So siegt die Schweiz
Schweizer Game-Designer könnten weit vorn im internationalen Milliardenmarkt mitspielen. Staat und Investoren sind gefragt.
Veröffentlicht am 16. Juni 2016 - 17:18 Uhr
Es fühlt sich an wie Schweben. Gleichmässiges Schweben durch eine Art Röhre. Die Wände schimmern bunt, helle Punkte rauschen vorbei wie Sternschnuppen. Von unten kommen bunte Würfel angeflogen. Wenn der Blick ihnen lange genug folgt, zerspringen sie. Am besten bringt man gleich ganze Würfelformationen zum Platzen, das gibt Gutschriften an Spielzeit. Zeit, um länger durch diese psychedelische Welt zu schweben, begleitet von sphärischen Klängen.
Von weit weg fragt eine Stimme: «Alles okay?»
Ein Griff an dieses Ding, das einem vor den Augen klebt wie eine überdimensionierte Skibrille. Vorsichtig zieht man es vom Kopf, ist zurück in einem kühl beleuchteten Raum, spärlich eingerichtet, weiter vorn ein paar Leute um die 30 vor ihren Computerbildschirmen. Gegenüber sitzt Janina Woods, sie lächelt, sie sagt: «‹Shiny› ist kein Spiel, das man stundenlang spielt. Eher etwas, um zwischendurch abzuschalten.»
«Shiny» ist aber mehr: ziemlich sicher die nahe Zukunft des Computerspiels. Es braucht keine Konsole, keinen Monitor, keinen Joystick. Nur diese Brille, vorn ein Handy reingesteckt, auf dem das Spiel läuft. «Shiny» wurde in Zürich entwickelt, von Janina Woods, 29-jährig. 2013 hat sie eine eigene Firma gegründet, Ateo, zusammen mit Sebastian Tobler, mit dem sie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) Game-Design studiert hat. Die zwei erarbeiten Messeauftritte in Virtual Reality (siehe «Glossar»), die das Publikum mit einer Brille vor dem Kopf selber erkunden kann, für Firmen, die ihre Produkte nicht mehr nur mit Videoclips und Powerpoint vorstellen wollen. Daneben experimentieren Woods und Tobler auf eigene Rechnung mit Computerspielen, loten aus, was sich mit dieser virtuellen Realität sonst noch alles anstellen lässt.
So ist auch «Shiny» entstanden, über drei Jahre hinweg. Diesen Sommer kommt das Spiel auf den Markt, und so aussergewöhnlich es aussehen mag: Vieles an ihm ist typisch für «Swiss made»-Games. Auch die meisten anderen Schweizer Spiele stammen von jungen Enthusiasten, die an Kunsthochschulen in Zürich, Genf und Lausanne ausgebildet wurden und danach mit Studienfreunden eine eigene Firma gründeten, weil es hierzulande keine angestammte Spieleindustrie mit grossen Studios gibt. Allein im letzten Jahr sind rund 60 solcher Start-ups entstanden, Teams mit durchschnittlich fünf Angestellten.
Video: Einblick in das Spiel «Shiny».
Viele von ihnen machen international von sich reden. Wo immer an Game-Festivals Preise verliehen werden, räumen Schweizer Kreationen in schöner Regelmässigkeit ab. Der Ruf der hiesigen Entwickler ist weltweit hervorragend. Sie machen mit ihren preisgekrönten Produktionen teils sogar richtig Kasse.
Der Landwirtschafts-Simulator der Firma Giants Software aus Schlieren ZH zum Beispiel hat sich über sieben Millionen Mal verkauft. Das Spiel, bereits in 16 Sprachen übersetzt, gilt als das erfolgreichste europäische PC-Game überhaupt und beackert nun mit der neuen Version den Markt für mobile Geräte. Bemerkenswert erfolgreich ist auch die Game-App «First Strike» des Zürcher Studios Blindflug. 2014 entwickelt, verkauft sich das Spiel um einen nuklearen Krieg 3000- bis 4000-mal monatlich.
