Während er erzählt, tätschelt Andy Guillod den Kühlschrank, wie ein Bauer seine Kuh. Das Gerät hat in der «Metzgerhalle» in Grenchen zuverlässig seine Leistung erbracht, aber jetzt muss es ersetzt werden: Nach jahrelangem Dauereinsatz ist die Türdichtung hin. Courant normal in einer Beizenküche. Aber dieser Kühlschrank hier hat für den Chef des Hauses eine spezielle Bedeutung. «Er ist ein Symbol dafür, dass ich damals eine Chance bekommen habe.»

Damals, das war 2010. Den Kühlschrank konnte sich Andy Guillod dank einem Beitrag der Stiftung SOS Beobachter anschaffen, als er die Pacht der Wirtschaft übernahm. Ein Puzzlestein auf dem Weg «in mein zweites Leben», wie er damals sagte. Im ersten Leben war er sich einige Male selber im Weg gestanden und auf die Nase gefallen. Und vor allem: Die Gesundheit hatte nicht mitgespielt. Die Aufgabe als Beizer sollte dem gelernten Heizungszeichner die Stabilität geben, um mit seinen psychischen Problemen besser zurechtzukommen.

Doppelter Erfolg

Chance eins: genutzt. Heute sagt Guillod: «Diese Arbeit ist die beste Medizin für mich.» Die feste Tagesstruktur zwinge ihn dazu, rauszugehen, auch wenn sich eine Krise anschleicht. «Ich lasse mich nicht mehr fallen. Das war früher anders.» Auch während der durch Corona erzwungenen Schliessung war er jeden Tag in «meinem Restauräntli». Irgendetwas zu tun gibt es immer.

Chance zwei: ebenfalls genutzt. Als Branchenfremder mit sehr wenig Eigenmitteln ein Restaurant übernehmen, das muss eigentlich schiefgehen. Aber die «Metzgerhalle» gibt es noch immer. Selbst den Lockdown hat Guillod einigermassen glimpflich überstanden. Dank Corona-Kredit, Kurzarbeit und einem freundlichen Vermieter: Er reduzierte die Miete, noch ehe der Wirt ihn darum bitten musste.

Keine Extravaganzen

In seinem zweiten Leben gelingt es Guillod, sich durchzuschlängeln. Das hat viel damit zu tun, dass er stets in Bodennähe agiert. Keine Experimente, keine Extravaganzen. «Ich arbeite, so gut ich kann, und lebe von dem, was am Schluss übrig bleibt.» Mit 10'000 Franken im Minus hat er vor zehn Jahren angefangen, heute ist er etwa gleich viel im Plus – ein kleines Polster, das ihm die gröbste Angst vor dem Scheitern nimmt. «Reich werde ich nicht mit meiner Beiz, dafür glücklich.» Das sagte er vor zehn Jahren – und beim Gespräch am Kühlschrank wiederholt er den Satz wortwörtlich.

Überhaupt: Viel hat sich nicht geändert an der Centralstrasse. Nicht Andy Guillod – die Glatze, das Kinnbärtchen, die randlose Brille, der Basler Dialekt. Gut, geheiratet hat er neu, Kuaymai Guillod, Thailänderin. Dank ihr ist die Küche des Lokals nun eine exklusiv thailändische. Aber sonst: alles beim Alten. Die Wände zugepflastert mit Bildern, häufig Fasnachtssujets. Dazu Fussballsachen, ein wilder Mix: signiertes GC-Leibchen neben Knüpfteppich des FC Basel.

Die Flasche Bier kostet immer noch Fr. 4.90, den Dezi Pinot noir gibt es für 3.20. Und kaum kommt jemand durch die Tür, weiss der Chef schon Bescheid. «Sali, du bekommst dein Bier, gell?» Als Beilage dazu den «Blick». Eine Dorfbeiz, die gar nicht mehr sein will.

«Ich weiss, was für ein Antrieb es sein kann, wenn einem im richtigen Moment geholfen wird.»

