Es gibt Karrieren, die starten verheissungsvoller als die von Lukas Schmidt. Er absolvierte gerade sein erstes Praktikum im AKW Gundremmingen in Bayern, als im März 2011 im japanischen Fukushima mehrere Reaktorgebäude explodierten. Danach war seine Arbeit nicht mehr sozialverträglich. An einer Party drehte sich eine Mitstudentin abrupt von ihm ab, als sie erfuhr, was er studierte. «Kernenergie war damals richtiggehend verhasst», erinnert er sich.

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Heute arbeitet der 33-jährige Nuklearingenieur für das Atomkraftwerk Leibstadt – und versucht noch immer, seine Begeisterung ein wenig zu verstecken, wenn er durch das Besucherzentrum führt. In der Mitte des Raums thront ein dreimannshohes Modell des Siedewasserreaktors, Fässer für den radioaktiven Abfall sind ausgestellt, es gibt Infofilme, Schautafeln und Grafiken. Schmidt erklärt, zeigt auf, wägt ab. «Wenn wir eine klimafreundliche Energieversorgung wollen, wird es die Kernenergie weiterhin brauchen», sagt er dann.

Der Paria wird wieder salonfähig

Anders als auf der Studentenparty steht er heute nicht mehr allein da. Nach der SVP will neu auch die FDP-Führung das Verbot für neue Kernkraftwerke wieder aufheben, das die Schweiz 2017 beschlossen hat. Die NZZ schreibt: «Es braucht eine Debatte darüber, ob der längerfristige Umbau des Energiesystems nicht doch unter Einbezug aller Technologien angegangen werden soll – die Kernkraft eingeschlossen.»

Auch international machen der Kampf gegen den Klimawandel und die Angst vor zu wenig Strom den einstigen Paria wieder salonfähig. Zwar will sich Deutschland dieses Jahr endgültig aus der Kernenergie verabschieden, Grossbritannien und Finnland hingegen haben letztes Jahr neue Anlagen fertiggestellt. Auch Frankreich will weiter investieren, Polen neu einsteigen, die Niederlande wollen nun doch daran festhalten. Die EU-Kommission hat Anfang Jahr beschlossen, dass der Bau moderner AKW künftig als «nachhaltige Investition» gelten soll.

Doch was kann die Atomkraft überhaupt bieten?

Lukas Schmidt war im Gymnasium, als er das erste Mal in Kontakt mit der Kernenergie kam. Im Physikunterricht musste er einen Vortrag halten. «Der komplexe Prozess der Kernspaltung, die ungeheure Energie, die dabei frei wird – das hat mich fasziniert», sagt er.

Es ist der Trumpf, den die Kernkraftbefürworter bis heute ins Feld führen: Auf einer Fläche so gross wie zwölf Fussballstadien erzeugt das Kernkraftwerk Leibstadt Strom für zwei Millionen Schweizer Haushalte. Für die gleiche Menge Windenergie brauchte es 1200 moderne Windturbinen. Strom aus Kernenergie hat eine 26 Mal bessere CO2-Bilanz als Strom aus Erdgas. Auch die Fotovoltaik erzeugt gemäss einer Studie der Uno mehr Klimaemissionen, rechnet man den Bau und die Entsorgung der Anlagen mit ein.

Hoffnung auf Fortschritt

Obwohl die grossen Industriestaaten Investitionen in Forschung und Ausbau der Kernenergie in den letzten Jahren zurückgefahren haben, treiben sie die Kernkraft weiter voran.

In den USA lassen die Milliardäre Bill Gates und Warren Buffett einen Reaktor bauen, der mit Natrium gekühlt wird und überschüssige Energie in einer Salzschmelze zwischenspeichert. Damit soll seine Leistung innert einer Minute um 40 Prozent erhöht werden können, um rasch auf Spitzenlasten zu reagieren. China hat im Herbst einen Prototyp fertiggestellt, der flüssiges Thoriumsalz als Brennstoff verwendet. Eine Kernschmelze wie in Fukushima ist mit diesem Design ausgeschlossen. Zudem würde der Reaktor viel weniger radioaktiven Abfall erzeugen.

