Die Miete bezahlt der Chef
Temporäre Wohnungen sind für die einen ein lukratives Geschäft, für andere bedeuten sie den Untergang des Quartierlebens. Doch wer lebt eigentlich in solchen sogenannten Business Apartments – und wie?
Veröffentlicht am 25. Oktober 2010 - 09:32 Uhr
Hohe Mieten ist man sich in Zürich ja gewöhnt. Aber gleich 3900 Franken für eine Dreieinhalbzimmerwohnung an dieser Lage? Das Haus steht direkt an der vierspurigen Hauptstrasse zur Autobahn, quietschendes Tram inklusive. Vor zwei Jahren wurde alles renoviert, doch die pastellgelb gestrichene Fassade wirkt bereits wieder schmuddelig. Gäbe es einen Garten, man hörte darin keine Vögel pfeifen, nur donnernden Lärm.
Trotzdem sind an der dem Namen nach so idyllisch klingenden Lerchenstrasse 23 alle zwölf Wohnungen belegt. Es ist auch kein gewöhnliches Haus, schräg gegenüber dem Einkaufstempel Sihlcity. Hier bleibt keiner lange. Es ist eine Unterkunft für Menschen auf dem Sprung. Die Miete bezahlt ihr Arbeitgeber. Sie leben hier nur ein paar Wochen oder Monate, bis sie etwas Besseres gefunden haben – oder bis sie für einen anderen Job an einen anderen Ort der Welt ziehen. Kündigungsfrist: 20 Tage. Bettwäsche und Handtücher werden wöchentlich gewechselt, die Putzfrau kommt, nur kochen muss jeder selber. Halb Hotel, halb Wohnung – an der Lerchenstrasse 23 lebt man in Business Apartments. Es ist eine Bleibe für moderne Nomaden: für Leute, die da sind und doch nicht so richtig hier.
Wer sind diese Menschen? Und wie leben sie? Grüsst man sich im Treppenhaus? Klingelt man vis-à-vis, wenn einem das Salz ausgeht? Oder geht man dem Nachbarn auf Zeit lieber aus dem Weg?
Lahti, Wisniewska, Huber: Die Namen an den Briefkästen lassen auf eine bunte Mischung schliessen. Einige Schilder sind auch bloss nummeriert. Wohnung Nummer 1, Nummer 2, Nummer 5, Nummer 8. «Es lohnt sich doch nicht, für die paar Monate ein Namensschild zu machen», sagt Peter Clark. Der kleingewachsene Schotte mit den funkelnden Augen, der bei Nummer 5 die Tür öffnet, ist seit April hier, ursprünglich nur für drei Monate. Doch dann wurden daraus sechs, später neun. Bis Ende Jahr wird der 33-Jährige als interner Revisor für eine schottische Bank in Zürich arbeiten. Was danach kommt, ist noch offen. «Ich lasse mich überraschen.»
Die Wohnung wirkt wie aus dem Prospekt: ein cremefarbenes Sofa, ein weisser Esstisch und vier farblich auf die Couch abgestimmte Stühle, die Küche in edlem Schwarz, das Bad weiss gekachelt, Kingsize-Bett und Spiegelschrank im Schlafzimmer. Sogar die Blumenbilder an den Wänden gehören zum Inventar. «Ich fühle mich zu Hause hier. Es ist besser als in einem Hotel», sagt Clark, während er durch die Räume führt.
Peter Clark ist ein Business-Nomade, wie man ihn sich vorstellt. Bevor er in die Schweiz kam, war er ein halbes Jahr in Irland, danach drei Monate in den Niederlanden, zuletzt vier Wochen in Deutschland. Irgendwie hält er es einfach nicht zu lange aus am selben Ort. Er liebe das Reisen, liebe es, ständig etwas Neues zu sehen, erklärt er. «Ich habe mir dieses Leben so ausgesucht, es ist grossartig.»
Clark spricht in kurzen Sätzen, schweift nicht ab, gerät nie ins Stocken. Begriffe wie Einsamkeit oder Heimweh klingen fremd in seinen Ohren. Er runzelt die Stirn, als hörte er sie zum ersten Mal. Dreimal pro Woche treffe er sich zum Fussballspielen mit Leuten, die er übers Internet kennengelernt habe. Einsam sei er jedenfalls nicht. Und für Sesshaftigkeit sei noch genügend Zeit, irgendwann, «wenn ich vielleicht einmal eine Familie gründe». Vorläufig ist das aber kein Thema. «Frauen? O nein, nein, das macht die Dinge nur kompliziert», sagt er lachend und verwirft die Hände. Und die Nachbarn? Lauter Unbekannte. «Seit ich hier bin, gibt es nur ein einziges Namensschild, das nicht gewechselt wurde», erklärt er.