Zwei Leuchtturm-Projekte, die zeigen: Die kleine Schweiz ist gut positioniert, um mit Computerspielen einen ernstzunehmenden Wirtschaftszweig aufzubauen. Es lockt ein Stück eines wachsenden Kuchens mit atemberaubenden Kennzahlen. 2016 werden mit Games weltweit 100 Milliarden Dollar umgesetzt, schätzt das niederländische Branchenportal Newzoo; bei weiter stabilem Wachstum sollen es 2019 120 Milliarden Dollar sein. Im laufenden Jahr wurde erstmals mehr Geld mit Spielen für Tablet und Smartphone verdient als mit solchen für PC oder Konsole. Gut für die Schweizer Anbieter, denn bei den mobilen Anwendungen sind sie mit ihren schlanken Strukturen besonders stark.
Um die Chance zu nutzen, ist die junge Kreativbranche allerdings auf Flankenschutz angewiesen. «Game-Entwicklung ist ein globales Geschäft. Und wenn man will, dass die Produkte hier entstehen, braucht es bessere Rahmenbedingungen», sagt Matthias Sala, Präsident des Dachverbands Swiss Game Developers Association, im Interview mit dem Beobachter. Und das möglichst bald, fügt er bei. Der Markt sei in Bewegung, die Konkurrenz gross. Der Schnellzug des multimedialen Spielens könnte also ohne unser Land abfahren, auch wenn wir momentan noch vorn am Perron stehen.
Das ist auch der nationalen Politik nicht entgangen. Ein Postulat der früheren SP-Nationalrätin und heutigen Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr fordert den Bundesrat zu einer umfassenden Analyse der hiesigen Spieleindustrie auf. Beantwortet werden soll insbesondere die Frage, wie die Schweiz «ihr Potenzial als international führender Standort für Game-Entwicklung ausschöpfen» kann und welche Fördermassnahmen es dazu braucht.
Diesbezüglich gibt es erst zarte Pflänzchen in einzelnen Kantonen. Die beiden Basel betreiben seit Anfang 2016 ein neues Fördermodell für Crossmedia-Projekte. Und im Kanton Zürich hat die Gruppierung «Zürich für den Film» soeben die Volksinitiative für ein neues Film- und Medienförderungsgesetz eingereicht, das auch interaktive Werke einschliessen soll.
«Game-Design ist für mich die Königsdisziplin des Entertainments.»
Janina Woods, Entwicklerin von «Shiny»
Die Politik setzt sich also neuerdings ernsthaft mit Computerspielen auseinander, nachdem die Branche vor kurzem noch belächelt worden ist. Pro Helvetia allerdings erkannte das Potenzial des Genres schon früher. Von 2010 bis 2012 steckte die Stiftung, die im Auftrag des Bundes das kulturelle Schaffen in der Schweiz fördert, 1,5 Millionen Franken in ihr Programm «GameCulture». Unterstützte gelungene Spiel-Prototypen, um ihre Weiterentwicklung zu fördern, ermöglichte Game-Designern die Teilnahme an internationalen Messen.
Pro Helvetia anerkannte Computerspiele damit als Kulturgut und als künstlerische Disziplin, gewissermassen ein Ritterschlag für alle, die in muffigen Büros vor dem Computer sassen und Spiele austüftelten.
Auch künftig wird die Stiftung an der Game-Industrie dranbleiben: In der Kulturbotschaft des Bundes für die Jahre 2016 bis 2020 hat sie den Auftrag bekommen, die Game-Förderung zu thematisieren und mit den Akteuren der Wirtschafts- und Innovationsförderung zu koordinieren. Klar ist dabei eins: Die Schweiz wird nie konkurrieren können mit den Studios in den USA, Kanada oder Japan, wo Teams mit über 200 Leuten während fünf Jahren ein Spiel entwickeln. Das muss sie aber auch gar nicht.
«Es gibt genügend Raum jenseits der grossen Akteure», sagt der britische Game-Designer Chris Solarski, der in Zürich lebt. Die Spieleproduktion sei demokratischer geworden, seit es Plattformen gebe, auf denen Entwickler ihre Produkte unabhängig von den Big Players zum Herunterladen anbieten können.
«Da hat sich weltweit eine innovative Szene entwickelt, die Dinge ausprobiert, an die sich die grossen Studios gar nicht wagen», sagt der 37-Jährige. Solarski, Verfasser eines Standardwerks zu Game-Art, ist überzeugt: «In diesen Nischen liegen die Chancen der Schweizer Entwickler.»
