Der Weg zurück ins Leben
Laufschuhe für einen Ex-Alkoholiker, Klubmitgliedschaft für einen Flüchtling, Notoperation für eine Katze: mit kleinen Beiträgen grosse Wirkung erzielen – so hilft SOS Beobachter.
Den Entzug hatte Sven Kopp hinter sich. Der unbändige Drang nach Alkohol war unterdrückt. Aber da waren noch die vielen Kebabs und Bratwürste gewesen. «Ich sah aus wie ein Dunkin’ Donut», erzählt der 33-Jährige aus dem Kanton Zürich. 91 Kilo wog er. Also fing er an zu joggen, erst 10 Minuten, dann 20, irgendwann 50. Als er bei 20 Kilometern pro Lauf angelangt war, beschloss er, für einen Marathon zu trainieren.
«Wenn ich etwas mache, gebe ich Vollgas» – heute mit dem Laufen, früher mit den Drogen und dem Schnaps. Damals, noch vor wenigen Jahren, war Kopp «nur noch ein Hüüfeli Eländ». Er lebte im Männerwohnheim der Heilsarmee und soff von morgens bis abends. «Ich war vollends abgestürzt, hatte keinen Anker mehr.»
Über das Laufen sagt Kopp: «Je länger ich jogge, je stärker der Körper schmerzt, desto freier und positiver fliessen meine Gedanken.» Der Drang nach Alkohol lässt nach.
Im letzten Winter steckt er sich ein konkretes Ziel: im April den Zürich-Marathon laufen. Doch das Startgeld ist zu hoch, seine Joggingschuhe sind kaputt, die Sohle durchgetreten, der Stoff durchlöchert. Geld für neue hat der Sozialhilfeempfänger nicht. 265 Franken kostet Kopps Anti-Alkohol-Programm – SOS Beobachter springt ein, bezahlt Schuhe und Startgeld.
Soll eine gemeinnützige Stiftung, die für Menschen in Not da ist, ihre Spendengelder für eine letztlich private Leidenschaft wie das Laufen einsetzen? Sie soll, findet Walter Noser, Leiter von SOS Beobachter. «Oft lässt sich das eigentliche Problem mit einem finanziellen Beitrag nicht beheben», sagt er, «aber wir können Notlagen erträglicher machen.»
Wichtig dabei ist, dass die Hilfe über den Moment hinausgeht. «Unsere Unterstützungsmassnahmen sollen den Betroffenen eine Perspektive eröffnen», sagt Walter Noser. Bei der Vergabe stützt sich die Stiftung auch auf die Einschätzungen der Leute, die die Menschen in schwierigen Lebenssituationen begleiten – Beistände, Therapeutinnen, Juristen.
Bei Kopp war es seine Betreuerin in der Suchtklinik. Sie hatte während der Behandlung aus nächster Nähe mitverfolgt, wie das regelmässige Training den jungen Mann stabilisiert und seine Abstinenz festigt.
Wenn Sven Kopp läuft, läuft er ein Stück weit auch seiner Vergangenheit davon. «Sagen wir es mal so: Ich hatte eine nicht ganz einfache Kindheit», meint er. Die Eltern waren Wirte, Alkoholiker, Ausländerhasser. «Ich war ihr Ablassventil.» Der Vater verprügelte ihn, wenn er schlechte Noten heimbrachte, die Mutter terrorisierte ihn mit Vorwürfen. «Sie sind meine Dämonen», sagt Kopp.
Vor fünf Jahren beschliesst er, den Dämonen auf den Grund zu gehen, macht einen Entzug und begibt sich in Therapie. Vier Jahre lang bleibt er clean, arbeitet in Sozialfirmen und lernt seine Partnerin kennen, «eine wunderschöne Frau».
