Herr und Frau Holle machen Schnee
In einem Keller in Davos schneit es auch im Sommer. Hier sind Forscher dem Geheimnis der Schneeflocken auf der Spur.
aktualisiert am 21. August 2017 - 12:53 Uhr
Im Kühlraum Nr. 6 stapeln sich Styroporkisten voller Schnee. «AWI 2834. Hier drin liegt der Schnee aus der Antarktis», sagt Martin Schneebeli. «Mein Lieblingsschnee.» Der Umweltingenieur steht in Birkenstöcken und wattierter Expeditionsjacke im Labor des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in Davos. Draussen ist es 23 Grad, im Labor exakt minus 22 Grad, die Luft im kleinen Raum trocken und kalt. Ideale Bedingungen, um Schneekristalle zu züchten.
In der Ecke des Labors steht ein unscheinbarer Aluminiumkasten. Er verrichtet die Arbeit einer Schneewolke: Die selbstgebaute Maschine produziert rund zehn Liter Pulverschnee pro Stunde. Pulverschnee, der nicht von echtem Schnee zu unterscheiden ist. Auch unter dem Mikroskop nicht. Die Davoser Schneephysiker nennen ihn deshalb naturidentischen Schnee.
ETH-Ingenieur Martin Schneebeli hat den einzigen Snowmaker-Apparat Europas konstruiert. Sein Team arbeitet selbst im Winter meist mit dem Laborschnee. «Biologen führen ihre Testreihen mit genetisch identischen Mäusen durch. Wir mit strukturell identischen Schneekristallen.»
Die extradick besohlten Isolierstiefel hat Schneebeli im warmen Korridor gelassen. Schliesslich bleibt er nur ganz kurz im winterlichen Labor. Er besucht Carolin Willibald. Die Physikerin, eingepackt in einen Daunen-Overallanzug, schöpft selbstgezüchtete Schneekristalle aus einer Styroporkiste und lässt sie durch ein Sieb rieseln. «Projekt: SnowDEM» steht auf der orangen Etikette. Das Kürzel ihrer Doktorarbeit über die mechanischen Eigenschaften von Schnee. Bis zu drei Stunden am Stück verbringt die Schneeforscherin dafür im Kältelabor. «Im Sommer ist die Laborarbeit anstrengender, weil der Temperaturunterschied zu draussen grösser ist», sagt die 29-Jährige.
Der Weg zum unterirdischen Labor in Davos führt über den Innenhof des Instituts, vorbei an blühendem Thymian. Weisse Geländewagen warten auf den nächsten Einsatz. Die Tür zum Kältetrakt ist mit einem Code gesichert. Dahinter ist es 45 Grad kälter als draussen.
In der Kälte des Schneelabors taut Schneebeli so richtig auf. Schmunzelnd erzählt der Leiter der Forschungsgruppe Schneephysik, dass seine erste Schneemaschine aus Sperrholz nach einer Weile zusammenbrach. «Gebaut habe ich sie vor 15 Jahren mit zwei Lehrlingen, gemäss einem Bericht über eine ähnliche Anlage in Japan.»
Die zweite Schneekristallanlage war dann aber so perfekt, dass die Montana State University in den USA den Davoser Snowmaker nachgebaut hat. Der Schnee aus der Maschine habe nichts mit Kunstschnee aus Schneekanonen gemein. Das seien bloss gefrorene Wassertropfen.
«Nur wenige Schneekristalle, die vom Himmel fallen, haben eine perfekte Form», sagt Schneebeli. Über 90 Prozent werden während des Flugs beschädigt. «Im Prinzip sieht jeder Kristall anders aus.» Je nach Feuchtigkeit und Temperatur entstehen in den Wolken Plättchen, Nadeln, Säulen oder Sterne. «Der Witz an der Maschine ist, dass man die unterschiedlichen Temperaturen in einer Schneewolke nachmachen kann», sagt Schneebeli. So könne man bestimmte Kristallsorten in der gewünschten Menge produzieren.
Seit 25 Jahren forscht der 59-Jährige am Davoser Institut. Bereits als Lawinensoldat habe er sich mit dem Hauptmann gestritten, ob der Schnee kantig oder rundkörnig sei. Heute ist Schneebelis Gespür für Schnee nahezu untrüglich: «Ich sehe einem ausgesägten Schneeblock an, ob er aus dem Engadin, den Zentralalpen oder der Antarktis stammt. Meistens stimmt mein Befund», sagt der Forscher, der bereits am Nord- und am Südpol unterwegs war. Seine Erkenntnisse über das Verhalten des Schnees helfen, den Schneedeckenaufbau und Lawinen besser zu verstehen. Das kann Lawinenforschern oder Bergführern dienen.
Doktorandin Carolin Willibald etwa interessiert sich für die mechanische Beschaffenheit von Schnee. «Ich baue Schneekristalle nach Rezept», erklärt sie. Das Schneeflockengerät bläst dazu kalte Luft über warmes Wasser. Die feuchte Luft steigt auf und kühlt ab. Die Tröpfchen kristallisieren an den Nylonfäden, die im Aluminiumkasten gespannt sind. Die Laborkristalle mehren sich stetig, bis eine automatische Bürste sie abstreift. Die weisse Pracht fällt in eine Plastikkiste, aus der sich Carolin Willibald bedient.
Infografik
Den geernteten Schnee füllt sie in eine Box mit integrierter Heizplatte, die den Erdboden simuliert. Dann wärmt sie ihn von unten bis zu zwei Wochen lang auf minus drei Grad, während die Luft darüber minus 22 Grad kalt bleibt. Durch die Erwärmung verändern sich die Schneekristalle. «Genau das passiert auch in der Natur draussen», sagt Carolin Willibald.
Ihre Faszination für Schnee hat die Süddeutsche vor einem Jahr von Freiburg nach Davos verschlagen. Sie staunt noch immer über die Vielfalt der Schneekristalle. «Wie kommt die Natur dazu, solch perfekte Formen zu machen?»
Für ihre Doktorarbeit überprüft Carolin Willibald, unter welchen Bedingungen die Schneedecke sich wie stark verbindet und wie sie auf Belastung reagiert. Die Resultate notiert sie mit Bleistift. «Kugelschreiber funktionieren bei minus 22 Grad nicht.» Parallel dazu untersucht sie die Kristalle im Computertomografen. Dieser fertigt 3-D-Bilder der Mikrostrukturen an.
Willibalds Erkenntnisse fliessen in ein Computermodell. Vielleicht wird es dereinst Lawinenexperten, Klimaforschern oder Winterpneuherstellern von Nutzen sein. In drei Jahren sollte die Wissenschaftlerin ihre Doktorarbeit fertig haben. Was auf die Schneekristallzucht folgt, weiss Carolin Willibald noch nicht.