Es ist ein ernüchternder Befund: «Beim Wolf sind die Fronten festgefahren. Selbst bei gutem Willen sind die Leute nicht mehr fähig, da so leicht rauszukommen», sagt Kulturanthropologe Nikolaus Heinzer. Die Kulturanthropologin Elisa Frank und er erforschen für die Uni Zürich die Schweizer Wolfsdebatte. In den vergangenen drei Jahren haben sie so ziemlich mit allen gesprochen, die zum Wolf etwas zu sagen haben. Bauern und Hirtinnen, Jägerinnen und Wildhüter, Natur- und Tierschützer, Bio- und Anthropologinnen, Förster, Museumsleiter, Tierpräparatorinnen, Journalisten, Touristikerinnen und Wanderer. Trotz aller Gegensätze glauben die Forscher, dass Kompromisse möglich sind. «Dafür ist es aber wichtig zu erkennen, um was es dem Gegenüber wirklich geht», sagt Frank.
 

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Warum wird es beim Wolf immer emotional?
Elisa Frank: Weil die Rückkehr des Wolfes politische und gesellschaftliche Streitfragen aufwirft. Nach über einem Jahrhundert Absenz ist ein Raubtier wieder da und breitet sich aus. Das stellt bestehende Ordnungen in Frage. In der Schweiz betrifft es bisher vor allem die Berggebiete. Hier hat sich eine Lebens- und Wirtschaftsform entwickelt, die durch den Wolf herausgefordert, in Frage gestellt oder bedroht wird, je nach Standpunkt. Dabei geht es um handfeste Interessen, aber auch um grundsätzliche, weltanschauliche Debatten: Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen?


Ja, wer?
Nikolaus Heinzer: Die Wolfdebatte befeuert viele Konflikte, die bereits vorher da waren: zwischen Stadt und Land, zwischen Unterland und Berggebieten, zwischen «Bundesbern» und den Kantonen, zwischen Bauern und Naturschützern.


Warum berührt es Menschen in Städten so sehr, ob es in den Bergen Wölfe gibt?
Heinzer: Wir leben in einem Zeitalter, das mittlerweile oft als Anthropozän bezeichnet wird. Der Gedanke dahinter ist: Wir Menschen machen den Planeten, es gibt keine Natur mehr, die unabhängig von uns existiert. Wie wir einkaufen, wie wir essen, beeinflusst die Rodung des Amazonas und das Klima am Nordpol – und wir sind umgekehrt davon betroffen, was dort passiert. Was im Berggebiet geschieht, betrifft darum auch Menschen, die nicht dort leben.


Was sehen Städter in der Rückkehr des Wolfes?
Heinzer: Der Wolf ist Teil einer bedrohten Natur, die weltweit auf dem Rückzug ist. Wenn er sich wieder ausbreitet, ist das eine punktuelle Erholung, ein Symbol, dass es anders geht, wenn der Mensch die Bedingungen schafft. Der politische Einsatz für den Wolf ist darum ein Engagement für die Natur, wie Bio-Produkte zu kaufen. Seine Rückkehr steht für eine Entwicklung als Ganzes, die man fördern will.
 

«Niemand will menschenleere Berggebiete.»

Elisa Frank

Was wird bedroht durch den Wolf?
Frank: Man könnte sagen: unbewachte Schafe und Ziegen – oder: die Tradition der alpinen Weidewirtschaft, und alles was mit ihr zusammenhängt. Es ist wieder eine Frage der Perspektive. Sicher ist, die Rückkehr des Wolfes macht Veränderungen notwendig. Solange es in den Alpen keine Grossraubtiere mehr gab, konnten Bergbauern Teilzeit im Tal arbeiten und ihre Tiere sich selbst überlassen. Der Wolf bedroht diesen Lebensentwurf. Generell wird Bergwirtschaft mit ihm aufwändiger, schwieriger, teurer.


Verhandeln wir beim Wolf darüber, ob Bergwirtschaft weiter möglich sein soll?
Heinzer: Das ist die grosse Streitfrage. Manche Wolfsgegner sagen Ja. Es geht nur entweder oder. Entweder unsere Traditionen, unsere Kulturlandschaft mit Weiden und Wegen, Kühen, Schafen und Geissen, Alpenmilch und Alpenkäse – oder der Wolf. Die Wolfsbefürworter sagen, ein Zusammenspiel ist möglich, man muss das nur richtig managen. Mit Hirten arbeiten zum Beispiel, oder mit Herdenschutzhunden und Elektrozäunen.


Ist bei solchen Gegensätzen eine Annäherung überhaupt möglich?
Frank:
Sie ist sicher schwierig. Aber das liegt an der Art und Weise, wie die Wolfsdebatte geführt wird: Man streitet über ein Detail, zum Beispiel die Kosten von Herdenschutzhunden, und kommt dann ins Grundsätzliche. Dabei sind praktisch alle der Meinung, dass Menschen in den Alpen leben und wirtschaften können sollen. Niemand will menschenleere Berggebiete. Dieser kleinste gemeinsame Nenner sollte die Ausgangslage sein, um unseren Umgang mit dem Wolf zu diskutieren. Klar gäbe es weiterhin Streit um Detailfragen, aber weniger Grundsatzdebatten über Macht und Bevormundung.