Dann stirbt seine Grossmutter. Ihr Tod wirft Sven Kopp aus der Bahn, das Grosi war in der Kindheit sein einziger Halt gewesen. Er greift zum Schnaps, erst ein Schluck, dann eine Flasche, dann zwei, Kopp trinkt sich in den Exzess. Joggen kann er jetzt nicht mehr. Er verliert den Job und beinahe auch die Partnerin. Nach drei Monaten ist der Spuk vorbei, Kopp weist sich selbst in die Klinik ein und macht den zweiten Entzug. «Es stand zu viel auf dem Spiel.» In der Klinik fängt er wieder mit dem Laufen an.
Heute sitzt der 33-Jährige aufrecht am Tisch, sein Blick ist ruhig und bestimmt, er spricht schnell und pointiert. Der gelernte Pfändungsbeamte will wieder arbeiten, am liebsten als Sozialarbeiter. «Auf dem Papier bin ich selber ein übler Sozialfall, aber das sagt nicht alles über mich.» Er finde rasch den Draht zu Menschen, könne offen reden. Kopp bewirbt sich für Praktikumsstellen im Sozialbereich. Mit Hilfe eines Jobcoachs plant er seine Bewerbungen, diskutiert, wie er seinen Lebenslauf kommunizieren will. «Ich möchte offen sein, ich stehe zu meiner Vergangenheit», sagt Sven Kopp. Punkten wolle er mit dem, was er vorzuweisen habe: Wille, Hartnäckigkeit, Zielstrebigkeit.
Kopp hat im April den Zürich-Marathon geschafft, trotz Schnee, Hagel und Regen, trotz Grippe und Zerrung am Fuss. «Es bedüütet mir unwaarschiinli vil!!!», schreibt er dem Beobachter gleich nach dem Lauf. Und: «Ich habe gespürt, dass ich wieder beissen kann.» Ohne den Zustupf von SOS Beobachter hätte er diese Erfahrung nicht machen können.
Kopps erstes Vorstellungsgespräch hat gefruchtet: zwei Tage Schnuppern als Sozialarbeiter. «Mir ist das Herz aufgegangen», sagt er. Das Praktikum liege in Reichweite. «Langsam fühlt es sich wieder gut an, in meiner Haut zu stecken.» Sven Kopp wird weiter rennen. Er hat bereits ein neues Ziel ins Auge gefasst: einen Ultramarathon, noch mehr Kilometer. Man erinnere sich: «Und wenn ich etwas ankündige, ziehe ich es auch durch.»
«Menschliche Organe haben einfach schöne Formen, weich, harmonisch. Momentan arbeite ich an einer aufgeschnittenen Niere, durch die später Wasser fliessen wird. Das Stück ist aus einem Kalkstein, dem rosa Flamingo. Es ist angenehm, mit Stein zu arbeiten. Es lassen sich erstaunliche Feinheiten heraushauen, und am Schluss erzeugt das Schleifen eine spannende Farbveränderung.
Gestein ist etwas Wunderbares. Jeder, der hierher ins Atelier kommt, greift instinktiv nach einem der Objekte, um das Material in der Hand zu spüren. Ich habe als Kind gern Mineralien und Fossilien gesammelt – jetzt bin ich also wieder bei den Steinen angelangt.
Auf einem grossen Umweg allerdings. Noch während der Lehre bei den SBB wollte ich anders leben. Gelandet bin ich auf der Strasse, bei den Drogen. Während einer Therapie in Spanien habe ich einen Keramiker getroffen, das war mein erster Kontakt mit der Kunst. Nach Vorkurs und zwei Jahren Ausbildung an der ‹Kunsti› Luzern starb mein bester Freund.
Ich stürzte erneut ab, wieder Drogen, Alkohol. Im Entzug durfte ich dann einen Bildhauerkurs machen. Diese Erfahrung in zwei Worten: ‹huere guet›! Denn damals habe ich gemerkt: Die Bildhauerei könnte mir nicht nur eine neue Perspektive bieten, sie tut mir auch sonst gut. Die Arbeit mit dem Stein hat etwas Meditatives. Ich bin dadurch ruhiger geworden, mein Leben hat sich stabilisiert. Endlich etwas Bleibendes zu schaffen, das habe ich vorher nicht gekannt.
