Erleichterte Einbürgerung – doch nicht so leicht
Drei Jahre nach dem Volks-Ja zur erleichterten Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation zeigen sich in der Praxis einige Stolpersteine. Jetzt soll nachgebessert werden.
Veröffentlicht am 9. April 2020 - 08:09 Uhr,
aktualisiert am 18. Juni 2020 - 10:03 Uhr
Sie leben seit Generationen in der Schweiz, sind bestens integriert, sprechen die Landessprache fliessend. Sie sind einheimisch, aber ohne roten Pass. Junge Ausländerinnen und Ausländer dritter Generation sollen deshalb erleichtert eingebürgert werden, das beschlossen Herr und Frau Schweizer mit 60 Prozent Zustimmung im Februar 2017 an der Urne.
In der Zwischenzeit hat sich gezeigt: «Erleichtert» ist in der Praxis gar nicht so leicht. Zumindest für einige nicht. Besonders der Nachweis über die teils weit zurückliegende Schulzeit der Eltern erweist sich als Stolperstein.
Der 28-Jährige Enes Turan* zum Beispiel ist Türke, hier geboren und hat sein ganzes Leben in der Nordwestschweiz verbracht. «Ich kenne die Türkei nur aus den Ferien, habe kaum noch Verwandte dort und kann auch die Sprache nicht sonderlich gut. Meine Heimat ist klar hier. Ich fühle mich als Schweizer und möchte auch auf dem Papier Schweizer werden», erzählt er. Sein Grossvater war 1970 als Schuhmacher hierher geholt worden, 1974 folgten die Grossmutter und der in Istanbul geborene Vater. Sein Vater spricht mehrere Landessprachen fliessend, ging hier zur Schule, machte mehrere Ausbildungen, gründete eine Familie. In dessen Jugend hätten sie die ordentliche Einbürgerung
zwar bereits machen wollen, sich aber damals wegen der hohen Kosten und dem knappen Budget dagegen entschieden.
Das neue Gesetz, dass nun der dritten Generation die Einbürgerung erleichtern soll, gilt grundsätzlich für junge Ausländerinnen und Ausländer unter 26 Jahren. Es gibt aber eine Übergangsregelung für Personen, die bei Inkrafttreten des Gesetzes zwischen 26 und 35 Jahre alt waren. Sie können während fünf Jahren ebenfalls ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung einreichen.
Diese Chance wollten sich Turan und seine Schwestern, die alle von der Übergangsregelung betroffen sind, nicht entgehen lassen und begannen sogleich, mit Unterstützung ihres Vaters die dafür nötigen Dokumente zu sammeln.
In der Schweiz gibt es zwei Arten von Einbürgerungen: die ordentliche und die erleichterte. Bei der ordentlichen sind die Gemeinden und Kantone zuständig, bei der erleichterten direkt der Bund. Das soll die Verfahren einfacher, kürzer und billiger machen. Die Integrationskriterien sind aber dieselben wie bei der ordentlichen Einbürgerung.
Will jemand mit dem vereinfachten Verfahren für die dritte Generation eingebürgert werden, müssen unter anderem folgende Kriterien erfüllt sein:
- Mindestens ein Grosselternteil muss in der Schweiz geboren sein oder nachweislich ein Aufenthaltsrecht erworben haben.
- Mindestens ein Elternteil muss eine Niederlassungsbewilligung haben, sich mindestens zehn Jahre in der Schweiz aufgehalten und mindestens fünf Jahre hier die obligatorische Schule besucht haben.
- Sie selber müssen eine Niederlassungsbewilligung haben. Sie müssen in der Schweiz geboren worden sein und mindestens fünf Jahre die obligatorische Schule besucht haben. Sie müssen erfolgreich integriert sein, sprich eine Landessprache sprechen, arbeiten oder eine Ausbildung machen. Sie müssen die Gesetze einhalten und in den letzten drei Jahren keine Sozialhilfe bezogen oder sie vollständig zurückbezahlt haben.
Enes Turan trieb die Dokumente bei den verschiedenen Behörden auf, liess von Originaldokumenten seiner Grosseltern und Eltern Übersetzungen anfertigen. Etwa nach einem Jahr hatte er fast alles beisammen. Doch eine Hürde liess sich nicht so leicht überwinden: der Nachweis über die Schulzeit seines Vaters.
