«Glücklich ohne Gott?» Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer würden diese Frage mit «Aber sicher!» beantworten. Religion spielt in ihrem Alltag keine Rolle. Laut einer aktuellen Nationalfondsstudie haben bereits 64 Prozent der Christen im Land ein distanziertes Verhältnis zur Kirche. Heisst, sie bezahlen zwar Kirchensteuern, gehen aber kaum je hin. Viele Distanzierte glauben an eine Art transzendente Lebensenergie, können aber nicht genau erklären, was es damit auf sich hat. Ihre Zahl hat in den letzten Jahren stark zugenommen und dürfte gemäss der Erhebung «Die Religiosität der Christen in der Schweiz und die Bedeutung der Kirchen in der heutigen Gesellschaft» weiter steigen. Während sich in der Kindererziehung bis in die 1940er Jahre meist jener Elternteil durchsetzte, der religiöser war, verhält es sich heute gerade umgekehrt. 20 Prozent, also jeder fünfte Schweizer, jede fünfte Schweizerin hat der Kirche inzwischen ganz den Rücken gekehrt. 1970 war gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung konfessionslos. Verantwortlich dafür macht Jörg Stolz, Religionssoziologe und Mitautor der Studie, die gesellschaftlichen Umbrüche in den 60er Jahren. «Mit dem Übergang zur Ich-Gesellschaft wurde die Konfession respektive die eigene Religiosität zur Option. Gleichzeitig erfolgte in dieser Zeit ein starker Wirtschaftsaufschwung, die Möglichkeiten, die Freizeit zu gestalten, sind stiegen.»
Lebt es sich als Single relativ ungeniert ohne Religion, drängt sich die Glaubensfrage auf, sobald sich Nachwuchs ankündigt. Taufen oder nicht? Mit dem Kind beten oder doch lieber das religionsneutrale «Schlaf, Chindli, schlaf» singen? Was sagen, wenn das Kind fragt, warum wir Ostern feiern? Denn so leer die Kirchenbänke sein mögen, so unwohl ist es vielen Eltern beim Gedanken, ihre Sprösslinge ganz ohne Unterstützung von oben grosszuziehen. Während die Anzahl distanzierter Christen und Konfessionsloser rasant steigt, wurden 2002 in der reformierten Kirche 17'109 Babys getauft, zehn Jahre später sind es immer noch 14'606. In der katholischen Kirche, welche die Zahlen nicht ganz so detailliert erhebt, scheint die Kurve noch flacher abzufallen.
Die meisten Eltern hätten gerne, dass ihre Kinder «etwas von ihrer Religion mitbekämen». Auch jene, die selber mit der Kirche nichts am Hut haben. Also selber eine liebe Göttin kreieren? Oder besser einen Chefengel? Definitiv out ist nämlich für die meisten Mütter und Väter das Bild, das ihre eigene Kindheit geprägt hat: der bärtige Mann, der im Himmel richtet.
Entwicklung der Religionszugehörigkeit in der Schweiz
Unbestritten sind und waren die sogenannt christlichen Werte: Respekt, Toleranz und Nächstenliebe möchten fast alle Mütter und Väter ihren Kindern vermitteln. Aber wie? Die an die Stelle des lieben Gottes getretene «höhere Macht» weist Defizite auf, wenn es darum geht, dem Kind zu erklären, warum es nicht lügen soll oder wo der Hamster hinkommt, wenn er tot ist.
Die gute Nachricht ist: Werte brauchen keinen Gott. «Kinder werden nicht weniger sozial, wenn sie nicht religiös erzogen werden», sagt Religionswissenschaftler Stolz. Das sehe man in Erhebungen, in denen man den Stellenwert sogenannt prosozialer Werte wie «Nicht-Stehlen» oder «Nicht-Lügen» erhoben habe. Diese würden von säkularen Eltern nicht weniger vermittelt als von religiösen. Es seien andere, stark mit der Religion gekoppelte Vorstellungen, die weniger weitergegeben würden: die strenge Sexualmoral zum Beispiel oder die Geschlechterrollen.