Gilt das auch umgekehrt? Dass alle finden, in den Alpen soll es Platz für den Wolf geben, irgendwie?
Heinzer:
Jein. Die Frage ist, wo in den Alpen? Wolfsgegner sagen: Nicht bei uns in der Schweiz mit unserer gewachsenen Bergkulturlandschaft.
 

«Bei der Wolfsdebatte reden wir aneinander vorbei.»

Nikolaus Heinzer

Der Mensch bestimmt doch immer, welches Tier er wo will und wo nicht. Warum können Wolfsbefürworter nicht akzeptieren, dass man sagt, «hier nicht», solange der Wolf als Art nicht gefährdet ist?
Heinzer: Diese totale Beherrschung der Natur durch den Menschen empfinden viele als falsch. Gerade beim Wolf bietet es sich in ihren Augen an, diesen Kontrollanspruch etwas zurückzufahren. Ein Tier kommt schrittweise und in kleiner Zahl in unser Land zurück und wird hier wieder ansässig – kann man das nicht einfach mal zulassen? Klar braucht es Management, braucht es Herdenschutz, aber hier ist die Chance, die Natur ein Stück weit gewähren zu lassen. Das ist für viele Menschen ein Ideal, und darum setzen sie sich mit so viel Leidenschaft für den Wolf ein.


Wie kann man die Wolfsdebatte versachlichen?
Frank: Die Frage ist, ob das immer das Ziel sein muss. Gerade bei einer Diskussion wie über den Wolf, bei der es um Lebensentwürfe, Naturvorstellungen, unser Verhältnis zu Wild- und Nutztieren geht, sind Emotionen doch selbstverständlich! Wir sollten diese ernst nehmen und nach ihren Ursachen fragen.


Reden wir bei der Wolfsdebatte aneinander vorbei?
Heinzer: Ja, leider häufig. Weil es bei der Diskussion um den Wolf so viele Aspekte gibt, kontert man einen Einwand oft mit etwas völlig anderem. Die Bergbauern haben ein Problem damit, dass ihnen im Umgang mit dem Wolf alles vorgeschrieben wird. Die Wolfsschützer kommen dann mit dem ökologischen Nutzen, den der Wolf bringt. Das bringt dem Bergbauern nichts. Umgekehrt tun Wolfsgegner die Motivation von Wolfsschützern oft als reine Romantik ab - und wollen nicht wahrhaben, dass das ein weit verbreitetes und ernst zu nehmendes gesellschaftliches Bedürfnis ist.


Warum scheinen vom Wolf gerissene Schafe viele Schafhalter stärker zu schmerzen, als solche, die abgestürzt sind?
Heinzer: Abstürze oder Blitzschläge sind für sie akzeptierte Naturgefahren. Sie passieren. Der Wolf nicht. Er ist nur da, weil das andere so wollen. Es ist wie beim Coronavirus. Wer sagt, Pandemien gibt es nun mal, der akzeptiert Einschränkungen. Wer Viruswarnungen als politische Bevormundung empfindet, hingegen nicht.


Wird eine neue Generation von Schafhaltern eher mit dem Wolf leben können, weil er für sie kein Eindringling mehr ist, sondern ein heimisches Tier?
Frank: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Ein älterer Schafhalter hat mir gesagt, ihn nerve es, dauernd mit seinen Kollegen über den Wolf reden zu müssen. Er sehnt sich nach der Zeit zurück, als das nicht so war. Auch Jüngeren bereitet der Wolf Probleme, aber für sie gehört das vielleicht einfach zum Schafhalterdasein dazu, genauso wie man sich über den Schutz vor Steinschlägen oder die Aufzucht von Jungtieren unterhält.


Das neue Jagdgesetz Neues Jagdgesetz Was sich beim Wolfsschutz ändert regelt den Wolfsschutz neu: Abschüsse sollen schneller möglich sein. Kehrt in die Wolfsdebatte Ruhe ein, wenn die Grundsätze mal klar sind?
Heinzer: Ich bin nicht so optimistisch. Eher kann ich mir vorstellen, dass die Verliererseite sehr verletzt sein wird. Bei einem Ja werden die Naturschutzverbände stärker in Opposition gehen, ein Nein würde wohl als Schlag gegen die Bergbevölkerung empfunden.
Frank: Vielleicht schafft ein Entscheid aber auch Klarheit. Nach der Abstimmung haben die verschiedenen Parteien weniger politischen Druck und müssen sich nicht mehr so extrem auf ihre Positionen zurückziehen. Die Fronten könnten sich so wieder entschärfen.

Zu den Personen

Kulturanthropologen Elisa Frank und Nikolaus Heinzer

Elisa Frank und Nikolaus Heinzer arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Ihr vom schweizerischen Nationalfonds unterstütztes Forschungsprojekt trägt den Titel «Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz».

Quelle: ZVG

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