Dieser ging just in der Zeit in die Schule, als die Dauer der obligatorischen Schulzeit von acht auf neun Jahre verlängert wurde. Wegen dieser Übergangszeit musste er im letzten Jahr in der Nachbarsgemeinde die Schulbank drücken. Für vier Jahre besuchte Schulzeit konnte Turan die Bestätigung auftreiben, doch das Schulhaus der Nachbarsgemeinde hatte die Schulchronik des betreffenden Jahres Ende der 70er Jahre bereits entsorgt. «Die Unterlagen eines Schulaufenthaltes müssen in der Regel 10 Jahre aufbewahrt werden», hiess es im Brief der Schulverwaltung. Der 28-Jährige war ratlos – wie sollte er jetzt die fünf Jahre nachweisen? Für die späteren Berufsausbildungen seines Vaters hatte er alle Dokumente, doch die zählen nicht.
Er wandte sich an die Behörden, die ihm mitteilten, er könne auch eine Wohnsitzbestätigung seines Vaters für das entsprechende Schuljahr als Beleg einreichen. Nach einer Weile hatte die Gemeinde dieses Dokument im Archiv hervorgegraben. Nun haben Enes Turan und seine Schwestern alles Nötige eingereicht und hoffen auf baldigen Bescheid des zuständigen Staatssekretariats für Migration SEM. Dass sie nur schon fürs Sammeln und Einreichen der Dokumente rund eineinhalb Jahre brauchten, das Verfahren trotzdem noch lange nicht abgeschlossen ist und die Kommunikation mit dem SEM sich sehr umständlich gezeigt habe, frustriert Turan. Das sei doch keine erleichterte Einbürgerung, wenn es praktisch gleich lang oder sogar noch länger gehe als bei einer ordentlichen. Trotzdem beweist er Galgenhumor und sagt mit einem Augenzwinkern: «Es ist eigentlich noch erstaunlich, dass wir 40 Jahre später überhaupt vier Jahre Schulzeit für meinen Vater nachweisen konnten!»
Enes Turan ist nicht alleine mit diesem Problem. Die Waadtländer SP-Nationalrätin Ada Marra hatte einst das Thema in den Rat gebracht. Sie erzählt, dass sie viele E-Mails von einbürgerungswilligen jungen Menschen bekommt, die über dieselben Schwierigkeiten stolpern. «Einige sagen mir sogar, die ordentliche Einbürgerung sei einfacher zu machen als die erleichterte. Das kann es doch nicht sein, das entspricht nicht dem Volkswillen.» Zudem hätten viele Kinder der zweiten Generation zeitweise vor den Behörden versteckt werden müssen, weil Familiennachzug für Gastarbeiter jahrzehntelang verboten war. Das führe ebenfalls zu Problemen, die obligatorische Schulzeit nachzuweisen.
Im ersten Jahr nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurden 309 Personen zu neuen Schweizerinnen und Schweizern. Mit dieser Bilanz war die Eidgenössische Migrationskommission EKM nicht zufrieden, wie sie in einer Studie im Frühling 2019 ausführte. Im Vorfeld der Abstimmung hatte eine Schätzung gezeigt, dass rund 25'000 junge Ausländerinnen und Ausländer der dritten Generation von der neuen Bestimmung betroffen wären. Rund 3000 hätten im ersten Jahr auch ein deutliches Interesse an einer Einbürgerung signalisiert, 1065 Personen stellten konkret ein Gesuch.
Der Nachweis, dass Eltern fünf Jahre die obligatorische Schule besucht haben, stelle sich als Stolperstein heraus. «Diese Anforderung steht im Widerspruch zur damaligen Einwanderungsrealität der Grosseltern», schrieb die Kommission. Viele Grosseltern der dritten Ausländergeneration hätten während Jahren als Saisonniers in der Schweiz gearbeitet und der Familiennachzug sei erst möglich gewesen, nachdem die Saisonbewilligung in eine Aufenthaltsbewilligung umgewandelt worden war. Das hatte zur Folge, dass die Eltern der dritten Generation erst als Jugendliche in die Schweiz kamen und nur noch wenige Jahre die obligatorische Schule besuchten, danach jedoch eine Berufsausbildung machten.
Die EKM empfahl deshalb vor einem Jahr, «die Berufsbildung bei den Eltern als Nachweis der Integration ebenfalls zu berücksichtigen und die entsprechenden Gesetzesbestimmungen anzupassen». Eine Änderung des Gesetzes nach so kurzer Zeit? In der «NZZ» erzählte EKM-Präsident Walter Leimgruber, wieso er das für angebracht hält: «Wenn die erleichterte Einbürgerung so klar an einem Kriterium scheitert, das im Vorfeld zu wenig durchdacht worden ist, muss man in der Lage sein, dies ohne grossen Aufwand zu korrigieren.»