TEMPORÄRE LÖSUNG SEIT ZWEI JAHREN
Es ist dasjenige von Martin Huber, Apartment Nummer 9. Ein stattlicher Mann mit sonorer Stimme, Schweizer, Autolackhändler, inzwischen pensioniert und vermutlich der Einzige im Haus, der die Miete aus dem eigenen Sack bezahlt. Auch sonst ist er nicht gerade das, was man sich unter einem Business-Nomaden vorstellt. Für Huber ist die Wohnung an der Lerchenstrasse zwar auch eine temporäre Lösung – allerdings schon seit bald zwei Jahren.
Man sieht es der Wohnung an. Es stehen hier zwar das gleiche Sofa, der gleiche Tisch, das gleiche Bett wie bei Peter Clark. Auch der Wandschmuck ist identisch. Doch bei Martin Huber gibt es ein paar persönliche Gegenstände. Pflanzen im Wohnzimmer, einen Kalender in der Küche und das Wichtigste: Ferdik, den weissen Zwerghasen in seinem Käfig im Schlafzimmer. «Ein zäher Kerli, schon 13-jährig», sagt Huber, nimmt das Tier auf den Arm und streichelt es. Auf Reisen innerhalb Europas komme Ferdik jeweils im Handgepäck mit. Klar, dass der Hase auch im «Providurium» an der Lerchenstrasse nicht fehlen darf.
Huber war der erste Apartment-Bewohner. Sieben Jahre lang hatte er mit seiner Frau und der ältesten Tochter an der Zürcher Goldküste gelebt – zur Miete bei einem Freund. «Doch dann meldete dieser Eigenbedarf an, von einem Tag auf den anderen.» Hubers, die sich darauf eingestellt hatten, den Rest ihres Lebens in jenem Haus zu verbringen, waren wie vor den Kopf gestossen. Auf die Schnelle fanden sie keine andere Wohnung. «Wissen Sie, die schönen Häuser sind alle in fester Hand», sagt er und schenkt sich am Küchentisch bedächtig ein Glas Rotwein ein.
Die Hubers stellten die Möbel ein, zogen ins Hotel. Er hatte nach der Scheidung von seiner ersten Frau schon einmal fünf Jahre in einem Hotelzimmer gehaust und kam mit der Situation halbwegs klar. Der Rest der Familie nicht. «Meine Frau hat dann ein Werbeplakat für diese Apartments gesehen, und wir machten uns gleich auf den Weg hierher.» Die Hubers trafen auf eine Baustelle, nur eine einzige Wohnung war schon fertig. Am nächsten Tag zogen sie ein.
GESCHÄFT MIT BUSINESS APARTEMENTS BOOMT
Die Kontakte zu den Nachbarn beschränken sich auf höfliches Grüssen – falls man sich überhaupt jemals sieht. «Aber ich kompensiere das fehlende Sozialleben, ich bin Stammgast im Sihlcity – in zwei Gehminuten bin ich mittendrin im Leben.»
Und wenn es ihm sonst an irgendetwas mangelt, reicht eine kurze Nachricht aufs Handy von Hausverwalter Joel Günsberg. Er hat das ganze Haus gemietet und vermietet die Apartments teurer weiter. Ein lukratives Geschäft – aber auch ein anstrengendes. Der Mann ist ein Getriebener, stets in Eile und pausenlos für seine Kundschaft auf Achse. Beim Sprechen verschluckt er halbe Worte. Alle paar Minuten klingelt sein Telefon oder erhält er eine SMS. Hier ein kaputtes Kabel, dort kein WC-Papier mehr, Probleme mit der Internetverbindung: Für seine Nomaden an der Lerchenstrasse ist der junge Geschäftsmann stets erreichbar. Und wenn es sein muss, lässt er für einen englischen Bewohner schon mal eine automatische britische Hosenpresse einfliegen. «Ich bin kein Verwalter, sondern ein persönlicher Dienstleister», sagt er. Der Service, die Möbel und die kurzen Kündigungsfristen, das müsse man alles einberechnen, rechtfertigt er den Mietzins.
Die Nachfrage nach Temporär-Behausungen ist gross. Business Apartments schiessen wie Pilze aus dem Boden, vorab in grösseren Städten wie Genf, Basel oder Bern, aber auch in Luzern und Zug und natürlich im Raum Zürich. Allein auf dem Zürcher Stadtgebiet gibt es Pläne für Hunderte neuer Apartments. Ausländische Firmen, die sich hier niedergelassen haben, fliegen für wichtige Projekte ihre eigenen Leute ein, Schweizer Firmen brauchen Spezialisten aus dem Ausland – Business Apartments sind eine Folge der Globalisierung. «Und der Bedarf wird noch steigen», sagt Urs Hausmann, Volkswirt bei der Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner. Statistiken existieren keine. Der Experte schätzt aber, dass zurzeit etwa drei Prozent aller Wohnungen in Zürich und zehn Prozent in Genf Business Apartments sind.
Genug jedenfalls, um Gegner auf den Plan zu rufen. In der ganzen Diskussion um die «Seefeldisierung», also die Verdrängung alteingesessener Quartierbewohner durch gutverdienende Zuwanderer, kommen Business Apartments besonders schlecht weg. Das Quartierleben, so ein Hauptargument der Kritiker, bleibe bei diesem stetigen Kommen und Gehen auf der Strecke. Eine Ansammlung von Yuppies statt einer echten, sozial durchmischten Gemeinschaft – das bekomme der Stadt nicht gut.