Momentan mache ich den dritten Jahreskurs im Atelier von Andreas Hungerbühler. Er ist mein Mentor und unterdessen auch ein Freund. Jeden Mittwochnachmittag komme ich zu ihm nach Bürglen im Thurgau, dieser Termin ist mir heilig. Ich mache stetig Fortschritte, das ist ein gutes Gefühl. Heute kann ich sagen, dass ich das Material im Griff habe. Und vor allem: Heute kann ich auch eigene Ideen umsetzen – wie ein Künstler eben.
Mir ist wichtig, dass die Formen, die ich kreiere, realistisch sind. Mit allzu abstrakter Kunst kann ich nichts anfangen. Mein nächstes Objekt steht schon dort in der Ecke, jener dunkle Steinquader, ein Travertin. Es wird eine Leber.»
«Eigentlich habe ich nur aus Langeweile angefangen, mit anderen hier im Asylzentrum Volleyball zu spielen. Ich mag diesen Sport sehr. Ein Mitarbeiter hatte dann die Idee, ich könnte doch in einem Verein trainieren. Im Internet fanden wir den Volleyballclub Langenthal und fragten die Verantwortlichen an. Dass SOS Beobachter die Kosten für Mitgliedschaft und Lizenz übernahm, war eine grosse Erleichterung. Von dem kleinen Tagesbeitrag, den wir hier erhalten, hätte ich mir das nicht absparen können.
Seit etwa vier Monaten bin ich nun richtiges Mitglied und trainiere zweimal pro Woche. Es ist für mich viel mehr als Sport. Am Anfang konnte ich mich mit den Volleyballkollegen nur auf Englisch unterhalten. Inzwischen spreche ich ausschliesslich deutsch mit ihnen. Sie sind alle sehr offen und haben mich sofort aufgenommen. Ich habe durch sie viele neue Wörter gelernt, und es geht immer besser – i cha sogar o scho es Betz Bärndütsch. Mir liegt viel daran, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Denn ich möchte mich integrieren, vorankommen im Leben.
Am liebsten wäre mir eine Ausbildung im Informatikbereich. Damals in Syrien habe ich die Matura gemacht und als Shishameister gearbeitet, Wasserpfeifen fachgerecht für Restaurantbesucher gestopft. Kurz bevor wir fliehen mussten, habe ich einen Kurs für einen internationalen Computer-Fähigkeitsausweis angefangen, konnte ihn aber nicht mehr beenden. Ich bin zusammen mit meiner Mutter und einem Bruder sowie dessen Familie geflohen.
Meine Mutter und ich leben seit 2014 immer noch im Asylzentrum in Aarwangen, denn es ist sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Sie darf maximal 800 Franken kosten. Je mehr Leute man kennt, desto eher findet man vielleicht auch selber eine Bleibe. Das ist meine grosse Hoffnung.»
«Irgendwann habe ich herausgefunden, dass ich adoptiert bin. Obwohl ich es gut hatte in der Pflegefamilie, wuchs der Wunsch, meine leiblichen Eltern zu treffen. Irgendwann hat mich dann die Mutter einer Halbschwester über Facebook gefunden, weil sie meinen Vornamen kannte und wegen meines ähnlichen Aussehens. Ich konnte es kaum glauben, als ich ihre Nachricht erhielt. Kurz darauf fuhr ich erstmals nach Bosnien, mit einer Tante aus St. Gallen, die übersetzen konnte.
Inzwischen habe ich meine leiblichen Eltern fünfmal besucht. Der Kontakt zu ihnen, zu meiner Schwester und meinen Halbgeschwistern ist mir sehr wichtig. Das sind meine Wurzeln. Das hilft mir, mich selber zu finden und meine Probleme besser in den Griff zu kriegen. Ich leide an einer psychischen Erkrankung, lebe derzeit von der IV und arbeite halbtags im geschützten Rahmen.
