«Zum ersten Mal vertraut jemand darauf, dass ich es packe»
Löst Autofahren ein Problem? Kann ein Fitnessabo Not lindern? Wann hilft eine Weiterbildung wirklich weiter? Mit solchen Fragen beschäftigt sich das Team der Stiftung SOS Beobachter jeden Tag. Denn es klärt genau ab, wer von der Stiftung Hilfe erhält.
Der Strassenverkehr in Äthiopien funktioniert nach einem einfachen Prinzip: fahren, wenns geht, anhalten, wenn einer im Weg steht. Ampeln brauchen äthiopische Autofahrer nicht. Zebrastreifen kennen sie zwar, doch es käme niemandem in den Sinn, einem wartenden Fussgänger den Vortritt zu lassen. Das zumindest sagt Girma Yadessa. Er muss es wissen, er stammt aus Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba.
Die Schweizer Verkehrsverhältnisse sind für den vorläufig aufgenommenen Flüchtling denn auch sehr ungewohnt. Und momentan eine grosse Herausforderung. Yadessa ist nämlich gerade dabei, den Führerschein zu machen. «Hier gibt es so viele Regeln. Es ist schwierig, sich alles zu merken», sagt er. Doch er ist mit grosser Entschlossenheit bei der Sache. Wann immer es geht, sitzt er hinter dem Steuer. Das Billett ist für ihn mehr als ein Stück Plastik. Es ist die Karte, auf die er alles setzt: seine Zukunft.
Der Vater von vier Kindern ist 2012 mit seiner Familie in die Schweiz geflüchtet. Er ist auf Sozialhilfe angewiesen. «Das ist mir sehr unangenehm», sagt er. «Doch es ist schwierig, eine Stelle zu finden.» In seiner Heimat hatte er als Buchhalter gearbeitet, «aber ohne Computer». Yadessa ist weder besonders gross noch besonders kräftig – kein Mann für schwere körperliche Arbeit. So kam er auf die Idee, die Fahrprüfung zu machen. «Als Chauffeur finde ich am ehesten eine Stelle», glaubt er. Nur Auto fahren kann er nicht. Und Fahrstunden sind für ihn unbezahlbar.
Ein klassischer Fall für SOS Beobachter. Die Stiftung springt dann in die Bresche, wenn alle anderen Finanzierungsmöglichkeiten wegfallen und eine Unterstützung dem Betroffenen neue Perspektiven eröffnet. Das abzuklären ist die tägliche Arbeit des dreiköpfigen SOS-Teams.
Jede Woche prüfen die drei rund 50 Gesuche. «Meist müssen wir bei den Gesuchstellern oder bei den Vermittlungspersonen nachhaken», sagt Teammitglied Claudia Keller. Dabei stellen sich immer wieder ähnliche Fragen: Könnte nicht die Schulbehörde die Kosten für das Klassenlager des Mädchens übernehmen? Müsste nicht die IV die Umschulung des Verunfallten bezahlen? Ist es sinnvoll, Krankenkassenschulden zu übernehmen, wenn im nächsten Monat wieder kein Geld dafür vorhanden ist?
«Es geht immer um Subsidiarität und Nachhaltigkeit: Kann jemand anders den Betrag übernehmen? Und behebt das Geld ein Problem langfristig?», so Keller. Manchmal stelle SOS Beobachter auch konkrete Bedingungen. «Wir verlangen etwa, dass jemand eine Schuldenberatung besucht, bevor wir eine Unterstützung bewilligen.»
Sobald klar ist, dass SOS Beobachter eine Finanzierung übernimmt, geht es um die Details. Muss das neue Velo fabrikneu sein, oder tut es ein gebrauchtes auch? Braucht man ein Macbook, um Bewerbungen zu schreiben? «Gerade bei Computern hängt es stark davon ab, wozu man sie braucht. Je nachdem lohnt sich ein leistungsstarkes Occasionsgerät oder ein günstiger neuer PC», sagt SOS-Mitarbeiter Beat Handschin. Zum Job des Teams gehört es daher auch, die aktuellen Preise zu kennen und Betroffenen entsprechende Tipps zu geben.
Auch im Fall von Lernfahrer Girma Yadessa tauchten Fragen auf. Beim Ausfüllen des Gesuchformulars half ihm ein freiwilliger Mitarbeiter der Asylorganisation Zürich. Dennoch blieb eine wichtige Frage offen: Wer garantiert, dass der Flüchtling wirklich eine Stelle findet, wenn er einmal Auto fahren kann? SOS Beobachter bat den Gesuchsteller um den entsprechenden Nachweis eines Arbeitgebers. So machte sich Yadessa auf die Suche und fand über einen Bekannten einen Pizzakurier, dessen Chef ihm schriftlich eine Stelle zusicherte.
