Eigentlich dürfen verwitwete Väter bei der AHV nicht schlechtergestellt sein als Mütter. Das war lange anders, denn bis vor einem Jahr galt: Ein Mann verliert die Witwerrente, wenn das jüngste Kind volljährig wird. Eine Frau dagegen behält sie lebenslang. Eine unzulässige Diskriminierung, befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Oktober 2022, nachdem der Appenzeller Witwer Max Beeler dort erfolgreich geklagt hatte.

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Das Strassburger Urteil ist für die Schweiz verbindlich. Trotzdem diskriminiert sie weiterhin Witwer, wie das St. Galler Versicherungsgericht nun in einem konkreten Fall festgestellt hat.

Dabei ist es das erklärte Ziel des Bundes, dem Urteil so schnell wie möglich Rechnung zu tragen. Da es aber eine Weile dauert, bis das Parlament eine neue gesetzliche Regelung beschlossen hat, definierte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eine Übergangsregelung, an die sich die AHV-Ausgleichskassen halten müssen. Die Folge: Seit dem 11. Oktober 2022 zahlt die AHV Männern die Witwerrente weiter, auch wenn die Kinder volljährig werden. 

Zwei Gruppen von Witwern

Ausgenommen sind aber jene Väter, die bereits vor diesem Stichtag keine Rente mehr erhielten und bei denen damals auch kein Rechtsstreit mehr deshalb lief. Aus Sicht des BSV sind solche Fälle definitiv abgeschlossen, und das Strassburger Urteil sei «kein Grund für eine Wiedererwägung» – es wies die AHV-Kassen an, entsprechende Anträge abzulehnen. 

Damit gibt es zwei Gruppen von Witwern: einerseits solche, die heute nicht mehr diskriminiert werden dürfen. Und anderseits solche, die schon vor dem Strassburger Urteil benachteiligt wurden und deren Gesuche, dies jetzt zu korrigieren, von Amts wegen gar nicht erst behandelt werden sollen. 

Mehr als 3000 Betroffene

Ein benachteiligter Witwer klagte nun gegen den entsprechenden Bescheid, und das St. Galler Versicherungsgericht gab ihm recht. Für das dreiköpfige Gremium unter dem Vorsitz einer Richterin ist es unzulässig, dass der Bund zwischen Witwern mit hängigen Verfahren und solchen unterscheidet, deren Rente bereits rechtskräftig eingestellt wurde. Auch diese müssen eine Witwerrente erhalten, wenn sie das beantragen.

Das Gericht schreibt im Urteil, die Übergangsregelung des BSV erweise sich als «nicht konventionskonform». Im Klartext: Auch die neue Praxis der Schweiz bei der Witwerrente verstösst gegen das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Der Bund schätzt, dass es derzeit etwas mehr als 3000 solche Witwer gibt, deren Rente eingestellt wurde. Auf der anderen Seite zählte die AHV-Statistik im letzten Jahr 2000 Witwer, die Renten erhielten – insgesamt 28 Millionen Franken. Demnach müsste man mit Mehrkosten von 42 Millionen pro Jahr rechnen, wenn alle Witwer gleich behandelt würden. Zur Einordnung: Die AHV zahlte Frauen letztes Jahr 1,75 Milliarden Franken Witwenrenten.

«Die Schweiz verharrt häufig in einer Réduit-Mentalität.»

Martin Hablützel, Anwalt des Klägers

Laut dem Rechtsvertreter des Klägers, dem Fachanwalt für Haftpflicht- und Versicherungsrecht Martin Hablützel, gibt es eine Vielzahl von weiteren Beschwerden gegen die Übergangsregelung. Die Haltung des Bundes passt für ihn ins Muster beim Umgang mit Entscheiden des EGMR. «Es wird nur das Allernotwendigste umgesetzt, so dass die Konventionsbestimmungen knapp nicht mehr verletzt sind.» Die Schweiz verharre häufig in einer Réduit-Mentalität. 

Das BSV will zum Fall nicht Stellung nehmen und verweist auf das hängige Verfahren. Die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen hat das Urteil angefochten – nun ist das Bundesgericht an der Reihe.