«Neun von zehn gehören vermutlich verboten»
Dieselwagen stossen weit mehr Dreck aus, als die Hersteller vorgaukeln. Doch das Bundesamt für Strassen bleibt passiv.
Veröffentlicht am 14. Februar 2017 - 10:04 Uhr
Als im Herbst 2015 aufflog, dass VW viel zu niedrige Stickoxidwerte für Dieselfahrzeuge auswies, reagierte das Bundesamt für Strassen (Astra) prompt. Es verhängte einen temporären Zulassungsstopp für die entsprechenden Modelle. Seither ist aber nach und nach bekannt geworden, dass praktisch alle Dieselfahrzeuge nur auf dem Laborprüfstand die gesetzlichen Höchstwerte für Stickoxid einhalten, diese bei realen Fahrten aber zum Teil um ein Vielfaches überschreiten. Doch das Astra stellt sich taub, Zulassungsstopps gab es nicht mehr.
Dieselfahrzeuge sind mit einer Abgasreinigung ausgestattet, die unter normalen Betriebsbedingungen funktioniert. So sieht es das Gesetz vor. In der Praxis ist die Sache aber nicht ganz so klar. «Die Auslegung des Gesetzes durch die Autohersteller führt dazu, dass diese Abgasreinigung auch unter völlig normalen Umständen nicht mehr arbeitet. Dafür gibt es unzählige Beispiele», sagt Caroline Beglinger vom Verkehrsclub der Schweiz (VCS). «Bei den meisten davon ist die Software so programmiert, dass sich die Abgasreinigung unterhalb einer bestimmten Aussentemperatur selbständig ausschaltet.» Gedacht ist dieser Ausnahmemodus eigentlich für extreme Minustemperaturen – einige Hersteller frieren aber offenbar schon unerträglich, wenn es kälter wird als 19 Grad.
Die Liste der Tricks, die die Autobranche ausgeheckt hat, ist lang. Die Abgasreinigung eines Fiat-Modells schaltet sich nach 22 Minuten aus – der Test auf dem Prüfstand dauert standardisierte 20. Bei einem Opel besteht offenbar kein Bedarf an Abgasreinigung mehr, wenn sich das Fahrzeug in Lagen von mehr als 850 Metern über Meer bewegt. Oder: Nach einem Neustart läuft die Abgasreinigung nur noch reduziert. «Vermutlich kennen wir noch lange nicht alle Tricks», sagt VCS-Geschäftsleiterin Beglinger.
Es geht hier nicht um Schummeleien, sondern um krasse Verstösse. Als Spezialisten der Empa, der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt, neulich für die TV-Sendung «Rundschau» einen Renault Megane Diesel einem Abgastest auf der Strasse unterzogen, zeigte sich: Der Stickoxidwert war 16-mal höher als der offizielle Typenprüfwert. Der Renault Megane ist immerhin Auto des Jahres 2017.
«Vermutlich kennen wir noch lange nicht alle Tricks der Autohersteller.»
Caroline Beglinger, VCS
«Ein grosses Problem ist die schwammige, löchrige Gesetzeslage», sagt Christian Bach, Motorenforscher bei der Empa. Er vermutet, dass auch im Fall des Renault Megane die Abgasminderungsmassnahmen im Labor zwar eingeschaltet gewesen seien. Bei der realen Fahrt hätten sie sich aber wohl ausgeschaltet, weil die Software entsprechend programmiert ist. Bach sagt: «Es ist ein bisschen wie bei den Steuern: Wenn durch Ungenauigkeiten oder Gesetzeslücken Schlupflöcher vorhanden sind, kann man niemandem wirklich einen Vorwurf machen, wenn sie ausgenützt werden. Ich nehme an, das machen alle. Bei den einen weiss man es bereits, bei den anderen noch nicht.»
Caroline Beglinger vom VCS zeichnet ein düsteres Bild von den wirklichen Zuständen auf Schweizer Strassen: «Es gibt in Deutschland ähnliche Schadstoffmessungen. Dort haben 33 der 36 getesteten Dieselfahrzeuge beim realen Fahrtest die gesetzlichen Höchstwerte überschritten. Ich vermute deshalb, dass in der Schweiz neun von zehn Dieselwagen verboten gehörten. Für uns ist klar: Die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung müssen Vorrang haben vor den Interessen der Autoindustrie.»