Der Finanzierung der Fahrstunden stand nun nichts mehr im Weg. Spätestens Ende Juli will Yadessa das Billett in der Tasche haben – und dank dem Job als Pizzalieferant bald auf eigenen Beinen stehen.
Selber für sich aufkommen – davon träumt auch Maja Bächer*. Die 49-Jährige lebt schon lange von der Hand in den Mund, seit vier Jahren von der Sozialhilfe. Sie findet trotz Hochschulabschluss keine feste Stelle. Schon die Lehrer hätten nie an sie geglaubt, sagt sie. «Als ich zur Maturaprüfung antreten wollte, sagten sie: ‹Das schaffst du eh nicht.›» Das Studium musste sie sich selber finanzieren, die Eltern fanden es weder nötig noch sinnvoll.
Als Studentin arbeitete Bächer bei verschiedenen Projekten als Eventmanagerin mit, organisierte Kongresse oder Veranstaltungen an den Hochschulen. «Ich liebe es, so fokussiert auf ein bestimmtes Ziel hinzuarbeiten, dass manchmal alles drunter und drüber geht, man aber immer alles zu einem guten Ende bringt.» Die Begeisterung, mit der sie über die Jobs spricht, lässt keine Zweifel aufkommen: Als Organisationstalent geht sie in dieser Aufgabe voll auf.
Nach dem Studienabschluss bewarb sie sich überwiegend für Stellen im Eventmanagement. Doch trotz ihrer Erfahrung wurde sie immer nur befristet für einzelne Projekte engagiert. Am Anfang sei das ja noch lustig gewesen, sagt sie. Ungebunden zu sein, mal hier arbeiten, mal da. Inzwischen, 14 Jahre später, ermüdet sie die Situation. «Es ist unglaublich anstrengend, sich selber immer wieder aufs Neue vermarkten zu müssen. Ich beginne langsam, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln. Es verunsichert mich sehr.»
Im Lebenslauf machen sich die befristeten Engagements nicht gut. Hinzu kommt, dass Maja Bächer keine eigentliche Ausbildung vorweisen kann. Sie vermutet, dass viele Bewerbungen auch daran scheitern. Daher fasste sie einen CAS-Lehrgang an einer Fachhochschule ins Auge. Das Zertifikat wird zeigen, dass sie auf dem aktuellen Stand des Wissens ist. Nur das Geld dafür fehlte. Über ihre Beraterin bei der Stiftung IPT, die ihr bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt hilft, wandte sich Bächer an SOS Beobachter. Als sie positiven Bescheid erhielt, war sie erleichtert. «Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass jemand an mich glaubt, mich einfach so unterstützt und darauf vertraut, dass ich es packe», sagt sie.
«Dass wir nicht nur Spendengelder auszahlen, sondern dank unserem Fachwissen auch Wege aus einer Sackgasse aufzeigen können.»
Walter Noser, 53, Geschäftsführer
«Dass der Stiftungszweck Raum für unkonventionelle Lösungen lässt. Und dass wir mit geringen Verwaltungskosten professionelle Arbeit leisten können.»
Beat Handschin, 34, Sachbearbeiter und Product Manager
«Dass wir jedes Gesuch individuell prüfen und rasche, unbürokratische Hilfe leisten.»
Claudia Keller, 47, Sachbearbeiterin
«Einfach so» stimmt natürlich nicht ganz. Auch bei Bächers Gesuch waren Nachfragen nötig. Hat sie abgeklärt, ob sie ein Stipendium erhalten könnte? Wären die Eltern bereit, die Ausbildung zu finanzieren? Ist sie sicher, dass die Sozialhilfe für ihren Lebensunterhalt weiter aufkommt, wenn sie in einer Ausbildung steckt und in dieser Zeit auf dem Arbeitsmarkt nicht sofort vermittelbar ist?
Etliche Mails gingen hin und her, bis für Walter Noser, Geschäftsführer von SOS Beobachter, klar war: Hier sollte die Stiftung helfen. «Besonders wichtig war in diesem Fall die Zusicherung des Sozialamts, dass die Sozialhilfe während der Ausbildung weiterläuft. Sonst wäre der Schuss für Frau Bächer nach hinten losgegangen.»
Tatsächlich war das Sozialamt zunächst wenig begeistert von der Idee und sperrte sich gegen Bächers Ausbildungspläne. Erst als SOS Beobachter die Kosten übernahm, lenkte die Behörde ein. Seit Februar dieses Jahres drückt Bächer nun wieder die Schulbank. «Es ist eine Bereicherung und eine Bestätigung zugleich. Ich sehe, dass ich bisher vieles aus dem Bauch heraus richtig gemacht habe, und erhalte jetzt das theoretische Fundament», sagt sie.
