«Sind die Phantasien schuld?»
Können sexuelle Phantasien das echte Liebesleben negativ beeinflussen?
aktualisiert am 21. Juli 2017 - 00:00 Uhr
Frage von Bea Z.: Wenn ich mich selbst befriedige, habe ich Phantasien - etwa Sex an öffentlichen Orten. In der Realität bereitet mir die Sexualität Probleme. Will mich ein Mann auf den Mund küssen, möchte ich weglaufen. Hängt das mit meinen Phantasien zusammen?
Antwort von Koni Rohner, Psychotherapeut FSP:
Da könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen. Sie haben sich im Kopf eine eigene erotisch-sexuelle Welt zusammengestellt, in der sich alles nach Ihren Vorstellungen abspielt. Auch körperlich verwöhnen Sie sich genau so, wie Sie es brauchen. Wirkliche Begegnungen laufen aber anders ab als phantasierte, weil eine zweite Person mit anderen Wünschen und Vorstellungen beteiligt ist. Sobald also eine reale Begegnung stattfindet, schrecken Sie zurück. Die Kluft zwischen Phantasie und Wirklichkeit blockiert Sie.
Viel mehr Menschen, als man glauben würde, haben ein problematisches Verhältnis zu ihrer Sexualität. Eine Erklärung dafür wäre, dass sich hier ein archaisches Verhalten zeigt, das wir mit den Tieren gemeinsam haben, und dass es uns schwerfällt, es mit dem hohen kulturellen Niveau unserer Gesellschaft in Einklang zu bringen.
Es ist auch denkbar, dass Sie sich für Ihre sexuelle Phantasie schämen, weil sie Ihren Vorstellungen und Idealen von Intimität widerspricht, und es Sie befremdet, dass die Phantasie Ihre Lust bisher immer begleitete. Dabei ist sie gar nicht besonders exotisch: Die Vorstellung einer sexuellen Begegnung an einem öffentlichen Ort finden viele Menschen aufreizend - wahrscheinlich weil die Angst vor Entdeckung die Erregung steigert.
Sexuelle Phantasien können eine Quelle grosser Lust sein oder auch Ursache für tief empfundene Scham. Da das Kino im Kopf aus dem Unbewussten gespeist wird, entsprechen die Bilder eben nicht unseren Idealen und unserem bewussten Selbstbild. Doch sexuelle Phantasien sind typisch menschlich: «Wir wissen heute, dass sie ein normaler universeller Bestandteil der menschlichen Psyche sind», schreibt der britische Sexualtherapeut Brett Kahr, der eine umfangreiche psychologische Studie zum Thema durchgeführt hat.
Es ist denn auch das Beste, diese Phantasien zu akzeptieren und die dabei empfundene Lust zu geniessen. Es gibt auch Phantasien, die sich in die Tat umsetzen lassen. Mit dem Einverständnis des Partners kann man versuchen, sie nachzuspielen. Andere hingegen bleiben besser im Verborgenen. Wenn sich Partner gegenseitig ihre Phantasien erzählen, sollten sie sorgfältig abtasten, ob der andere daran interessiert und bereit ist, sie anzuhören. Man könnte mit einer solchen Eröffnung auch Kränkungen, Eifersucht oder gar Abscheu hervorrufen.
Manche haben aber auch ein schlechtes Gewissen, weil sie beim Sex mit dem Partner oder der Partnerin Bilder von anderen Personen im Kopf haben. Doch dafür muss man sich nicht schämen, denn der Partner erlebt ja die reale Leidenschaft und Zärtlichkeit und nicht den Film im Kopf.
Die Vielfalt der sexuellen Phantasien zeigt, dass die menschliche Sexualität etwas Anarchistisches hat, dass sie sich nicht vollständig zähmen und dem Verstand und der Moral unterwerfen lässt. Aber solange sich diese Vorstellungen nur in Gedanken abspielen, kann ja nichts Schlimmes passieren - und wir können uns an der Kreativität unseres Sexualtriebs einfach erfreuen.