Wie lukrativ diese Independent-Spiele sein können, zeigt «Firewatch», ein Game, in dem man in die Rolle eines Parkwächters im Yellowstone-Nationalpark schlüpft. Schon einen Monat nach der Veröffentlichung im Februar wurde es über eine halbe Million Mal zu einem Preis von knapp 20 Franken heruntergeladen. Man rechne. Hinter dem Spiel steckt eine junge Firma in San Francisco mit elf Angestellten.
Dass sich nicht nur in Asien und Nordamerika, sondern auch in kleineren Märkten mit Computerspielen viel Geld verdienen lässt, beweist die finnische Spieleschmiede Supercell. 2010 dank einem staatlichen Kredit von 400'000 Euro gegründet, erwirtschaftete sie im letzten Jahr 848 Millionen Euro Gewinn. Die Investition des Staats hat sich mehr als ausgezahlt: Supercell hat ihm in Form von Steuern mittlerweile mehrere hundert Millionen Euro zurückerstattet.
- Inspiration zu dieser Timeline: museumofplay.org
Glossar: Die Welt der digitalen Spiele
Was bedeuten «Mixed Reality», «Gamification» oder «Exergames»?
Unser Game-Glossar hilft.
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Das Beispiel könnte ein Muster zur Nachahmung sein, auch für private Investoren. Doch in der Schweiz hapert es damit: Was nach Spiel und Spass klingt, scheint suspekt zu sein im Land von zwar potenten, aber wenig experimentierfreudigen Geldgebern. Eine aktuelle Erhebung des Schweizer Dachverbands Swiss Game Developers Association bei hiesigen Entwicklerfirmen zeigt: Nur zwei Prozent der Gelder kommen von Investoren. Die Mittel, um die Studios am Laufen zu halten, stammen zu 25 Prozent aus Kundenprojekten und zu 40 Prozent aus dem Sack der Firmeninhaber, die sich ihren Traum vom erfolgreichen Computerspiel über Erspartes und Nebenjobs querfinanzieren.
Solange sich nicht in grösserem Stil Geldgeber finden lassen, die an die Zukunftsbranche glauben, liegt das Risiko daher bei den meist jungen Pionieren, mit entsprechenden Konsequenzen. «Wir konnten uns monatelang keinen Lohn auszahlen», sagt etwa Fabian Troxler.
Immerhin scheint der Mitinhaber der 2015 gegründeten Zürcher Firma Somniacs mit dieser Gratisarbeit aufs richtige Pferd gesetzt zu haben. Auf eines, das fliegt. Somniacs entwickelte den bahnbrechenden Flug-Simulator «Birdly», von dem bereits einige Stück «zum Preis eines guten Sportwagens» verkauft worden sind.
Für viele frisch ausgebildete Spieleentwickler bleibt neben dem Wagnis Start-up derzeit nur der Gang ins Ausland. Vor allem auf Games spezialisierte ETH-Absolventen finden fast ausschliesslich in der Fremde eine passende Stelle. Denn anders als die Studenten der Zürcher Hochschule der Künste bringen sie meist nur mässig ausgeprägte gestalterische Fähigkeiten mit. Die braucht es aber zwingend, um ein erfolgreiches Spiel zu kreieren.
Hier will Bob Sumner, Professor für Game-Technology an der ETH Zürich, Abhilfe schaffen. «Wir unterrichten zwar bereits seit zehn Jahren Game-Technology als Modul des Informatikstudiums. Doch das ist rein auf unsere Informatikstudenten zugeschnitten.» Deshalb wurde letztes Jahr in Zürich das Game Technology Center gegründet, eine Plattform, auf der Absolventen von ZHdK und ETH an gemeinsamen Projekten arbeiten. Dabei müssen unterschiedliche Kulturen zusammenwachsen. An der Kunsthochschule wird das Kreative grossgeschrieben: In den Schulzimmern stehen ein Flipperkasten, eine Playmobil-Burg oder eine 30-jährige Ur-Spielkonsole. «Bei uns an der ETH findet man so etwas nicht», lacht Sumner.