Andy Guillod

Guillod kann es mit den Leuten, hat ein Gespür für sie, auch das war schon immer so. Der Mann, der vor über 40 Jahren erstmals in Thailand war und seither nicht mehr loskommt vom Land des Lächelns, dort auch einen 17-jährigen Sohn hat, versucht nach den Grundsätzen des Buddhismus zu leben. Er glaubt daran, dass etwas Gutes zurückkommt, wenn man gut ist zu den Menschen um einen herum.

Eine Episode? Am Neujahrsmorgen 2019 fand Andy Guillod in seinem Briefkasten ein Couvert mit Bargeld, ein stattlicher Betrag. Von wem die Unterstützung kam, weiss Guillod bis heute nicht. Er versucht, etwas zurückzugeben, indem auch Randständige in seiner Beiz willkommene Gäste sind. Manchmal ist das Bier für sie gratis, oder er steckt ihnen ein Nötli zu, wenn sie Kredit brauchen. «Ich weiss ja selber, was für ein Antrieb es sein kann, wenn einem im richtigen Moment geholfen wird.»

Davonlaufen

Bei Sven Kopp war das Laufen die Triebkraft, mit der er seiner Alkoholsucht und seiner Vergangenheit entkommen wollte. Beim Rennen sind alle Sorgen wie vergessen. Die Laufschuhe, die SOS Beobachter ihm vor vier Jahren finanzierte, besitzt er immer noch. «Sie sehen inzwischen etwa so verbraucht aus wie meine alten von damals», sagt der 38-Jährige. Den Ultramarathon, den er sich zum Ziel gesetzt hatte, ist er allerdings nie gelaufen. Das Leben kam dazwischen – es schlug Haken.

Kopp war damals auf dem Weg, Altenpfleger zu werden. Er hatte die Aufnahmeprüfung für die Schule zum Pflegefachmann HF bestanden und eine Ausbildungsstelle in Aussicht. «Ich habe in Pflegeheimen geschnuppert und sehr gutes Feedback erhalten. Mündlich wurde mir eine Stelle zugesagt», erzählt er. Doch dann lag unerwartet die Absage im Briefkasten. Den Grund habe ihm niemand so recht erklären können. Er erfülle die Anforderungen nicht, hiess es nur.

Seine Vergangenheit habe den Ausschlag gegeben, vermutet Kopp. Eine schwierige Kindheit hat Spuren hinterlassen im Lebenslauf. «Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich trockener Alkoholiker bin. Vielleicht haben sie es sich deshalb anders überlegt.»

Das zog ihm den Boden weg. «Also widmete ich mich meinem Hobby und fing wieder an zu saufen, statt zu laufen», sagt er sarkastisch.

«Eine Garantie, dass unsere Unterstützung nachhaltig wirkt, gibt es nicht. Manchmal kommt es halt anders als geplant.»

Walter Noser, Geschäftsleiter SOS Beobachter

War die Turnschuhspende von SOS Beobachter also für die Katz? Mitnichten, sagt SOS-Geschäftsleiter Walter Noser. «Das Leben ist nicht Mathematik.» Man achte stets darauf, dass eine Spende ein konkretes Problem beheben könne, das im Moment besonders drückt. «Doch eine Garantie, dass unsere Unterstützung nachhaltig wirkt, gibt es nicht. Manchmal kommt es halt anders als geplant.» Trotzdem könne eine Zuwendung auch in solchen Fällen viel auslösen. «Sie zeigt dem Empfänger, dass jemand an ihn glaubt. Diese Bestätigung ist auch langfristig wertvoll.»

Sven Kopp fing sich nach seinem Absturz schnell wieder – nach ein paar Monaten war der Spuk vorbei. Er war in der Entzugsklinik und trocken. Der Kampf gegen die Sucht begleitet ihn aber weiter. Heute meditiert er lieber, statt zu joggen, wenn die Gedanken anfangen zu kreisen. Von der Sozialhilfe konnte er sich noch nicht lösen.

