Den Richterinnen ergeht es wie den Fussballtrainern. Die halbe Nation glaubt, es besser zu wissen. «Bundesgericht scheucht Politik auf», titelte der «Tages-Anzeiger» diese Woche. Das Bundesgericht hatte im März entschieden, dass die sogenannte elektronische Überwachung auch möglich ist, wenn eine Person für ein Verbrechen mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe bestraft wird. 

Vorher war es so: Wer eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr verbüssen musste, konnte beantragen, dass diese mittels Fussfessel zu Hause vollzogen wird. Unter strengen Voraussetzungen. Das Bundesgericht fand nun, dass diese Möglichkeit auch Menschen offenstehen muss, die zwar eine längere Freiheitsstrafe kassiert haben, aber weniger als ein Jahr zwingend absitzen müssen.

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Eine solche teilbedingte Strafe hatte eine Frau aus dem Kanton Bern bekommen. Das Bundesgericht entschied, dass das Obergericht nochmals prüfen sollte, ob man ihr den Vollzug mittels Fussfessel gewähren könne – obwohl sie insgesamt zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war und sie zehn Monate davon zwingend im Gefängnis absitzen sollte. 

Warnung vor Kuscheljustiz ist unberechtigt

Vertreterinnen von SVP, Mitte und SP sprechen von «Kuscheljustiz» und kämpfen dagegen an. Neu könnten auch Vergewaltiger oder Menschen, die schwere Gewalttaten verübt haben, nur noch Fussfesseln bekommen, warnen sie. Um das zu verhindern, reichte Nationalrätin Nina Fehr Düsel (SVP) eine parlamentarische Initiative ein. Sie fürchtet um den «Abschreckungseffekt». Dabei ist wissenschaftlich belegt, dass es diesen gar nicht gibt. Kaum ein Straftäter denkt vor seiner Tat über die Konsequenzen nach. 

Aber selbst wenn es nicht so wäre, ist die Sorge unberechtigt. Das zeigt der Hintergrund des Falls, über den das Bundesgericht geurteilt hat. Die Frau war weder eine Vergewaltigerin noch eine Schlägerin. Sie hatte Geld von einem Mann veruntreut, der ihr vertraut hatte. Und sie hatte sich gegenüber der IV kränker dargestellt, als sie ist. 

Das sind keine Bagatellen. Natürlich. Aber die Delikte sind weit entfernt von schweren Gewalttaten. Schauen wir uns die Auswirkungen des Bundesgerichtsentscheids genauer an: In rund 70 Fällen pro Jahr wird Gewalttätern überhaupt ein teilbedingter Vollzug gewährt, der weniger als ein Jahr dauert. Das ist im Promillebereich, pro Jahr werden gut 40’000 Strafurteile gefällt. Dass diese Verurteilten in den «Genuss» der elektronischen Überwachung kommen, dürfte die absolute Ausnahme sein. 

Fussfesseln? Nur unter strengen Voraussetzungen

Zunächst ist das nur möglich, wenn weder Flucht- noch Rückfallgefahr besteht. Weiter muss die Person eine Wohnung haben, einer Arbeit oder Ausbildung nachgehen, und allfällige Mitbewohner müssen zustimmen. Die Betroffenen müssen zudem einem Vollzugsplan folgen. Tun sie es nicht, heisst es: bye-bye Sofa. Die Forschung hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Electronic Monitoring einen klaren Strafcharakter hat – anders als Nina Fehr Düsel das in ihrem Vorstoss insinuiert.                 

Im konkreten Fall hat sich die Frau bereits seit zehn Jahren nichts mehr zuschulden kommen lassen. Man kann sich fragen, welchen Sinn es überhaupt noch hat, sie ins Gefängnis zu stecken. Sie hat den Vollzug per Fussfessel beantragt, um auf ihren minderjährigen Sohn schauen zu können, der ansonsten aus seinem familiären Umfeld herausgerissen würde. Kommt hinzu: Sie würde die Stelle verlieren und müsste auf Staatskosten dabei unterstützt werden, eine neue zu finden. Steuergeld, das wir uns guten Gewissens sparen können.

Auf solche Fälle zielt die neue Praxis des Bundesgerichts ab. Der Fall eignet sich nicht, um das Schauermärchen vom Laisser-faire-Umgang mit Vergewaltigern zu erzählen. Es gibt einen guten Grund, weshalb wir keine Fussballtrainerinnen und keine Richter sind. Auch wenn alle glauben, es besser zu wissen.