Tatsächlich scheint die moralische Veränderungskraft der Religion kleiner, als man gemeinhin annimmt: Ulrich Schnabel, Wissenschaftsjournalist, zitiert in seinem Buch «Die Vermessung des Glaubens» unzählige psychologische und sozialwissenschaftliche Studien zum Thema. Die überwiegende Mehrzahl zeigt: Religiöse Menschen sind weder hilfsbereiter noch toleranter als andere. Also wird die Welt ohne Gläubige nicht rauer? «Nein», sagt Jörg Stolz, «das grösste Thema der Religionen ist und war die Frage nach dem guten Leben. Die wird heute nicht weniger gestellt als früher.»
Schweizer Bevölkerung: Religionszugehörigkeit und Stufen der Religiosität, in Prozent.
Im Kanton Zürich und in weiteren Kantonen hat man das Problem erkannt und geht neue Wege: «Religion und Kultur» heisst das neue Schulfach, das an die Stelle des klassischen Religionsunterrichts tritt. Es vermittelt in erster Linie Grundwissen über alle Weltreligionen und stellt sich ethischen Fragen.
Und auch ausserhalb der Schule passt sich das Angebot der Nachfrage an. Ritualbegleiter bieten Konfessionslosen und distanzierten Christinnen und Christen die Möglichkeit, Hochzeiten, Taufen oder Abdankungen feiern zu können, ohne dafür ein Gotteshaus betreten zu müssen. Diese alternativen Rituale boomen. «Die Religiosität der Menschen nimmt nicht ab», sind sich daher Ritualbegleiter wie Daniel Kallen aus Gerolfingen sicher. Sie verändere sich nur, weg von institutionalisierten Formen hin zu einer individuelleren Spiritualität. Tatsächlich haben Wissenschaftler bereits eine Bezeichnung für die privaten Glaubenswelten moderner Menschen gefunden. Wer christliche Vorstellungen mit Meditationspraktiken aus dem Buddhismus kombiniert oder im katholischen Kirchgemeindehaus Mantras singt, betreibt «bricolage» – religiöse Bastelarbeit.
Wie wärs also an Ostern mit einer Mischung aus christlicher Auferstehung und Ostara, dem Fest zu Ehren der Göttin der Fruchtbarkeit? Der neunjährige Thierry aus Zürich freut sich derweil vor allem auf die versteckten Eier: «Ostern», sagt er, «ist ein bisschen wie Weihnachten, einfach nicht im Winter, eigentlich ein Sommer-Weihnachten. Und man muss die Geschenke suchen, und es gibt nicht so viele wie an Weihnachten. Aber es ist schön, dass es im Sommer auch noch was gibt.»
Das Osterfest ist tief im christlichen Glauben verwurzelt. Doch wissen Sie darüber mehr, als dass Jesus an Karfreitag am Kreuz starb? Wieso heisst der Donnerstag vor Karfreitag «Gründonnerstag»? Was hat es mit dem Tuch der Veronika auf sich? Testen Sie hier Ihr Oster- und weiteres Bibelwissen.
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In allen grossen Religionen gibt es ethische Grundmotive und -werte, die fast gleich sind – etwa die Achtung der Menschenwürde. Sie ist in den meisten Religionen verankert und wird auch «goldene Regel» genannt.
Christentum: «Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, sollt auch ihr ihnen tun.» Matthäus 7, 12
Judentum: «Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun.» Talmud
Buddhismus: «Ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, soll es auch nicht für ihn sein, und ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, wie kann ich ihn einem anderen zumuten?» Reden des Buddha
Islam: «Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.» Hadith 13
Konfuzianismus: «Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an.» Konfuzius, Gespräche 15, 23
Hinduismus: «Man soll niemals einem anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit (Dharma).» Mahabharata
- Anselm Grün, Jan-Uwe Rogge: «Kinder fragen nach Gott. Wie spirituelle Erziehung Familien stärkt»; Rowohlt, 2011, 256 Seiten, CHF 27.90
- Julia Knop: «Die grossen Fragen der Menschen. Ethik für Kinder»; Herder, 2009, 92 Seiten, CHF 24.90
- Ulrich Schnabel: «Die Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt»; Pantheon, 2010, 572 Seiten, CHF 28.90