Die Kleinen kommen zu kurz
Uno-Kinderrechtskonvention hin, Schweizer Zivilgesetzbuch her: In Familienangelegenheiten entscheiden die Behörden sehr oft über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinweg. Wie nötig unabhängige Kinderanwälte sind, zeigen die Fälle um Ruben, Sonia und Sandra.
Veröffentlicht am 16. November 2007 - 15:31 Uhr
Ruben ist nicht zu beneiden. Mutter Lucille Hunkeler und Vater Stefano Bianchi streiten sich mit allen Mitteln um ihn. Sie versteckt ihn, der Vater lässt die Mutter als Kindesentführerin verhaften und nach Italien bringen. Doch zu wem der achtjährige Ruben möchte, fragte bisher niemand. «Für Ruben müssten die Richter jetzt unbedingt einen Kinderanwalt einsetzen», sagt Reto Gantner, der Anwalt der Mutter. «Er braucht Hilfe, damit er sich unabhängig von den Eltern vor Gericht wirksam für das einsetzen kann, was er will. Er darf nicht zum Spielball der Interessen seiner Eltern werden.»
Ob Ruben seine Wünsche mit Hilfe eines Anwalts vor Gericht je wird einbringen können, ist ungewiss. Und das liegt nicht nur am italienischen Rechtssystem. Denn selbst in der Schweiz, wo Richter grundsätzlich verpflichtet sind, Kinder in Scheidungsverfahren anzuhören, und Gerichte Kindern einen Anwalt beigeben können, wird dies äusserst selten gemacht.
Kommt es gar zu einer Entführung wie im Fall Ruben, spielt die Meinung der Kinder und Jugendlichen eine noch kleinere Rolle. Wie auch Sandra (Name geändert) erleben musste. Die 13-Jährige wehrte sich dagegen, mit ihrer Mutter nach Brasilien auswandern zu müssen. Sie wollte in der Schweiz bleiben, wo sie den Grossteil ihres Lebens verbracht hatte und wo ihr Vater lebt. Sie tauchte ab und versteckte sich. Doch die Vormundschaftsbehörde und das Bezirksgericht Rheinfelden entschieden im letzten Frühling, sie müsse mit der Mutter nach Brasilien. Sandra wurde von Polizisten aufgegriffen und in ein Gefängnis verbracht, wo sie auf die Rückschaffung warten sollte.
Die treibende Kraft dahinter war Sandras Beistand, der eigentlich eingesetzt war, um ihre Interessen zu wahren. Dass dem aber nicht so war, hatte Sandra schon früh gemerkt und eine Anwältin beauftragt, ihren Willen ins Verfahren einzubringen. Diese wurde aber regelrecht abgestraft: Die Vollmacht der Anwältin sei ungültig, da die 13-Jährige nicht urteilsfähig sei, fand das Rheinfelder Bezirks- und zuletzt auch das Aargauer Obergericht. Weil bereits ein Beistand für die Kindesinteressen sorge, brauche es keinen Anwalt. Doch damit nicht genug: Der Anwältin wurden die Parteikosten der Mutter auferlegt, weil sie durch ihre Beschwerde unnötigen Aufwand verursacht habe. Im Klartext: Die Anwältin muss rund 8000 Franken zahlen, weil sie sich erfrechte, einer Jugendlichen in existentiellen Fragen beizustehen. Immerhin: In der Sache selbst korrigierte das Obergericht den Fehlentscheid der Vorinstanz. Sandra darf in der Schweiz bleiben. Für Beistand und Vormundschaftsbehörde hat ihr Verhalten aber keine Konsequenzen.
Unsere Gesellschaft scheint zu Kindern und Jugendlichen ein gespaltenes Verhältnis zu haben: Zum einen werden Kinder in immer jüngerem Alter für ihre Taten wie Erwachsene verantwortlich gemacht. Zum Beispiel im Strafrecht, wo bereits 15-Jährige bis zu einem Jahr und 16-Jährige bis zu vier Jahren ins Gefängnis gesteckt werden können. Zum andern lässt man sie kaum mitreden bei so entscheidenden Fragen wie der, in welchem Land oder bei welcher Vertrauensperson sie aufwachsen wollen. So wird zum Beispiel die 13-jährige Sonia Idemudia zu ihren greisen Grosseltern nach Nigeria zurückgeschickt, obwohl sie hier in der Familie des Schweizer Vaters und in der Schule in Zürich-Schwamendingen bestens integriert ist. Nur weil das ausländerrechtliche Argument, Sonia sei illegal in die Schweiz eingereist, von den Migrationsbehörden höher gewichtet wird. Weder die Zürcher Migrationsbehörde noch der Regierungsrat haben Sonia angehört.
Kinder haben durchaus Rechte
Dabei sind die Leitlinien der Gesetze klar: Die Uno-Kinderrechtskonvention verlangt, dass die Meinung von Kindern bei allen Massnahmen, die sie betreffen, vorrangig zu berücksichtigen ist. Wenn sich die Eltern scheiden lassen oder eine Gefahr für ein Kind besteht und die Behörden deshalb überlegen, ob es in einem Heim oder bei Pflegeeltern besser aufgehoben ist, ist das Kind gemäss Zivilgesetzbuch anzuhören. Auch ist nach Schweizer Recht klar, dass jeder urteilsfähige Mensch Rechte ausüben kann, die ihm um seiner Persönlichkeit willen zustehen. Also darf ein Jugendlicher auch einen Anwalt beauftragen, wenn es um so wichtige Sachen geht wie die Frage, wo er leben soll.
