Beobachter: Ein Gesetz gegen Genitalverstümmelung – was bedeutet für Sie diese klare Positionierung der Schweiz?
Aicha Ali: Wir leben in einem Land, in dem Demokratie und Selbstbestimmung zwei der höchsten Güter sind. Ich habe immer darauf gehofft, dass so ein Gesetz Realität wird, damit gerechnet habe ich aber nie. Wir von den Somalischen Frauen Schweiz sind sehr zufrieden und freuen uns.

Beobachter: Beschneidung gilt schon heute als Körperverletzung und ist in der Schweiz bereits verboten. Was also bringt die neue Regelung den Betroffenen konkret?
Ali: Bei der Beschneidung handelt es sich um eine Ungerechtigkeit, die vielen Frauen angetan und nun explizit unter Strafe gestellt wird. Diese klare Regelung wird die Diskussion über dieses Thema erleichtern.
Dominique Schärer: Die Schweiz hat ein starkes politisches Zeichen gesetzt. Im Vergleich zur bisherigen Regelung ergeben sich auch einige rechtliche Vorteile. Es wird künftig nicht mehr zwischen leichter und schwerer Körperverletzung unterschieden. Das begrüssen wir sehr. Denn es geht nicht darum, wie stark, sondern dass ein Mädchen beschnitten wurde. Dank dem neuen Gesetz können auch Eingriffe geahndet werden, die im Ausland stattfinden – auch wenn sie am Tatort nicht verboten sind.

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Beobachter: Wie viele Mädchen sind in der Schweiz akut in Gefahr?
Schärer: Wir schätzen, dass rund 6000 bis 7000 Mädchen und Frauen schon beschnitten oder gefährdet sind.

Beobachter: Dazu könnte es nun häufiger kommen.
Schärer: Davon gehe ich aus, ja.

Beobachter: Hätten Sie Ihre Eltern verklagt, wenn Sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten?
Ali: Mein Vater war gegen die Beschneidung, und obwohl meine Mutter die Beschneidung organisiert hatte, war es nicht sie, die mir das angetan hat. Die Tradition der Beschneidung ist in Somalia tief verankert. Ein Mädchen kann unbeschnitten nicht heiraten, und das wiederum macht sie zur Aussenseiterin. Das wollen die Eltern ihren Töchtern ersparen und lassen deshalb diesen Eingriff vornehmen. Sie wissen es nicht besser. Gerade deshalb ist Aufklärungsarbeit so wichtig.

Beobachter: Die Frage bleibt: Hätten Sie Ihre Eltern verklagt?
Ali: Nein, ich hätte meine Mutter nicht verklagen können.

Beobachter: Warum nicht?
Ali: Weil es meine Grossmutter war, die meine Mutter dazu gezwungen hatte. Ich erinnere mich auch daran, dass meine Mutter jedes Mal, wenn sie sah, wie sehr ich unter Schmerzen im Unterleib litt, fragte, ob ich ihr verzeihen könne, was sie mir angetan hat.

Beobachter: Konnten Sie?
Ali: Ja, meine Mutter hatte nicht realisiert, was sie mir antut. Als sie jedoch sah, wie sehr ich darunter leide, da hat sie verstanden, dass es falsch war.

Beobachter: Glauben Sie tatsächlich, dass das neue Gesetz auch nur ein einziges Mädchen vor einer Beschneidung bewahren wird?
Ali: Da bin ich mir sicher. Es wird die Angst der Eltern vor einer Strafe vergrössern. So werden die Mädchen besser geschützt.

Schärer: Wir müssen uns in dieser Frage auf unsere Partnerorganisationen wie jene von Aicha Ali verlassen. Caritas legt den Fokus ihres Engagements allerdings in erster Linie auf die Prävention. Wir wollen nicht eine Tat ahnden, sondern die Beschneidungen verhindern.

Beobachter: Wie?
Schärer: Wir versuchen gemeinsam mit Organisationen wie den Somalischen Frauen Schweiz den Dialog unter Betroffenen und Interessierten zu fördern und das Wissen um gesundheitliche und psychische Folgen einer Beschneidung weiterzugeben. Die Familien sollen nachvollziehen können, warum dieser Eingriff ihrer Tochter schadet, und sich nicht nur aus Angst vor einer Strafe dagegen entscheiden.