Doch er eignete sich viel Wissen an rund um das Thema Schwarzerde. Als Bonsai-Liebhaber stiess er auf die japanische Methode, wie man mit Hilfe von Mikroorganismen und Grünabfall diese besonders fruchtbare Erde herstellt. «Bokashi» nennt sich das Verfahren, es soll Sven Kopp den Weg in die Zukunft ebnen. Mit drei Kollegen schmiedet er grosse Pläne: Einer besitzt 150 Hektaren Landwirtschaftsland in Thailand, wo die vier Medizinalhanf anbauen wollen. «Der Reisbauer, der das Land jetzt bewirtschaftet, produziert bereits Schwarzerde und bereitet den Boden vor. Jetzt suchen wir Investoren.»

Im Nationalkader

Wer keine Träume hat, wird auch nichts erreichen. Das scheint auch Gohar Tamrazyan verinnerlicht zu haben. Die 16-jährige Gymischülerin aus dem Aargau hat schon mehr erreicht, als sie sich wohl je erträumt hat. Gohar ist ein grosses Schachtalent. Damit sie an ersten Turnieren teilnehmen und sich mit ebenbürtigen Gegnern messen konnte, erhielt das Mädchen vor fünf Jahren einen Zustupf von SOS Beobachter – zur Entlastung des Familienbudgets.

Seither hat sich Gohar für jede einzelne Europa- oder Weltmeisterschaft ihrer Altersklasse qualifiziert. Sie spielte etwa in Griechenland, Indien, Tschechien, Georgien und an vielen Turnieren in der Schweiz. Mit gerade mal 13 Jahren wurde sie ins Nationalkader B der Frauen aufgenommen. Am meisten bedeutet ihr aber der Schweizer-Meister-Titel, den sie letztes Jahr in der Kategorie U-16 Open holte. Open heisst: Auch Jungs spielen mit. Und die sind meist besser als die Mädchen. Warum, weiss Gohar Tamrazyan auch nicht so genau. «Auf jeden Fall ist es selten, dass ein Mädchen alle Buben schlägt.»

Doch von nichts kommt nichts. Während des Lockdowns habe sie bis zu sechs Stunden pro Tag geübt – per Skype mit ihrem Trainer, einem Grossmeister aus ihrem Herkunftsland Armenien, oder selber mit Buch und Brett. Sie studiert die Partien grosser Spieler, büffelt Eröffnungen und Strategien, übt Taktiken. Die Bücher in ihrem Regal tragen Titel wie «Stellungsbeurteilung + Planung». Irgendwo steht Stefan Zweigs «Schachnovelle» – aber nur weil sie das Buch für die Schule lesen muss.

«Auf jeden Fall ist es selten, dass ein Mädchen alle Buben schlägt.»

Gohar Tamrazyan, 16, ist ein grosses Schachtalent

Gohar Tamrazyan, 16, ist ein grosses Schachtalent. Sie gehört zur nationalen Spitze in ihrer Altersklasse.

Quelle: Christian Schnur

«Mit Schach ist man nie fertig, man lernt immer wieder Neues», sagt Gohar über ihre Begeisterung für das Spiel der Könige. Diese schimmert auch in ihren E-Mails durch, die sie stets «mit schachlichen Grüssen» signiert. Obwohl ihre Liste von Erfolgen lang ist, hat sie weitere Ziele: «Ich möchte ins A-Kader und meine Elo-Punkte von 1850 auf 2100 steigern.» Elo-Punkte sind sozusagen die Währung im Schachsport. Man gewinnt sie an Turnieren – oder büsst sie ein, wenn man gegen tiefer bewertete Spieler verliert. «Mein grösster Feind ist die Uhr. Manchmal überlege ich zu lange und gerate am Ende in Zeitnot.»

Im echten Leben wird ihr das vermutlich nicht passieren. Obwohl sie gerade erst mit dem Gymi angefangen hat, weiss Gohar, was sie später machen will: Jura, Wirtschaft oder Informatik. Ein Plan, fast so klar wie die Eröffnung eines Schachspiels.

Auch Beizer Andy Guillod, der mit 66 Jahren im Leben schon mehr hinter als vor sich hat, kennt seinen Weg genau. «Ich mache weiter, solange ich kann», sagt er. Seine Altersrente ist zu klein, um davon leben zu können. Ausserdem: «Das ist mein Nest, das ich mir mit der Hilfe von guten Leuten schaffen konnte. Weshalb sollte ich das verlassen?»

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