Doch dies ist noch nicht zu allen Behördenvertretern durchgedrungen, die als Erste mit den Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Noch immer glauben etwa viele Kindesschutzbehörden, dass der Staat besser weiss, was für Jugendliche gut ist, und hören diese manchmal nicht einmal an. So auch bei Katharina (Name geändert).
Die Zwölfjährige wurde Ende letzten Jahres vom Vormund unter dramatischen Umständen aus ihrer Pflegefamilie gerissen, bei der sie seit acht Jahren lebte und sich wohl fühlte. Der Grund: Die Pflegemutter war mit ihren drei Kindern ins Frauenhaus geflüchtet, weil ihr Partner sie geschlagen hatte. Deshalb griff der Vormund ein, ohne das Kind oder die Mutter je angehört zu haben, und löste den Vertrag mit der Pflegemutter auf. Die Vormundschaftsbehörde deckte sein Vorgehen. Erst der Regierungsrat sprach Klartext: Das Kind sei nicht gefährdet, weil sich ja die Pflegemutter umgehend vom Mann getrennt habe, als dieser gewalttätig wurde. Der Regierungsrat rüffelte hingegen den Vormund. Er habe sich um die Meinung des Kindes foutiert, obwohl er eigentlich dessen Interessen wahrnehmen sollte, und habe nicht mal geantwortet, als Katharina ihn in einem Brief fragte, weshalb sie nicht mehr bei ihrer Pflegemutter leben dürfe. «Das befremdet», schrieb der Regierungsrat und entliess den Vormund. Das Kind lebt unterdessen in einem Internat, darf aber an den Wochenenden und in den Ferien zurück in seine gewohnte Familie.
Möglich wurde dies nur, weil ein unabhängiger Kinderanwalt sich für Katharina einsetzte und vom Regierungsrat als Rechtsvertreter akzeptiert wurde.
Die Beistände sind oft überfordert
«Ich kenne einige solche Fälle», sagt Heinrich Nufer, ehemaliger Leiter des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind. «Amtliche Beistände sind oft zu stark verflochten mit öffentlichen Diensten und können sich deshalb nicht immer ‹unabhängig› und voll für die Interessen des Kindes einsetzen.» Tatsächlich liegen dem Beobachter rund ein Dutzend ähnliche Fälle vor, die zeigen, dass Kinderbeistände nicht selten überfordert sind oder sich zu wenig um den Willen des Kindes kümmern. Auf diesen Mangel hat der Privatrechtsprofessor Cyril Hegnauer, der Schöpfer des aktuellen Kindesrechts, bereits vor mehr als einem Jahrzehnt hingewiesen und einen unabhängigen Anwalt des Kindes gefordert, wie er sich in den USA und in England bereits seit 30 Jahren bewährt.
«Auch die Schweiz braucht unabhängige Kindesvertreter», sagt Rechtsanwalt Stefan Blum, der oft für Kinder Verfahren führt. Für heikle Fälle müsse das Gesetz die zuständige Behörde verpflichten, unabhängige und speziell ausgebildete Personen einzusetzen, die allein den Interessen des Kindes verpflichtet sind: «Und wenn ein Kind urteilsfähig ist, kann es schon nach geltendem Recht jederzeit selbst einen Rechtsvertreter beauftragen.»
«Das tönt gut, führt in der Praxis aber zu vielen neuen Problemen», kontert Peter Renggli, der als Bezirksratsschreiber in Dietikon ZH in einer Behörde arbeitet, die auch Anordnungen von Kindesschutzstellen überprüft. «Soll jedes Kind selbst bei einer Lappalie mit einem Anwalt gegen Entscheide der Behörden vorgehen können?», gibt er zu bedenken. Nach Renggli sind Jugendliche erst ab rund 16 Jahren reif, einen Rechtsvertreter zu nehmen. «Auch ich will sicher nicht, dass Kindesinteressen unter den Tisch fallen», sagt er. Die anwaltliche Vertretung sei gewiss geboten, wenn Eltern, Vormund oder Erziehungsbeistand nicht mehr angemessen handeln können. «Aber unsere Beistände erledigen ihre Arbeit grossmehrheitlich gut und umsichtig. Ich sehe keinen Grund, weshalb hier Anwälte noch mitreden sollen.»
Bundesrat und Parlament wollen nun zumindest ansatzweise auf die Missstände reagieren. Im neuen Gesetz über Kindesentführungen ist vorgesehen, dass Kinder zwingend einen Vertreter erhalten. Weniger weit geht der Gesetzgeber beim Vormundschaftsrecht: Hier soll es weiter im Ermessen der Behörden liegen, ob Kinder und Jugendliche Hilfe von unabhängigen Rechtsvertretern erhalten. Damit wird nur in Erinnerung gerufen, was schon heute möglich wäre.
Übrigens: Sämtliche Kinder in den beschriebenen Fällen (mit Ausnahme von Ruben) erhielten Rechtshilfe von SOS Beobachter.