Sind das alles nur Zukunftsträume? Nein, sagt Andreas Pautz, Experte für nukleare Sicherheit am Paul-Scherrer-Institut (PSI). «Die meisten internationalen Szenarien gehen davon aus, dass eine neue Generation von Kraftwerken in 10 bis 20 Jahren marktreif sein wird.»

Das Zauberwort der Branche heisst SMR, die Abkürzung für «Small Modular Reactors». Das sind kleinere, nach dem Baukastenprinzip zusammengebaute Reaktoren. Weil sie kleiner sind, seien sie sicherer, vor allem aber könnten sie schneller und günstiger gebaut werden als die grossen, sehr aufwendig und teuer erstellten Anlagen, lautet das Versprechen. Für Andreas Pautz vom PSI sind SMR dann sinnvoll, wenn nicht allzu grosse Mengen an jederzeit verfügbarem Strom benötigt werden. «Sie können als flexible und CO2-arme Technologie eine Stromversorgung ergänzen, die stark auf unbeständige Quellen wie Sonne und Wind baut.»

Warnung vor Stromlücken

Befürworter wie Lukas Schmidt sehen die Atomkraft in der Schweiz in genau dieser Rolle. Zusammen mit acht jungen Fachleuten hat er letztes Jahr ein Positionspapier für das Nuklearforum Schweiz verfasst. Darin analysierten sie die Situation der Stromproduktion im In- und Ausland. «Die Pläne des Bundes gehen nicht auf», sagt Schmidt.

Tatsächlich warnen auch unabhängige Stimmen vor Stromlücken, wenn die AKW abgeschaltet werden. Der Ausbau der Windkraft, Wasserkraft und Fotovoltaik kommt nur schleppend voran. Bis 2050 aber wird die Schweiz rund einen Viertel bis einen Drittel mehr Strom brauchen als heute, wenn sie vom Erdöl wegwill. Jedes Auto muss dann elektrisch und jede Heizung eine Wärmepumpe sein. Die Schweiz wird zumindest im Winter Strom importieren müssen.

«Mit den Plänen des Bundes werden wir abhängig von russischem Gas und würden zusätzliche CO2-Emissionen erzeugen.»

Lukas Schmidt, Nuklearingenieur

Doch auch die anderen Länder brauchen mehr Strom, wenn sie ihre Klimaziele erfüllen wollen. Viele müssen zudem ihre Kohlekraftwerke ersetzen. Wie viel dann für den Export in die Schweiz bleibt, ist unklar, zumal es im Moment kein Stromabkommen mit der EU mehr gibt. Um Lücken zu füllen, erwägt der Bundesrat, Gaskraftwerke zu bauen. Das ist für Schmidt ein Unding: «Wir wären abhängig von russischem Gas und würden zusätzliche CO2-Emissionen erzeugen.»

Das Nuklearforum schlägt darum vor, die laufenden Reaktoren so lange wie möglich am Netz zu lassen – und für die Zeit danach drei SMR zu bauen. Zum Beispiel Reaktortypen, wie sie zurzeit in England und den USA entwickelt werden und die Ende der 2020er-Jahre auf den Markt kommen sollen. Sie wären nur etwa einen Viertel so gross wie die heutigen Anlagen und würden gemäss Nuklearforum rund 6 bis 10 Milliarden Franken kosten. Aus technischer Sicht könnten sie bis 2040 in Betrieb gehen – also 4 Jahre bevor Leibstadt als letztes AKW nach einer Laufzeit von 60 Jahren 2044 wohl endgültig abgeschaltet werden muss.

«Die Schweiz hätte dann immer genug sauberen Strom, der 24 Stunden und auch im Winter verfügbar ist, und wäre praktisch unabhängig von Importen», sagt Schmidt. Und sie könnte sich beim Ausbau von Windkraft und Fotovoltaik mehr Zeit lassen, was die Energiewende günstiger machen würde. Gaskraftwerke wären nicht nötig. «Das Neubauverbot für AKW behindert den Klimaschutz», sagt der Ingenieur.

Hat die Schweiz sich also selbst eine Barriere errichtet?