Beim Astra hat man bis jetzt nichts unternommen, um die gesundheitsgefährdenden Dreckschleudern von der Strasse zu holen. Die konkreten Fragen, die der Beobachter schriftlich einreichte, blieben unbeantwortet. Die letzte Medienmitteilung des Astra zum Thema Abgasmessungen ist über ein Jahr alt. Welche Massnahmen wurden seither ergriffen? Wie reagiert das Astra auf die in der «Rundschau» gezeigten Abweichungen beim Renault Megane?
Das Astra antwortete nur ganz allgemein mit dem Verweis auf die EU-Regelung. «Das Astra ist aufgrund der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union verpflichtet, ausgestellte europäische Typengenehmigungen zu akzeptieren.» Will heissen: Was in der EU herumfahren kann, darf es auch bei uns.
Caroline Beglinger vom VCS widerspricht dieser Interpretation: «In den Bilateralen existiert ein Passus für genau diesen Fall: Wenn ein Fahrzeug trotz gültiger Typengenehmigung die Gesundheit oder die Umwelt ernsthaft gefährdet, hat die Schweiz sehr wohl genügend Spielraum, dessen Import zu stoppen.» Kuschen die Schweizer Behörden vor den grossen EU-Nationen mit Autoindustrie?
«Wer sich einen Neuwagen kauft, sollte beim Garagisten nach Gas- oder Elektroautos fragen.»
Christian Bach, Empa
Das Astra interpretiert das Gesetz sehr wörtlich. «Die aktuell geltenden Vorschriften sehen keine Grenzwerte bei Messungen auf der Strasse vor.» Diese Aussage kann Beglinger nicht nachvollziehen – «zumal zu Beginn des VW-Skandals ein Importstopp ja möglich war. Die Höchstwerte sind nicht dafür gemacht, die Laborluft rein zu halten, sondern sollen die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung schützen.»
Damit sich Autokäufer wenigstens einigermassen orientieren können, wie umwelt- und gesundheitsschädlich die einzelnen Autos sind, hat der VCS die Stickoxidwerte der Hersteller für die Diesel-Personenwagen auf seiner eigenen Auto-Umweltliste verfünffacht. Die Folge: In den oberen Rängen der empfehlenswerten Wagen finden sich für dieses Jahr keine Dieselfahrzeuge mehr. «Von Personenwagen mit Dieselmotoren raten wir im Moment grundsätzlich ab», sagt Caroline Beglinger. «Wenn möglich sollte man sich für ein Elektro- oder Gasfahrzeug entscheiden. Wenn sie mit Biogas oder Ökostrom betrieben werden, sind sie deutlich umweltfreundlicher als Benzin- und vor allem als Dieselautos.»
Für den Empa-Motorenforscher Christian Bach ist die Frage irrelevant, ob man eher einen Diesler oder einen Benziner kaufen soll. Seine Antwort: «Weder noch. Wer sich einen Neuwagen kauft, sollte beim Garagisten nach Gas- oder Elektroautos fragen.» Im Moment sind solche Autos noch relativ selten und etwas teurer. Bei Strassenmessungen der Empa haben Gasfahrzeuge sogar niedrigere Stickoxidwerte erreicht als im Labor. Je mehr Leute sich ein Auto kaufen, das mit erneuerbarer Energie fährt, desto besser wird automatisch die Infrastruktur dafür.
Damit sich auf dem Markt etwas bewegt, sei der Druck von der Basis sehr wichtig. «Wir können ein Forschungsprojekt nach dem anderen durchführen. Aber erst wenn viele Autoverkäufer ihren Chefs sagen, es hätten wieder Leute nach Gas- oder Elektromodellen gefragt, wird sich etwas ändern», sagt Bach.
Im September 2017 wird zwar ein neues Gesetz in Kraft treten, das europaweit präziser vorschreibt, unter welchen Bedingungen neue Personenwagen für die Zulassung getestet werden. Doch es gilt bis zum Herbst 2018 nicht für alle Autos, sondern nur für neue Modelle.
Bereits existierende Modelle werden also noch eine ganze Weile lang an den alten, völlig unzulänglichen Laborwerten gemessen und noch die nächsten zehn, zwölf Jahre Schäden an Mensch und Umwelt anrichten.
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