht verwertet werden. Das steht so im Gesetz und ist auch nicht neu.

In früheren Urteilen genügte es, wenn die beschuldigte Person zu einem späteren Zeitpunkt an der Einvernahme teilnehmen konnte.

Oder anders gesagt: Die belastenden Aussagen einer früheren Einvernahme galten als verwertbar, wenn die Konfrontation später stattfand.

Bundesgericht stellt klar

Nun hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung angepasst – und klargestellt, dass das nicht geht:

Wenn eine beschuldigte Person bei einer Befragung nicht dabei sein durfte, bleiben belastende Aussagen unverwertbar – auch wenn die Befragung später mit ihr wiederholt wird.

«Der Entscheid stellt klar, was ein Grossteil der Lehre schon lange fordert.»

Lukas Bürge, Fachanwalt für Strafrecht

Beschuldigte sind also besser geschützt. Die Fraktion der Strafverteidigerinnen jubelt.

«Der Bundesgerichtsentscheid stellt klar, was ein Grossteil der Lehre schon lange fordert: Eine Einvernahme, bei der das Teilnahmerecht unzulässigerweise verletzt wurde, kann nicht durch eine erneute Einvernahme, bei welcher die Teilnahmerechte gewährt werden, geheilt werden», sagt Lukas Bürge, Fachanwalt für Strafrecht und Co-Präsident von Strafverteidiger.ch.

Dadurch würden die Rechte der Beschuldigten deutlich gestärkt.

Staatsanwaltschaften fürchten keinen Mehraufwand

Und was meinen die Strafbehörden dazu? Wird ihr Arbeitsalltag nun erschwert, weil sie die Einvernahmen schon von Anfang an mit der beschuldigten Person koordinieren und sie dazu einladen müssen?

«Es war schon immer aufwendig, die Einvernahmen mit den Parteien terminlich zu koordinieren.»

Michel-André Fels, Präsident der Staatsanwaltschaftskonferenz

Nein, die Schweizerische Staatsanwaltschaftskonferenz (SSK) gibt sich entspannt – sie sieht keinen Zusatzaufwand für die Staatsanwaltschaften.

«Es war schon immer aufwendig, die Einvernahmen mit den Parteien terminlich zu koordinieren. Das gehörte bereits zum Alltagsgeschäft», sagt Michel-André Fels, Präsident der SSK.

«Sollten die Teilnahmerechte zu Unrecht eingeschränkt worden sein, ist und bleibt die Einvernahme unverwertbar und ist zu wiederholen. Das war schon vor dem Urteil so.» Das Urteil betreffe zudem nur einen Einzelfall.

Wer in ein Strafverfahren als Beschuldigte verwickelt ist, muss also von Anfang an involviert werden. Und sollte im Zweifel lieber schon früh eine Strafverteidigerin, einen Strafverteidiger zu Rate ziehen – oder sich beim Beratungszentrum des Beobachters beraten lassen.

Sie brauchen rechtliche Unterstützung?

Beim Beratungszentrum des Beobachters stehen Ihnen 30 Expertinnen und Experten zur Seite. Ganz egal, ob zu Rechts-, Geld- oder Lebensfragen: Unsere Beratung steht sowohl Mitgliedern als auch Nichtmitgliedern zur Verfügung.

Und wenn Sie sich gerne selbst in ein Thema einlesen: Im Onlineshop der Beobachter-Edition finden Sie kompakte, umfassende Ratgeber zu allen wichtigen Lebensbereichen.