Ich habe den Schweizer Nachnamen abgelegt und denjenigen meiner Mutter angenommen, auch wenn das hier vielleicht Nachteile bringt. In meiner bosnischen Familie sprechen nur wenige Deutsch. Zuerst wollte ich mir mit CDs selber Bosnisch beibringen. Doch das funktionierte nicht. Da ich Mühe habe, unter Leute zu gehen, ist ein normaler Sprachkurs ebenfalls nichts für mich.
Seit einem Jahr erhalte ich durch den Beitrag von SOS Beobachter einmal pro Woche Einzelunterricht. Ich mache Fortschritte, obwohl ich wegen ADHS Konzentrationsschwierigkeiten habe. Jetzt schon freue ich mich darauf, dass ich hoffentlich bald keinen Übersetzer mehr brauche, wenn ich meine Familie besuche.»
«Es waren furchtbare Tage, als das Leben meines sechsjährigen Katers Manson an einem dünnen Faden hing. Er hatte schwere Quetschungen erlitten, deshalb funktionierten seine Organe nicht mehr. Es wurde klar, dass er dringend operiert werden musste. Mir drehte es das Herz herum, als ich ihn da liegen sah, nur noch ein Häufchen Elend.
Damit ich Manson nach der Behandlung wieder mit nach Hause nehmen konnte, wollte der Tierarzt zuerst Geld sehen. Es war verrückt. Das erste Mal seit Ewigkeiten war bei mir Ende Monat etwas übrig geblieben, aber in so kurzer Zeit mehr als 1000 Franken aufzubringen, das war schlicht unmöglich. Zum Glück hat mir SOS Beobachter geholfen.
In der Jugend hatte ich es schwer. Meine Mutter starb an Aids, mein Bruder an einer Überdosis. In dieser Zeit war ich ohne Halt, habe alles angefangen und nichts fertig gemacht. Schliesslich stand ich ohne Lehrabschluss da. Nach einer Umschulung war ich eine Zeitlang Mechanikerin, doch seit ein paar Jahren lässt die Gesundheit keine geregelte Arbeit mehr zu. Nesselfieber, Staphylokokken: Es erwischt mich immer wieder, zusätzlich zu den psychischen Problemen, die ich seit der Kindheit habe.
Aber ich schlage mich durch, so gut es geht. Und ich bin niemandem etwas schuldig. Das ist mir wichtig. Ohne meine Tiere hätte ich das Kämpfen längst aufgegeben. Ich weiss, das klingt für andere blöd, aber die Tiere sind meine Familie: die Kater Manson und Milow und Hund Blacky, der mich seit 16 Jahren begleitet. Sonst lebe ich allein.
Manson geht es heute gut. Seinen Namen hat er übrigens von dem Rockmusiker Marilyn Manson. Ihm gleicht er auch: ein bisschen ein Proll, etwas verrückt, aber herzensgut. Manson schafft es immer wieder, mich zum Lachen zu bringen.»
Liebe Leserinnen und Leser
In diesem Artikel finden Sie Beispiele von Unterstützungsleistungen der Stiftung SOS Beobachter, die Sie vielleicht etwas erstaunen. Spendengelder, um jemandem Laufsport oder Bildhauerei zu ermöglichen? Wir finanzieren solche Anliegen aus Überzeugung, denn dahinter steckt mehr als bloss ein privates Hobby. Sondern: ein kleines Element, das eine ungeahnte Hebelwirkung haben kann, damit Menschen in Notsituationen wieder auf die Beine kommen.
Diese individuelle Hilfe abseits von vorgestanzten Mustern ist aufwendig, denn jeder Fall muss einzeln geprüft und fachlich abgesichert werden. Für diese Aufgabe kann das Team der SOS-Geschäftsstelle auf den Support der Fachleute im Beobachter- Beratungszentrum zählen – ein zentraler Faktor für die professionelle Arbeit unserer Stiftung.
Herzlichen Dank, dass Sie uns mit Ihren Spenden oder Legaten auch künftig beim Helfen helfen!
Roland Wahrenberger, Präsident der Stiftung SOS Beobachter
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