«Das Parlament muss nicht das Volk abbilden»
Damit das Parlament die Gesellschaft besser repräsentiert, müsste die ganze Bevölkerung aktiver mitmischen, sagt Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer.
Veröffentlicht am 25. April 2019 - 18:01 Uhr,
aktualisiert am 25. April 2019 - 14:03 Uhr
Beobachter: Verglichen mit Ihnen sind Parlamentarier mehrheitlich zu alt und haben das falsche Geschlecht. Stört Sie das?
Sarah Bütikofer: Nein, nicht in jeder Hinsicht. Es geht ja nicht nur um biologische Merkmale, sondern auch um Aspekte wie Bildungsstand oder Urbanität. Und da fühle ich mich gut vertreten. Überhaupt finde ich nicht, dass das Parlament das Wahlvolk exakt abbilden muss. Parlamentsmitglieder müssen nicht wie die Personen sein, die sie gewählt haben, sondern deren Werte, politische Haltung und Präferenzen vertreten.
Klingt gut – in der Theorie. Doch die Lebensrealitäten klaffen weit auseinander, gerade beim sozialen Status: 85 Prozent der Parlamentarier haben eine höhere Ausbildung, im Volk ist es weniger als die Hälfte. Gutsituierte Akademiker vertreten also die Interessen der Armen
. Kann das funktionieren?
Sicher gibt es Sachfragen, die Reiche eher interessieren als Arme. Aber die Höhe des Kontostands ist nicht in jedem Fall ausschlaggebend für die politische Präferenz. Millionäre haben nicht alle die gleiche politische Einstellung. Ein Parlament lebt von Diskussionen und Kompromissen. Wichtig ist, dass möglichst viele verschiedene Meinungen vertreten werden. Parlamentarier haben in erster Linie den Auftrag, für diejenigen einzustehen, die sie gewählt haben. Und letztlich auch den Gesamtinteressen der Bevölkerung Rechnung zu tragen.
Wenn man das weiterdenkt, könnte man auch sagen: Was soll die Aufregung um den Frauenanteil? Schliesslich können auch Männer Frauenanliegen vertreten.
Man darf tatsächlich nicht einfach davon ausgehen, dass die Männermehrheit im Parlament «falsch» entscheidet, das heisst gegen die Frauen. Männer und Frauen haben weder völlig unterschiedliche Interessen, noch gibt es eine Männerposition oder eine Frauenposition. Beim Anspruch der Frauen auf eine angemessene Vertretung im Parlament geht es um Gleichberechtigung. Die Lebensrealitäten von Frauen und Männern sind nicht genau gleich, aber beide bilden miteinander diese Gesellschaft. Dem sollte der Politbetrieb Rechnung tragen.
Würde ein Parlament mit einem höheren Frauenanteil anders entscheiden?
Wenn man die Abstimmungen analysiert, zeigt sich, dass das Geschlecht einen vergleichsweise geringen Einfluss auf das Stimmverhalten hat. Der klar dominierende Faktor ist die Parteizugehörigkeit. Heute kämpfen Politikerinnen nicht mehr in erster Linie gegen Geschlechterdiskriminierung
auf Gesetzesebene, wie es vor wenigen Jahrzehnten noch notwendig war. Frauenallianzen kommen inzwischen vor allem bei gesellschaftspolitischen Fragen zum Tragen. Die Fristenlösung oder die Mutterschaftsversicherung sind Beispiele, bei denen sich Frauen parteiübergreifend eingesetzt haben.
«Je weniger Leute sich beteiligen, desto mehr Gewicht haben diejenigen, die wählen gehen – und in deren Sinn fallen auch die Entscheidungen des Parlaments aus.»
Sarah Bütikofer
Der Anspruch auf eine gerechtere Vertretung
der Frauen ist breit akzeptiert. Braucht es weitere Korrekturmassnahmen?
Für gewisse Aspekte schon. Ich würde sagen: für Bevölkerungsgruppen, deren Lebensrealität sich sehr stark von anderen unterscheidet. Die sprachlichen Minderheiten und Kulturen sind im Parlament ja bereits entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten.
Mit einer weniger ausgewogenen Sprachverteilung könnte man ganz gut leben – viel wichtiger wäre eine bessere Abbildung der Altersgruppen. Würden Sie dem widersprechen?
Sie sind zumindest nicht die Einzigen, die diese Ansicht vertreten. Die 45- bis 70-Jährigen sind die politisch aktive Generation, die auch das Gros der Parlamentsmitglieder ausmacht. Je nach Politikfeld ist die persönliche Betroffenheit für die Jungen aber eindeutig eine andere, etwa in der Umweltpolitik, der Sozialpolitik
oder bei der
Digitalisierung. Es ist nachvollziehbar, wenn die jüngere Generation das Gefühl hat, die Entscheidungen des Parlaments seien nicht optimal, wenn sie hauptsächlich von der älteren Generation getroffen werden.
Es gibt Ideen, die Unterrepräsentation der Jungen dadurch auszugleichen, dass ihre Stimmen doppelt zählen. Was halten Sie davon?
One man, one vote – ein Mensch, eine Stimme, das ist ein wichtiges Prinzip. Das Problem in diesem Zusammenhang ist, dass die Jungen weniger von ihrem Stimm- und Wahlrecht
Gebrauch machen. Aber das Ergebnis von Wahlen und Abstimmungen widerspiegelt die Meinung derer, die sich beteiligt haben. Viel eher sollte darum das politische Interesse gefördert und über neue oder andere Formen der politischen Beteiligung nachgedacht werden.