Das Staatssekretariat für Migration SEM unterstützte laut NZZ die Empfehlungen des EKM nicht und möchte heute dazu keine Stellung nehmen, weil es als Verwaltungsbehörde lediglich das bestehende Recht anwende. Findet aber: «Das Verfahren hat sich gut bewährt und ist praxistauglich. Die Beschaffung der notwendigen Unterlagen ist für die Einbürgerungswilligen mit ein wenig Aufwand verbunden, gestaltet sich aber in den meisten Fällen problemlos.» Inwieweit die Bestätigung der Schulpflicht eingefordert werde, liege im Ermessen des SEM, sagt Reto Kormann, stellvertretender Leiter Information und Kommunikation. Es sei denkbar, mit Bestätigungen der Schulbehörden über fehlende Register einen alternativen Weg zu finden. Es lasse sich auch wegen des Schulobligatoriums herleiten, dass die Eltern tatsächlich die Schule besucht hatten. Andernfalls wäre wohl die Schulbehörde eingeschritten, sagt Kormann.
Im Vergleich zum ersten Jahr ist die Einbürgerung für Personen der dritten Generation markant gestiegen, berichtet Kormann. Im Jahr 2019 seien es rund 800 gewesen. Ein Grund für den Anstieg sei, dass nicht der Zeitpunkt des Gesuchseingangs in die Statistik einfliesse, sondern jener des rechtskräftig erfolgten Einbürgerungsentscheids. Also wurden etwa solche im Jahr 2019 gezählt, die 2018 zwar ein Gesuch gestellt hatten, aber erst 2019 den Prozess abschlossen.
Die Forderung der vom Bundesrat eingesetzten Eidgenössischen Migrationskommission EKM blieb vorerst von Politik und Verwaltung unbeachtet. Präsident Walter Leimgruber sagte im Februar 2020: «Ich bedaure sehr, dass sich in dieser Frage weiterhin nichts bewegt.»
Jetzt tut sich aber doch etwas in Bundesbern: Nebst SP-Politikerin Ada Marra hat auch FDP-Nationalrat Kurt Fluri den Handlungsbedarf erkannt. Sie haben beide in der Sommersession eine Interpellation eingereicht – mit Mitunterzeichnern aus fast allen Parteien (Interpellation Kurt Fluri / Ada Marra). Damit verlangen sie vom Bundesrat Auskunft zu den Problemen bei der erleichterten Einbürgerung der dritten Generation. «Offenbar ist es so, dass die Beweisführung, dass der Grossvater oder die Grossmutter in der Schweiz ein Aufenthaltsrecht hatte und ein Elternteil die nötige obligatorische Schulzeit absolviert hat, schwierig ist», sagt Fluri. Deshalb habe das Parlament ja explizit im Gesetz festgehalten, dass man das Aufenthaltsrecht «glaubhaft» machen und nicht zwingend alle hieb- und stichfesten Beweise vorlegen müsse. «In der Praxis kann man das strenger oder lockerer auslegen, ich möchte deshalb vom Bundesrat wissen, wie man die Situation verbessern kann, ohne dass dafür gleich eine Verfassungsänderung nötig würde.»
- Staatsangehörige aus insgesamt 33 Ländern beantragten im ersten Jahr die erleichterte Einbürgerung. Rund 80 Prozent der Gesuche stammten von Menschen aus Italien, der Türkei, dem Kosovo und Spanien.
- Im ersten Jahr erhielten 309 junge Ausländerinnen und Ausländer den roten Pass, 59,9 Prozent waren italienische Staatsangehörige, 14,2 Prozent Türken, 7,1 Prozent Spanier und 4,5 Prozent Kosovaren.
- Aus sechs Kantonen kamen im ersten Jahr der neuen erleichterten Einbürgerung überdurchschnittlich viele Gesuche: Zwei Drittel stammten aus den Kantonen Aargau, Solothurn, Thurgau, Basel-Land, St. Gallen und Bern. Die Eidgenössische Migrationskommission führt das darauf zurück, dass es in diesen Kantonen bei der ordentlichen Einbürgerung restriktive Gesetzgebungen gibt.
Weitere Informationen: Studie der Eidgenössischen Migrationskommission
Welche Behörde ist bei einer Einbürgerung zuständig? Beobachter-Mitglieder erhalten weiterführende Informationen zu den verschiedenen Einbürgerungsverfahren, zu Erleichterungen und zu den Voraussetzungen, die ein Gesuchsteller erfüllen muss.