Der Staat will das Porto nicht bezahlen
Laut einer Studie würden vorfrankierte Abstimmungscouverts die Stimmbeteiligung erhöhen. Doch der Ständerat versenkt eine entsprechende Motion von SVP-Nationalrätin Estermann.
Veröffentlicht am 5. März 2018 - 15:45 Uhr,
aktualisiert am 5. März 2018 - 11:22 Uhr
Wenn Herr und Frau Schweizer viermal im Jahr dazu aufgerufen werden, ihre Stimme an der Urne kundzutun, dann kostet das nichts. Wenn man denn tatsächlich sein Couvert in die Urne oder den Gemeindebriefkasten wirft. Dabei gehört man allerdings zu einer vom Aussterben bedrohten Spezies, denn seit der Einführung der brieflichen Abstimmung 1994 erfreut sich diese rasant wachsender Beliebtheit.
Bei einer Erhebung der Bundeskanzlei in 2394 Gemeinden, anlässlich der eidgenössischen Volksabstimmung vom 27. November 2005, wählten schon 81,5 Prozent aller Stimmenden den bequemeren postalischen Weg. Neuere nationale Erhebungen gibt es nicht, die Zahlen einzelner Kantone bestätigen jedoch den Trend. Am Abstimmungssonntag vom 24. September 2017 waren es beispielsweise in Basel-Stadt über 92 % und in Uri beinahe 94 %, die per Brief abstimmten.
Gleichzeitig ist die Stimmbeteiligung im 20. Jahrhundert stetig gesunken trotz Einführung der brieflichen Abstimmung. Gemäss Bundesamt für Statistik BFS hat sich der Abwärtstrend im 21. Jahrhundert allerdings nicht weiter fortgesetzt – die Stimmbeteiligung stieg sogar wieder leicht an.
Dennoch nutzt durchschnittlich weniger als die Hälfte der Stimmbevölkerung ihr demokratisches Mitspracherecht, was regelmässig zu Debatten über die Legitimität politischer Entscheide mit geringer Volksbeteiligung führt. Dagegen gibt es unterschiedliche Strategien: Im Kanton Schaffhausen herrscht zum Beispiel Stimmzwang, und wer nicht teilnimmt, muss 6 Franken Busse bezahlen. Mit Erfolg: die Beteiligung ist mit durchschnittlich 60 % die höchste im Lande.
Ein anderer Ansatz ist, möglichst alle Hürden für die Stimmenden zu beseitigen. Im Zeitalter der brieflichen Abstimmung heisst das, kostenlose Rücksendung. Dabei stellt nicht so sehr der Preis einer einzelnen Briefmarke die Hürde dar, sondern der Zusatzaufwand, eine besorgen zu müssen.
Was viele nicht wissen: beim Porto für Abstimmungscouverts herrscht föderalistischer Wildwuchs. Die Kantone können frei darüber entscheiden, ob sie die Rücksendungen vorfrankieren möchten.
Rund ein Drittel der Kantone übernimmt das Porto: Aargau, Appenzell Innerrhoden, Basel Stadt, Genf, Glarus, Obwalden, St. Gallen, Zug und Zürich.
In weiteren zehn Kantonen müssen die Stimmenden selbst eine Briefmarke beisteuern und sieben Kantone (u.a. Bern und Luzern) überlassen es den Gemeinden zu entscheiden, ob dieser Service von der Verwaltung finanziert wird.
Mit dem Ergebnis, dass selbst die Bundeskanzlei keine Übersicht darüber hat, was für Regeln in den Gemeinden und Kantonen gelten.
Immer wieder fordern Politiker verschiedenster Parteien, die Porto-Hürde abzubauen, wie beispielsweise die Grünen Stadt Luzern nach einer historisch tiefen Wahlbeteiligung 2015. Oft scheiterten solche Forderungen an Sparzwängen oder schlicht daran, dass kein Beleg für eine höhere Teilnahme an Abstimmungen mit vorfrankierten Couverts existierte. Die 85 Rappen könne man den Stimmbürgern noch zumuten, so der Tenor.
Hartnäckig versuchte auch SVP-Nationalrätin Yvette Estermann, die schweizweite Finanzierung der Abstimmungs-Porti im Parlament durchzubringen. Nachdem sie 2013 mit einer ersten Interpellation beim Bundesrat und Nationalrat abblitzte, reichte sie vor wenigen Monaten erneut eine Motion ein. Diesmal mit einem Trumpf im Ärmel: Eine im September 2017 publizierte Studie von Forschern der Universität Fribourg belegt eine steigende Stimmbeteiligung in Gemeinden, die für die Rücksendung der Couverts aufkommt, und zwar um signifikante 2 Prozentpunkte. Dies könnte sich bei sehr knappen Abstimmungsergebnissen als entscheidend erweisen.
Auch wem eine höhere Partizipation nützen würde, konnten die Ökonomen belegen: entgegen bisherigen Annahmen wären nicht linksgrüne Parteien die Profiteure, sondern die Bürgerlichen (NZZ berichtete).
Der Bundesrat winkte indes in seiner Stellungnahme ab und verwies darauf, dass die Einführung von E-Voting Priorität habe. Rund 1 Million Franken würde es den Bund pro Abstimmung kosten, wenn allen Stimmbürgern das Porto erlassen würde, schrieb Estermann und fragte provokativ: «Sollte es dem Bundesrat nicht wert sein, dass 2 Prozent mehr Stimmberechtigte ihre politischen Rechte wahrnehmen und damit auch den Bundesrat in seiner Arbeit unterstützen?» Der Nationalrat beschloss in der Frühlingssession 2018 entgegen der Empfehlung des Bundesrats, die Motion anzunehmen. Ein erster Erfolg für die SVP-Politikerin. Dieser währte allerdings nur wenige Monate, denn bereits am 12. Juni versenkte nun der Ständerat das Begehren mit 29 zu 10 Stimmen wieder. Damit ist die Motion vom Tisch. Begründung: über die Finanzierung der Portos bei brieflicher Abstimmung hätten die Kantone zu befinden, das liege in deren Zuständigkeit.
Derweil gibt es für Knausrige oder Vergessliche ein Schlupfloch: «Unfrankierte Abstimmungskuverts werden von der Post wie andere unfrankierte Briefe den Gemeinden zugestellt (B-Post). Ein nicht oder nicht genügend frankiertes Abstimmungskuvert ist kein gesetzlicher Ungültigkeitsgrund», erklärt Pascale von Roll, stellvertretende Staatsschreiberin der Staatskanzlei Solothurn.
Theoretisch könne die Gemeinde die Absender nachträglich zur Kasse bitten. Allerdings sei das zu aufwändig und die «Verpflichtung zur Wahrung des Stimmgeheimnisses» verunmögliche eine Weiterverrechnung.