Worum geht es bei der Justiz-Initiative?

Im Grundsatz geht es um die Frage, wie unabhängig unsere Richterinnen und Richter am obersten Schweizer Gericht, dem Bundesgericht, sind. Mit der Justiz-Initiative soll das Wahlverfahren für diese Richterinnen und Richter geändert werden. Die Initianten wollen damit die Qualität der Rechtsprechung verbessern. Heute werden Bundesrichter vom Parlament für eine Periode von sechs Jahren gewählt. Wenn es nach den Initianten geht, soll künftig eine unabhängige Fachkommission fachlich und persönlich qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten auswählen, prüfen und zur Bundesrichterwahl zulassen. Danach würden Bundesrichterinnen mittels Zufall im Losverfahren bestimmt. Anders als heute sollen die gewählten Bundesrichter sich keiner Wiederwahl stellen müssen und bis fünf Jahre nach dem regulären Pensionsalter im Amt bleiben können.

Im Wesentlichen kritisieren die Initianten drei Dinge an der heutigen Art der Bundesrichterwahl:

  • Bundesrichterin und Bundesrichter könne heute faktisch nur werden, wer Mitglied einer im Parlament vertretenen Partei sei, weil das Parlament bei der Wahl auf die ausgewogene Parteienvertretung am Bundesgericht achte. Damit schliesse man bestens qualifizierte Parteilose aus und zwinge die Anwärter dazu, sich einer Partei anzuschliessen, um Wahlchancen zu haben.

  • Die Bundesrichterinnen und Bundesrichter bezahlen ihrer Partei eine sogenannte Mandatssteuer. Damit werde die gegenseitige Abhängigkeit verstärkt, findet das Initiativkommitee.

  • Wegen der Wiederwahl nach sechs Jahren sei der Druck auf die Richterinnen und Richter hoch, sich an die Parteilinie zu halten. Dadurch bestehe die Gefahr, dass die Entscheide des Bundesgerichts nicht unabhängig genug seien. Dass dieser Druck durchaus real ist, zeigte sich jüngst, als die SVP im September 2021 ihren eigenen Bundesrichter Yves Donzallaz zur Abwahl empfahl. In anderen Ländern werden Richter teilweise für eine sehr lange Amtszeit einmals gewählt – oder sogar auf Lebzeiten, wie in den USA.

Wieso müssen Richterinnen und Richter in einer Partei sein?

Das müssen sie nicht, das ist nirgends gesetzlich festgehalten. Allerdings achtet das Parlament heute freiwillig auf eine angemessene Vertretung der Sprachen, Geschlechter und der Stärke der politischen Parteien. Es beachtet den sogenannten Parteienproporz, damit die verschiedenen Weltanschauungen gebührend vertreten sind. Die Partei mit den meisten Wählerinnen erhält am meisten Richterinnen, diejenige Partei mit den wenigsten Wählern kriegt am wenigsten Richter. Dieses Prinzip zieht sich nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf kommunaler und kantonaler Ebene durch, also in allen Instanzen des Schweizer Justizsystems. Als parteilose Person ist man heute praktisch chancenlos, gewählt zu werden, obwohl es sich um ein unpolitisches Amt handelt.

Die Zugehörigkeit zu einer Partei und die persönlichen politischen Ansichten dürften keine Voraussetzung für das Amt am Bundesgericht sein, und es dürfe auch niemand davon ausgeschlossen werden, nur weil man nicht einer Partei beitreten wolle, finden die Initianten. Denn: «Zu den wichtigsten Grundprinzipien der Demokratie gehört die Gewaltentrennung.»

Auch beim Losverfahren der Justiz-Initiative soll auf die angemessene Vertretung der Landessprachen geachtet werden, damit alle in ihrer Amtssprache mit dem Bundesgericht kommunizieren können, das steht explizit im Initiativtext. Auf andere Faktoren wie die Vertretung der Geschlechter will das Initiativkomitee nicht speziell Rücksicht nehmen. Die Vertretung von Frauen, Männern, Minderheiten und Interessensgruppen werde durch das Losverfahren und den Zufall garantiert. Zudem sei die Qualifikation fürs Amt wichtiger als demografische Attribute, heisst es bei den Initianten.

