Eigentlich würde Tontechniker Martin Kündig jetzt an Grossanlässen für den guten Ton sorgen. Wenn die Covid-Krise nicht den Lockdown und damit die Absage sämtlicher Veranstaltungen erzwungen hätte. Seit über einer Woche hat der 35-Jährige keine Aufträge – und damit auch kein Einkommen mehr.
Normalerweise verdient er im Schnitt 6000 Franken pro Monat, ernährt damit seine vierköpfige Familie in Pfaffhausen ZH. Um sich über Wasser zu halten, begann Martin Kündig letzte Woche damit, sein altes Equipment zu verkaufen. «Den Bio-Schinken im Laden lasse ich jetzt auch weg. Ich weiss ja nicht, wie lange diese Krise anhält.» Er weiss nur, dass sie ein riesiges Loch in die Kasse frisst.
Die vorerst 10 Milliarden Franken Soforthilfe, die der Bundesrat bereitstellt, erreichen Menschen wie Martin Kündig nicht. Selbständige, Freischaffende, Einzelbetriebe und Angestellte mit befristeten Verträgen haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigungen und fallen deshalb durch die Maschen. Fotografen, Künstlerinnen, Clubbesitzer und Musikerinnen, aber auch Coiffeure, Grafikerinnen, Beizer, Sexarbeiterinnen und Ladenbesitzer – sie alle stehen wegen der Covid-Krise auf einmal vor dem Nichts.
Das trifft viele. Jeder achte Schweizer Erwerbstätige ist selbständig, jeder zwölfte in einem befristeten Arbeitsverhältnis beschäftigt. Damit sind bis zu einer Million Menschen, der Krise schutzlos ausgeliefert. Manche Betroffene könnten unter Umständen Lohnfortzahlung fordern, sagt Beobachter-Rechtsexpertin Gitta Limacher. Dazu gebe es widersprüchliche Expertenmeinungen und Urteile: «Die Situation ist komplex und die Rechtslage unklar», sagt Limacher. Auf eine juristische Klärung können die Betroffenen aber nicht warten. Das hat inzwischen auch der Bundesrat erkannt und will bald über weitere Massnahmen informieren.
Bei Martin Kündig und seiner Familie geht es jetzt ans Ersparte. «Wir können bei unseren normalen Ausgaben noch zweieinhalb bis drei Monate überleben», sagt er. Noch ist er relativ gelassen, weil er davon ausgeht, dass bald Hilfe kommt. «Aber egal, wie lange der Lockdown dauert: Die Folgen des Notstandentscheids werde ich bis im Sommer und darüber hinaus spüren.»
Das wollen immer mehr Menschen ändern. Online laufen seit ein paar Tagen verschiedene Petitionen, die ein Grundeinkommen fordern. Sie haben immensen Zuspruch: Allein auf der Kampagnenplattform change.org kamen in den ersten 48 Stunden 27’000 Unterschriften zusammen.
Gestartet hat diese Petition Erwin Fässler. «Es war ein Bauchentscheid, kurz vor Mitternacht», sagt der 60-Jährige. Er selbst sei von der Krise betroffen, sagt der selbständige Reiseanbieter. Aber seine Frau erziele nach wie vor ein kleines Einkommen, und sie lebten bescheiden. Für vier bis sechs Monate reiche das Ersparte – «aber nur für Strom, Krankenkasse und Miete».
Bis jetzt haben bereits über 50’000 Personen Fässlers Forderung nach einem Grundeinkommen «für die nächsten sechs Monate» unterzeichnet. «Bedingungslos» würde er mittlerweile nicht mehr schreiben. Die Unterstützung soll ja nur jenen zugutekommen, die wirklich von der Krise schwer getroffen sind.
Fässler ist von der grossen Resonanz überwältigt. Auf seinen Social-Media-Profilen erhält er laufend Lob und positive Rückmeldung, teilweise aber auch kritische Kommentare. «Es ist offensichtlich, das Thema bewegt die Menschen.» Genau diese Diskussion habe er anstossen wollen. Denn: «Solidarität ist nicht politisch, sondern menschlich.» Deshalb fordere er auch keinen bestimmten Betrag, aber ausdrücklich ein auf sechs Monate «befristetes» Grundeinkommen – in Abgrenzung zur Initiative, die vor ein paar Jahren sehr deutlich abgelehnt worden war, mit fast 77 Prozent Nein-Stimmen.
Gemäss der gescheiterten Volksinitiative hätten Volljährige 2500 Franken erhalten sollen, Kinder 625 Franken. Das Grundeinkommen hätte damit jährlich rund 200 Milliarden Franken gekostet. Nur 23,1 Prozent Ja-Stimmen gab es landesweit; in Basel-Stadt, quasi dem Heimatkanton der Initiative, waren es immerhin 36 Prozent.