Beobachter: Sie stehen dem Gesetz also kritisch gegenüber?
Schärer: Wir sind der Meinung, dass das Gesetz allein zu wenig Wirkung zeigt und darum die Präventionsarbeit nicht ersetzen kann. Das Problem darf nicht darauf reduziert werden, die einen als Täter und die anderen als Opfer zu identifizieren. Die Geschichte von Aicha Ali illustriert eindrücklich, dass es eben nicht um Gut und Böse geht. Die Familien werden vor eine schwierige Frage gestellt. Man darf bei der Diskussion nicht vergessen, dass diese Eltern letztlich nur das Beste für ihr Kind wollen. Die seelischen Leiden dieser Frauen können sich zudem gerade dadurch verstärken, dass man sie nur als Opfer sieht.

Beobachter: Fühlen Sie sich als Opfer, Frau Ali?
Ali: Nicht nur ich. Alle Frauen, die beschnitten wurden, sind Opfer. Uns allen wurde unser Recht auf die Integrität unseres Körpers genommen. Wir alle haben gelitten.

Beobachter: Frau Schärer, was ist denn so bedenklich daran, wenn die Gesellschaft Frauen wie Frau Ali als Opfer sieht?
Schärer: Es ist richtig, wenn die Gesellschaft nachvollziehen kann, wie sehr diese Frauen gelitten haben. Das kann durchaus förderlich sein. Doch es ist genauso wichtig zu verstehen, dass diese Frauen nicht ausschliesslich Opfer sind. Sie sind wie etwa Frau Ali auch Aktivistinnen, Mütter und Ehefrauen.

Beobachter: Was befürchten Sie denn konkret?
Schärer: Aus Berichten wissen wir, dass manche Frauen zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr nur unter den körperlichen Folgen der Beschneidung leiden, sondern darunter, dass sie beschnitten sind. Manche Frauen führen zahlreiche Probleme wie Beziehungsschwierigkeiten auf den Eingriff zurück, obwohl sie nichts damit zu tun haben. Das geschieht, weil die Opferrolle übermächtig werden kann.

Beobachter: Frau Ali, fühlen Sie sich heute stärker als Opfer als früher?
Ali: Nein. Ich glaube eher, dass sich Frauen durch das Bewusstsein, dass ihnen etwas angetan wurde, stärker für ihre Rechte einsetzen. Ich finde es wichtig, dass die Gesellschaft darüber spricht. Gerade weil Beschneidung ein Tabuthema ist, ist unsere Arbeit so kompliziert. Wenn man nicht darüber spricht, kann man nichts verändern.

Beobachter: Während der Vernehmlassung wurde kritisiert, das neue Gesetz könnte Frauen bevormunden.
Ali: Eine solche Aussage kann nur von Menschen stammen, die nicht ausreichend informiert sind. Beschneidung ist eine schreckliche Missachtung der Menschenrechte. Sie muss bekämpft werden. Dieses Gesetz ist voll und ganz in unserem Sinne. Ich fühle mich von der Schweiz keineswegs bevormundet.

Beobachter: Sie fürchten keine negativen Konsequenzen?
Ali: Doch, denn es können sich schwierige Situationen ergeben, wenn junge Frauen entscheiden müssen, ob sie ihre Eltern anzeigen wollen.
Schärer: Genau deshalb ist eine differenzierte Auseinandersetzung so wichtig. Es werden schwierige Diskussionen stattfinden, die unbedingt geführt werden müssen. Aicha Ali konnte verzeihen, weil ihre Mutter eingesehen hat, dass sie ihrer Tochter etwas Schlimmes angetan hatte. Offensichtlich hat sich die Einstellung der Mutter irgendwann verändert. Unser Ziel ist es, dass dieser Prozess vor und nicht erst nach der Beschneidung stattfindet.

Beobachter: Was wird ab dem 1. Juli anders sein?
Ali: Es wird eine Lücke gefüllt und Fehler werden korrigiert. Für jene Mädchen, die hier aufwachsen, wird es ein fröhlicher Tag. Dennoch gibt es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir kämpfen weiter.