In einer früheren Version hiess es in diesem Abschnitt, 1942 sei der letzte parteilose Bundesrichter gewählt worden. Das war falsch. Richtig ist, dass es in der Schweiz nie einen parteilosen Bundesrichter gab. Der 1942 gewählte Genfer Paul Logoz war zwar fraktionslos, aber von der Liberalen Fraktion vorgeschlagen worden. Er war Nationalrat der rechtsbürgerlichen Union de Defense Économique. Er war klarerweise Politiker – und führender Professor im Strafrecht. Das gab den Ausschlag.

Wie viele Richterinnen und Richter gibt es eigentlich am Bundesgericht?

Es gibt 38 Bundesrichterinnen und Bundesrichter. Zurzeit sind es 15 Frauen und 23 Männer. Davon sind 3 italienischer, 12 französischer und 23 deutscher Muttersprache. Hinzu kommen 19 nebenamtliche Richterinnen und Richter.

Was ist die Mandatssteuer und wieso ist sie für Parteien wichtig?

Mit der Mandatssteuer ist gemeint, dass Bundesrichter ihrer Partei für ihr Amt einen Teil des Lohns überlassen. Auch das ist wie der Parteienproporz nirgends gesetzlich festgeschrieben, sondern wird informell so gehandhabt. Die Initianten sind der Meinung, dass Bundesrichterinnen damit gezwungen werden, ihr Amt zu kaufen. 

Die Mandatssteuer ist für die Finanzierung der Parteien relevant, denn es gibt hierzulande keine staatliche Parteienfinanzierung. Gemäss Blick beträgt die jährliche Mandatssteuer bei den Grünen 15’000, bei der SP 13’000 und bei der Mitte-Partei 6000 Franken. FDP und SVP machen nicht transparent, wie hoch der Betrag für ihre Richter ist. 

Diese Praxis wurde mehrfach vom Antikorruptionsgremium des Europarats (Greco) kritisiert. Sie schade der Unabhängigkeit des Richteramts. 

Die NZZ argumentiert jedoch, dass von Korruption keine Rede sein könne, denn die Höhe der Mandatssteuer sei von Beginn weg transparent und für alle gleich. Es werde kein Richteramt dem Meistbietenden zugeschlagen, und das Geld spiele auch bei der Wiederwahl alle sechs Jahre keine Rolle. 
 

Können Bundesrichter auch bei Annahme der Initiative noch abgewählt werden?

Geht es nach den Initianten, müssen sich Bundesrichterinnen künftig nicht mehr zur Wiederwahl stellen. Die Initiative sieht in Ausnahmefällen trotzdem vor, dass die Richter abberufen werden können. Aber nur, wenn sie ihre Amtspflichten schwer verletzt haben oder sie nicht mehr fähig sind, ihr Amt auszuüben, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen. Dies müsste auf Antrag des Bundesrats eine Mehrheit des Parlaments entscheiden.

Wer steckt hinter der Initiative?

Hinter dem Volksbegehren steht der Zuger Unternehmer und Immobilieninvestor Adrian Gasser mit seinem Verein «Bund für Gerechtigkeit». Gasser ist Inhaber der Lorze-Gruppe. Die Idee für diese Initiative soll er bereits in den 70er-Jahren gehabt haben. 

Im Initiativkomitee sind unter anderem Dozentinnen, Politologen, Ökonomen und Ingenieure vertreten.

Wer ist dagegen?

Die politischen Parteien lehnen die Initiative durchs Band ab – es besteht seltene Einigkeit zwischen SVP, FDP, GLP, Mitte-Partei, SP und Grünen. Auch der Bundesrat ist dagegen, und im Parlament wurde die Justiz-Initiative praktisch einstimmig abgeschmettert. SVP-Nationalrat Lukas Reimann stimmte als einziger Parlamentarier dafür, weil er das heutige Verfahren nicht seriös findet und Parteilose keine Chance auf eine Wahl hätten.