Die Vorstellungen des Game-Professors gehen noch weiter: «Das Ziel ist, der Wirtschaft beizubringen, dass Spiele nichts Unnützes sind.» Geplant ist, Firmen gegen Entgelt Kurse in Spieleentwicklung anzubieten, damit Games in deren Marketing oder Schulung einfliessen können. Wichtig wäre auch Frühbildung in Sachen Computer und Programmieren. Wobei es nicht gleich so weit gehen muss wie im norwegischen Bergen, wo «Computerspiele» demnächst ein eigenes Schulfach wird.
«Wir würden es begrüssen, wenn Kinder schon an der Primarschule mit Programmieren konfrontiert würden», sagt Bob Sumner. Es gehe dabei nicht darum, den perfekten Code zu schreiben. «Programmieren ist letztlich nichts anderes, als Lösungen für Probleme zu finden. Und diese Art zu denken kann man lernen.» Von Sumners 27 ETH-Studierenden im Bereich Game-Development sind sieben Frauen. Vielleicht Anzeichen einer Trendwende; gegenwärtig ist die Szene männerlastig. Allerdings, so «Shiny»-Entwicklerin Woods, sei die Sparte jung und sehr klein. «Sie wächst mit den Studienabgängern zwar jedes Jahr, aber praktisch alle kennen sich.»
Video: Zusammenschnitt gemeinsamer Arbeiten von Studenten der ETH Zürich und der Hochschule der Künste Zürich (ZHdK), die am «Game Technology Center» der ETH Zürich entstanden sind.
Dass sich überhaupt eine Szene bilden konnte, liegt vor allem am Engagement der Kulturstiftung Pro Helvetia. Zuvor hätten die meisten Entwickler allein vor sich hin gewerkelt, sagt Szenekenner Chris Solarski. «Erst als sie über Pro Helvetia entdeckten, dass sie nicht allein sind, begannen sie sich zu vernetzen.» Das immer unter der Marke «SwissGames».
«Als Einzelkämpfer schaffen es ein paar Schweizer vielleicht zu lokaler Bekanntheit, aber niemals auf den internationalen Markt», sagt Sylvain Gardel, bei Pro Helvetia zuständig für «GameCulture» und das Nachfolgeprogramm «Mobile». «SwissGames» soll ein Label werden, unter dessen Dach eine Generation von Game-Designern den Durchbruch schafft.
Die Gilde ist eher von Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt als von Rivalität. «Die Game-Designer unterstützen sich gegenseitig, denn sie haben ein Interesse daran, dass gute Spiele auf den Markt kommen», sagt Solarski. «Wenn sich Schweizer Games etablieren, haben alle etwas davon.»
Der Plan könnte aufgehen. «Das internationale Echo zeigt, dass Schweizer Game-Designer gerade im Bereich von Virtual Reality an der Spitze sind», sagt Sylvain Gardel von Pro Helvetia. Schweizer Entwicklungen seien bekannt für technische Ausgereiftheit wie für inhaltliche Stärke. Das macht selbst die Filmszene neugierig: In Cannes und beim Sundance Film Festival waren Schweizer Delegationen an Veranstaltungen eingeladen, in denen neue Formate und neue Formen des filmischen Geschichtenerzählens diskutiert wurden.
Es ist also einiges in Bewegung. Auch bei Janina Woods, die sich mit ihrem «Shiny» zuweilen vorkommt wie auf einem Ritt durch den Wilden Westen. «Jeder, der etwas für Virtual Reality entwickelt, ist ein Pionier», sagt sie. «Wir müssen das Medium alle noch erlernen.» Erst langsam entwickelten sich Designregeln, welche Farbgebung funktioniere, welche Effekte man einbauen könne – es soll ja niemandem übel werden, wenn er mit der VR-Brille in die virtuelle Welt eintaucht. «Es sind so viele Dinge, die man da zusammenbringen muss. Darum ist Game-Design für mich die Königsdisziplin des Entertainments.»
Dann muss Janina Woods los: Der neuste Prototyp von «Shiny» wartet auf die nächste Überarbeitung.
Interview: «Computerspiele passen zur Schweiz»
«10 bis 50 Leute braucht es, um ein Game herzustellen», sagt Experte Matthias Sala im Interview. «Die nötigen Talente haben wir.»