Viele bekämen in diesen Tagen deutlich vor Augen geführt, dass Erwerbsarbeit nicht nur eine Frage der Leistungsbereitschaft sei, sagt Ondine Riesen vom Verein Dein Grundeinkommen. «Die Krise trifft nun auch viele Menschen, die mit der Idee des Grundeinkommens bisher nicht viel anfangen konnten.» Damit werde die sonst vor allem im linksintellektuellen Milieu verhandelte Utopie plötzlich zum breit diskutierten Lösungsansatz. Riesen und ihre Mitstreiter beobachten diese Dynamik mit regem Interesse. Sie haben derweil ein Crowdfunding für ein spendenfinanziertes «Überbrückungseinkommen» lanciert. Nicht der Staat, sondern die solidarische Gemeinschaft soll einspringen. Wer aufgrund der Krise in Not gerät und keine andere Hilfe bekommt, kann unter together-now.ch einen Unterstützungsantrag stellen. Über diesen entscheidet das «unabhängige Kollektiv», ein Gremium der Macher.
Das bedingungslose Grundeinkommen linker Prägung will die Menschen eigentlich vom Zwang der Erwerbsarbeit zu befreien. Eines der bodenständigeren Argumente war aber stets, dass damit all die komplizierten Anspruchs- und Bedarfsabklärungen hinfällig würden – und bei der Krisenbewältigung ist unkompliziert plötzlich Trumpf. Auch konservative Regierungen wie in den USA und Japan planen jetzt, die gröbsten Löcher in ihren Sozialsystemen zu stopfen. Sie wollen mit Helikoptergeld allen Bürgerinnen und Bürgern Checks ausstellen. Trump, ganz Wahlkämpfer, will allen Amerikanern 1000 Dollar schenken.
Aber liesse sich ein Grundeinkommen in der Schweiz überhaupt so schnell einführen? Gemäss Bundesverfassung wären «wichtige rechtsetzende Bestimmungen» in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen – also vom Parlament mit fakultativer Beteiligung des Volks. Die Covid-Krise lähmt nun auch das Parlament, die Frühlingssession wurde abgebrochen.
«Liegt eine schwere Bedrohung vor und die Lage verbietet es, auf das Parlament zu warten, kann der Bundesrat gestützt auf Notrecht selbständig handeln», sagt Eva Maria Belser, Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Freiburg. «Mit anderen Worten: Grundsätzlich ist im Moment fast alles möglich, was der Bewältigung der Krise dient und die Verfassung nicht verletzt.» Der Bundesrat könnte damit sofort das Grundeinkommen durch eine befristete Notverordnung einführen. Sobald die Bundesversammlung wieder zusammentritt, könnte sie die bundesrätlichen Entscheide übernehmen, korrigieren oder aufheben.
Ein Grundeinkommen für wirtschaftlich schwerst Betroffene sei in der aktuellen Situation sinnvoll, sagt der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney, der schon länger Sympathien für die Idee des Grundeinkommens hat. Nicht zuletzt unter einem epidemiologischen Blickwinkel sei das bedenkenswert: «Finanzielle Sicherheit würde den Leuten eher die Möglichkeit geben, wirklich zu Hause zu bleiben.» Es reiche aber nicht, nur die einzelne Menschen zu unterstützen. «Es braucht eine zweite Dimension: die Unterstützung von KMU.»
Die bisher vom Bundesrat getroffenen Massnahmen seien gut, aber sie reichten noch nicht aus. Kleinere Unternehmer, die zum Beispiel die Miete für Geschäftsräumlichkeiten weitertragen müssen, müssten dabei ebenfalls unterstützt werden, sagt Chesney: «Die Nationalbank sollte deshalb ein entsprechendes Programm formulieren.»
2 Kommentare
Jetzt wäre ein wirklich idealer Zeitpunkt (oder noch besser sobald wir wirtschaftlich wieder aktiv werden) mit diesem Grundeinkommen ein Experiment durchzuführen...gerade da brauchen die Jungunternehmer besonders dringend finanzielle Hilfsmittel.
Als Besitzer eines 1 Mann Unternehmens muss ich zwar ALV bezahlen, darf aber keine Kurzarbeit anmelden. Und wenn mich die Notmassnahmen in die Insolvenz treiben, bin ich ebenfalls nicht berechtigt, Arbeitlosenunterstützung zu beziehen. Diese Ungerechtigkeit sollte dringend aufgehoben werden.