Was sind die Argumente der Gegner?

Die Gegner der Initiative sind der Meinung, dass das heutige System demokratisch legitimiert ist, denn Bundesrichter würden von der Bevölkerung via ihre gewählten Volksvertreterinnen im Parlament ernannt. Die Transparenz über die Vertretung aller Weltanschauungen am Bundesgericht erhöhe die Akzeptanz der Rechtsprechung.

Mit dem von der Initiative vorgebrachten Losverfahren würden hingegen nicht die besten Kandidatinnen und Kandidaten gewählt, sondern die mit am meisten Glück. Das Bundesgericht sei kein Casino, und eine Lotterie könne das demokratische System nicht ersetzen. Wie das Justizdepartement schreibt, kann es mit einem solchen Verfahren passieren, dass Parteien, Regionen oder Geschlechter für lange Zeit am Bundesgericht stark unter- oder übervertreten sind und das die Akzeptanz der Urteile in der Bevölkerung schwächt.

Das düstere Bild eines von Parteien abhängigen Bundesgerichts sei zudem übertrieben, finden die Gegner. Es gebe keine Hinweise, dass sich Richterinnen an den Wünschen ihrer Partei ausrichten, und das Risiko einer Nichtwiederwahl sei reine Theorie, denn in den letzten 150 Jahren sei noch nie ein Bundesrichter wegen eines Urteils nicht wiedergewählt worden. Auch der von der SVP kritisierte Bundesrichter Donzallaz wurde schliesslich von der Bundesversammlung wiedergewählt. Denn nicht nur die eigene Partei bestimmt über den Weiterverbleib am Bundesgericht, sondern das ganze Parlament. 

Was würde bei Annahme der Initiative passieren?

Da es sich um eine Volksinitiative handelt, führt die Annahme zu einer Verfassungsänderung. Die Umsetzung im Detail müssten die Gesetzgeber im Parlament danach ausarbeiten.

Was passiert bei einem Nein an der Urne?

Wird die Initiative abgelehnt, passiert nichts. Es gibt keinen Gegenvorschlag des Bundesrats oder des Parlaments, der dann in Kraft treten würde. Allerdings sind parlamentarische Vorstösse hängig, mit denen ein paar Forderungen der Initiative trotzdem umgesetzt werden sollen. So will etwa FDP-Nationalrat Beat Walti mit einer parlamentarischen Initiative die richterliche Unabhängigkeit stärken. Es soll für Mitglieder des Bundesgerichts ein Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden geben. Und die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats schlägt vor, künftig einen Fachbeirat zur Begleitung des Auswahlverfahrens für Bundesrichter einzusetzen.

Gibt es den Losentscheid in anderen Bereichen des Schweizer Rechts?

Die Gegner der Initiative argumentieren, dass das vorgeschlagene Losverfahren fremd fürs Schweizer System sei. Kein Kanton bestimme seine Richterinnen und Richter mit dem Zufallsprinzip. 

Es gibt aber durchaus Bereiche im Schweizer Recht, in dem Losentscheide angewandt werden. Zum Beispiel dann, wenn sich Erben nicht einigen können, wie sie einen Nachlass untereinander aufteilen wollen. Auch bei Patt-Situationen innerhalb einer Aktiengesellschaft entscheidet nicht selten das Los - sofern dies die Gesellschaftsstatuten vorsehen. Per Los vergeben Verwaltungen beispielsweise auch Marktplätze oder teilen Kinder in unterschiedliche Klassen ein. Es gibt sogar Stimmen, die das Zufallsprinzip stärker gewichten wollen. Bei Vertragsstreitigkeiten könne das Los nämlich hohe Verfahrens- und Anwaltskosten vermeiden.

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Tina Berg, Redaktorin
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