Ein nützlicher Nebeneffekt der Ausbildung: Bächer kommt unter Leute aus der Branche, kann ihr Netzwerk erweitern und so die Chancen auf einen Job erhöhen.
SOS Beobachter konnte einen Teil dazu beitragen. Doch: «Finanzielle Hilfe allein reicht meist nicht, um wieder voll in eine bessere Zukunft durchzustarten», sagt Walter Noser. «Wie heisst es so schön: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen. Um Leute aus der Armut zu befreien, braucht es die ganze Gesellschaft und couragierte Helfer.» Die meisten Unterstützungsgesuche an die Stiftung werden denn auch von Drittpersonen eingereicht, die den Hilfesuchenden beistehen. Bei Maja Bächer war es ihre Eingliederungsberaterin, bei Girma Yadessa der freiwillige Helfer der Asylorganisation, der ihn regelmässig trifft und ihm in allen Lebensbelangen hilft.
SOS Beobachter heisst ein bisschen mehr als die Hälfte der Gesuche gut. Die Abklärungen des SOS-Teams können aber sogar bei einer Ablehnung eine Hilfe sein. «Wir begründen unsere Entscheide immer schriftlich und klären die Betroffenen über ihre Rechte auf», sagt Walter Noser. Wenn sich zum Beispiel herausstelle, dass eigentlich eine Versicherung oder die öffentliche Hand bezahlen müsste, weise man die Betroffenen darauf hin. Sie müssen dann notfalls den Rechtsweg beschreiten. «Wir können als Hilfswerk nicht die Probleme des Staats lösen.»
Das SOS-Team arbeitet eng mit dem Beratungszentrum des Beobachters zusammen und greift immer wieder auf dessen Know-how zurück. «Wir haben sozusagen frei Haus Juristen, die sich auf allen Rechtsgebieten bestens auskennen. Das spart unglaublich viel Zeit und Geld – ein grosser Vorteil gegenüber anderen Hilfswerken», so Geschäftsführer Noser. In der Regel dauert es drei bis vier Wochen, bis ein Gesuch behandelt wird. Die Abklärungen selber nehmen meist nur wenige Tage in Anspruch, auch wenn die Fragen teilweise komplex sind.
Manchmal geht es aber auch relativ einfach, und die Stiftung kann mit vergleichsweise wenig Aufwand etwas bewirken. Wie bei Jan T. Der gelernte Koch ist 38 Jahre alt, gross gewachsen, durchtrainiert, wirkt kerngesund. Doch das ist nur die Hülle. Innen sieht es anders aus. Seit Jahren kämpft er gegen seine Drogensucht. Es fing an, als er 15 war und von Party zu Party zog. Irgendwann brauchte er keine Party mehr, nur noch Drogen. «Ich landete extrem schnell bei Heroin und Kokain», erzählt er.
Inzwischen hat er schon vier Langzeittherapien hinter sich – immer wieder ist er rückfällig geworden. «Ich kann eigentlich gar nicht erklären, warum ich abgestürzt bin und es immer wieder tue. Ich hatte eine schöne Kindheit.» Er habe 20 Jahre seines Lebens an die Drogen verloren, sei zum Sozialfall geworden. Nun wolle er es endlich schaffen, wegkommen von der Sucht.
Im Rahmen seiner Therapie lebt Jan T. derzeit bei einem älteren Ehepaar auf einem Bauernhof. Er hilft auf dem Hof mit, füttert die Kälber, hackt Holz, baut Zäune, pflegt die Weiden. Doch abends ist er meist sich selber überlassen. «Damit kann ich schlecht umgehen, ich bin gesellig, ein Familienmensch», sagt er. Gleichzeitig ist er eine Sportkanone, braucht viel Bewegung, um sich wohl zu fühlen. «Ich gehe oft joggen, Velo fahren oder wandern. Aber auch dabei bin ich immer allein», erzählt er. Der Eintritt in einen Sportverein hätte sich nicht gelohnt, da er nur vorübergehend auf dem Hof lebt. Er bat SOS Beobachter um Geld für ein Abo im Fitnesscenter – so käme er beim Sport wenigstens ein bisschen unter die Leute.
In seinem Gesuch war noch nichts von den sozialen Gründen gestanden, die für ein Abo sprachen. Das Team von SOS Beobachter musste nachhaken. Die Argumente leuchteten Claudia Keller ein: «Es ist eine sinnvolle Investition, wenn man verhindern kann, dass jemand vielleicht wieder abstürzt, weil ihm die Decke auf den Kopf fällt.»
Zum Dank hat ihr Jan T. von Hand einen langen Brief voller Zukunftspläne geschrieben: «Ich gehe mindestens dreimal pro Woche ins Training und hatte noch keinen Rückfall, seit ich hier bin. Ich setze alles daran, dass das auch so bleibt.»