Wäre die Bevölkerung besser abgebildet, wenn mehr Junge und Ärmere wählen gingen?
Vermutlich. Es gibt grosse Unterschiede betreffend Bildungs-, Einkommens- und Wohlstandsniveau zwischen den Urnengängern und denen, die zu Hause bleiben. Je weniger Leute sich beteiligen, desto mehr Gewicht haben diejenigen, die wählen gehen – und in deren Sinn fallen auch die Entscheidungen des Parlaments aus.
«Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass die Politik eine eher elitäre Veranstaltung ist, die das Potenzial hat, sehr viele Leute auszuschliessen.»
Sarah Bütikofer
Nehmen wir jetzt einmal an, dass eine breitere Bevölkerungsschicht wählen würde: Die Auswahl an Kandidaten bleibt dieselbe.
Das liegt daran, dass es mehrere Selektionsschritte gibt. Der erste ist, politisches Interesse zu haben, dazu genügend Zeit und Mittel. Daran scheitern schon einmal die meisten. In einem nächsten Schritt muss man einer Partei beitreten und sich intern gegen die Konkurrenz durchsetzen sowie die richtigen Parteiämter besetzen – häufig auf der ganzen Ochsentour von der Gemeinde über den Kanton, bis man auf der nationalen Ebene Wahlchancen hat.
Macht die Wahl allein jemanden schon zu einem guten Volksvertreter?
Nein. Entscheidend ist die konkrete parlamentarische Arbeit. Die Schweiz hat ein ausgeprägtes Arbeitsparlament. Die politischen Kämpfe werden vor allem in den vorberatenden Kommissionen ausgetragen. Dort müssen Parlamentarier extrem dossiersicher sein, Allianzen schmieden können, argumentativ überzeugen, Anträge durchbringen – das erst zeichnet einen guten Volksvertreter aus. Hinzu kommt, dass bei uns am Ideal des Milizparlaments festgehalten wird, obwohl das auf nationaler Ebene inzwischen nicht mehr der Realität entspricht. In diesem Zusammenhang muss man auch erwähnen, dass viele Parlamentarier Mandate von Organisationen und Vereinigungen innehaben, die ihre Aufgabe als Volksvertreter beeinflussen – diese Einflussnahme ist aber nicht in jedem Fall transparent
.
Müssen wir uns angesichts dieser vielen Sachzwänge mit den Leerstellen in der Repräsentation abfinden?
Es ist ein Fakt und wird wohl auch einer bleiben: Schlechter ausgebildete, sozial tiefer stehende, weniger vermögende Menschen sind deutlich untervertreten. Sie sind politisch auch weniger aktiv. Das muss sich ändern. Auch haben wir in der Schweiz einen hohen Ausländeranteil, also viele Leute, die sich nicht politisch beteiligen können, obwohl sie unsere Gesellschaft ebenfalls ausmachen. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass die Politik eine eher elitäre Veranstaltung ist, die das Potenzial hat, sehr viele Leute auszuschliessen.
Was könnte ein Parlament besser, das ein genaueres Abbild der Gesellschaft ist?
In ein spiegelbildliches Parlament könnten sicher mehr Positionen eingebracht werden. Weil vielleicht jemand gewählt wird, der aus einer anderen Ecke kommt, der eine überraschende Haltung vertritt, neue Aspekte beleuchtet.
Sie klingen nicht überzeugt.
Die Frage ist doch: Nach welchen Kriterien bildet man ein Parlament, das quasi die Gesellschaft en miniature sein soll? Müssen die Ärzte in gleichen Teilen vertreten sein wie in der Bevölkerung? Oder die Facharbeiter? Was sind die Kriterien? Hinzu kommt: Wenn man auf eine total spiegelbildliche Repräsentation beispielsweise mittels Los
setzen würde, bekämen auch Personen ein Amt zugewiesen, die es gar nicht wahrnehmen könnten. Sehr kranke Personen, solche, die sozial isoliert leben, Menschen, die nicht über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, sich mit Gesetzestexten zu beschäftigen. Aber genau die sind stark darauf angewiesen, dass jemand in ihrem Interesse politisiert.
zur Person
Stellen Sie sich vor, es sind Wahlen – und kein Politiker, keine Politikerin kann sich einen Sitz im Nationalrat ergattern. Vielmehr ziehen ganz gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger oder prominente Persönlichkeiten im Bundeshaus ein.
Zugegeben: ein unrealistisches Szenario. Aber ein reizvolles Gedankenexperiment. In dieses möchte der Beobachter Sie einbeziehen: Nennen Sie auf unserem Beobachter-Wahlzettel für das «andere Parlament» die Person(en), die Sie am liebsten nach Bern schicken würden.
1 Kommentar
Es wird höchste Zeit, das ein nichtstudierter BürgerIN einen Sitz im Bundesrat erhält, nur der kleine BürgerIn, weiss von den Nöten des Volkes,...."Nicht der Bürger steht im Gehorsamsverhältnis zu der Regierung, sondern die Regierung ist dem Bürger, im Rahmen der Gesetze, verantwortlich für ihr Handeln, der Bürger hat das Recht, die Politik zur Ordnung zu rufen, wenn er glaubt oder der Meinung ist, das sie demokratische Rechte missbraucht"
Mir scheint, das die heutige Politik, gar nicht so Volksnah ist.