Mit solcher Kritik kann Joel Günsberg wenig anfangen. Früher, sagt er, habe man sich hier nachts nicht sicher fühlen können. Der Bau des Einkaufszentrums Sihlcity habe einen Investitionsschub ausgelöst. «Das ist doch eine positive Entwicklung.» Die Bewohner der Lerchenstrasse 23 bekommen davon nur Bruchstücke mit. Das Haus ist für die meisten bloss Durchgangsstation, eine Sprosse auf der Karriereleiter. Das gilt auch für die kleine Familie, die sich in Apartment Nummer 8 einquartiert hat. Jari Lahti und Assi Oikari aus Finnland, beide 33, sind mit ihrem elf Monate alten Sohn Marcus vor drei Wochen angekommen. Lahti, ein dienstfertiger Projektmanager, der die Schweiz von Ferien- und Geschäftsreisen kennt, wird die nächsten zwei Jahre in Zürich arbeiten. «Es war einfach eine tolle Gelegenheit», sagt er.
Natürlich hätten sie sich überlegt, ob sie als junge Familie die Heimat wirklich verlassen sollten. Doch ein günstigerer Zeitpunkt als jetzt hätte sich dafür wohl nicht mehr ergeben. Assi Oikari hat in Finnland bis zu drei Jahre nach der Geburt Anspruch auf ihre alte Stelle. Sie verbringt in der Schweiz ihre Mutterschaftspause. Doch obwohl sie den ganzen Tag mit Marcus allein ist und viel Zeit im Haus verbringt, kennt auch sie keinen ihrer temporären Nachbarn – weil man keinen antrifft. «Ich bin ja die Einzige, die tagsüber hier ist», meint sie schulterzuckend. Die finnische Kleinfamilie will ohnehin so schnell wie möglich ausziehen. An der Wohnung haben sie nichts auszusetzen, aber es sei halt schon eher wie im Hotel. «Wir suchen uns ein richtiges Zuhause.» Und so findet man in ihrem Übergangs-Apartment auch keine persönlichen Gegenstände, die die nüchterne Katalogatmosphäre etwas aufpeppen würden. Selbst Marcus Zimmer ist, abgesehen vom mitgebrachten Reisebettchen, so geblieben wie alle anderen im Haus.
Das Leben an der Lerchenstrasse 23 mag einem farblos und eintönig vorkommen. Die Lebensformen aber sind vielfältig. Im Erdgeschoss gibt es sogar so etwas wie eine Zwangs-WG. Hier teilen sich Andras Csoka, 42, und Mariana Damian, 47, Apartment Nummer 1. Er der gesetzt wirkende Kopfarbeiter, sie die Hausfrau mit Pfiff – fast könnte man denken, sie seien ein Paar.
Doch die beiden sind bloss Arbeitskollegen, Applikationsentwickler aus Transsilvanien, Rumänien. Sie arbeiten für vier Monate zusammen an einem Projekt in Zürich. Mit dem Teamkollegen unter einem Dach, kann man da überhaupt abschalten? Die beiden sehen es pragmatisch: «Ich bin nicht hier, um mich zu entspannen. Es ist Arbeit. Fertig», sagt sie. Und er nickt: «Urlaub machen wir später.»
Beide haben zu Hause in Rumänien Ehepartner und Kinder. Alle paar Jahre leben sie für einige Monate getrennt von ihren Liebsten, weil irgendwo auf der Welt ein Projekt wartet. «Das ist nicht immer einfach», sagt Mariana Damian. Und doch: «Wir wissen ja von vornherein, wie lange es dauert. Danach können wir zu unseren Familien zurück. Und bis dahin versuche ich möglichst viel zu profitieren.»
Abends nach der Arbeit klemmt sie sich hinter die Bücher und lernt Deutsch. Und am Wochenende gibt es im Haushalt Nummer 1 eine Regel: «Wir unternehmen etwas gemeinsam mit ihnen da drüben», sagt Andras Csoka und deutet mit dem Kopf in Richtung der gegenüberliegenden Wohnung.
Wer nun glaubt, die beiden hätten nachbarschaftliche Kontakte geknüpft, irrt sich. Vis-à-vis leben zwei weitere Arbeitskolleginnen. Und wenn sie am Samstagabend alle vier an einem der weissen Tische unter den Blumenbildern sitzen und eine Pizza essen, bilden sie eine vertraute rumänische Gemeinschaft. Andere Hausbewohner kennen sie nicht.
Wenn Nachbarschaft mehr ist, als bloss im selben Haus zu leben, so gibt es an der Lerchenstrasse 23 wohl keine. Dafür aber auch keinen Streit über im Treppenhaus deponiertes Altpapier und vergessene Wäsche an der Leine.
4 Kommentare