Nein, sagt Fabian Lüscher von der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES), die sich seit Jahren für eine Schweiz ohne Atomkraft einsetzt. «Die Pläne der Atomkraftlobby scheitern nicht nur am Verbot, sondern vor allem an den Kosten.» Kernenergie sei im Vergleich zu erneuerbaren Energien viel zu teuer, sagt Lüscher. Er verweist auf die neuesten Zahlen des weltweit anerkannten Energiekostenanalysten Lazard.

Rechnet man die Baukosten für die Anlagen mit ein, ist Atomstrom heute rund viermal teurer als Wind- oder Solarstrom. Und die Differenz nimmt weiter zu. Fotovoltaik- und Windanlagen werden immer günstiger, je mehr man davon baut. Atomkraftwerke hingegen immer teurer, weil die Anforderungen an die Sicherheit stetig steigen. So kosteten die neuen Meiler in England und Finnland mehrere Milliarden mehr als geplant, und sie werden um Jahre verspätet ans Netz gehen.

«Niemand in der Schweiz würde deshalb in neue AKW investieren», sagt Lüscher. Tatsächlich haben die Stromkonzerne Axpo und Alpiq bereits abgewinkt. Es würde sich für sie nicht lohnen.

Laut Lüscher gilt das auch für SMR. Die Energie-Stiftung hat eine Studie zu neuen Reaktorkonzepten durchführen lassen. Sie kommt zum Schluss: Heruntergerechnet auf Kosten pro Kilowattstunde wären SMR erst dann günstiger als herkömmliche Reaktoren, wenn weltweit Tausende gebaut würden. Von einer solchen Entwicklung sei nichts zu sehen.

«Jedes neue AKW, das man jetzt plant, schadet dem Kampf gegen die Klima­erwärmung.»

Fabian Lüscher, Schweizerische Energie-Stiftung

Generell würden neue Atomkraftwerke nicht helfen, die Klimakatastrophe abzuwenden. «Bis sie in Betrieb sind, dauert es zu lange», sagt Lüscher. Das zeige sich überall auf der Welt, besonders in Europa. Nur erneuerbare Energien seien fähig, dreckige Kohlekraftwerke innerhalb der Zeit zu ersetzen, die das Pariser Klimaabkommen vorgibt. «Im Gegensatz zu neuen AKW stehen sie heute bereit.» Die Frage müsse sein, wie viel jeder investierte Franken bewirke. Jedes neue AKW, das man jetzt plane, schade darum dem Kampf gegen die Klimaerwärmung. «Im Moment muss es unser wichtigstes Ziel sein, die erneuerbaren Energien auszubauen, insbesondere die Fotovoltaik.»

Politisches Manöver

Das sieht auch Tobias Schmidt so, Professor für Energie- und Technologiepolitik an der ETH Zürich. Für den Neubau von AKW sieht er «zurzeit null Chancen», weder ökonomisch noch politisch. Die Forderung, das Neubauverbot für AKW aufzuheben, hält er für ein politisches Manöver. «Es zielt auf den Kompromiss hin, die heutigen AKW länger laufen zu lassen als die angedachten 50 Jahre.» Bleibt der Strompreis hoch, sind die bereits gebauten Atomkraftwerke nämlich durchaus profitabel. Darauf werde es hinauslaufen, so Schmidt.

Ist die Atomkraft einfach nur etwas länger nötig als gedacht?

Ihre Zukunft in der Schweiz entscheide sich nicht heute, sondern erst in 10 bis 15 Jahren, sagt Tobias Schmidt. Wenn das Ende der beiden jüngsten Kernkraftwerke in Gösgen und Leibstadt wirklich absehbar sei. Dann werde man sehen, wie viel Strom erneuerbare Quellen wie Wasser, Wind, Sonne und eventuell Geothermie liefern würden. Wie weit man mit der Speicherung sei. Und wie sich die Situation im Ausland entwickelt habe. «Dann können wir beurteilen, ob SMR nicht doch eine Lösung wären, in die es sich für die Schweiz zu investieren lohnt – oder noch immer nicht.»

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Raphael Brunner, Redaktor
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