Besoffener Fussgänger – eine Gefahr für den Strassenverkehr?
Die Polizei findet einen Fussgänger sturzbetrunken im Strassengraben. Dieser wird anschliessend zum psychiatrischen Eignungstest für Autofahrer aufgeboten. Was soll das?
aktualisiert am 7. Juli 2017 - 17:23 Uhr
Es ist kurz vor Weihnachten 2015, mitten in der Nacht, irgendwo im Aargau. Die Polizei wird gerufen, weil ein Fussgänger einen anderen Mann im Strassengraben findet. Dieser ist offenbar gestürzt und kann nicht mehr selbständig aufstehen. Die Diagnose im Spital: 2,27 Promille Alkohol im Blut – und ein gebrochener Fuss.
Fünf Monate später wird der gestürzte Fussgänger vom Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau überraschend zu einer verkehrspsychiatrischen Begutachtung aufgeboten. Zu diesem werden Personen bestellt, deren Fahrtauglichkeit das Amt anzweifelt – die Kosten von mehr als 1000 Franken sind im Voraus zu bezahlen. Der Grund für die Massnahme: Die Polizei hatte den Sturz beim Strassenverkehrsamt gemeldet, obwohl der Mann zu Fuss unterwegs war. Er war vorbelastet, weil ihm in der Vergangenheit wiederholt wegen Vereitelung der Blutprobe und Fahrens in angetrunkenem Zustand der Führerschein entzogen worden war.
Der Mann wehrte sich gegen das Aufgebot zum «Idiotentest» – wie er im Volksmund genannt wird – bis vor Bundesgericht, das ihm in letzter Instanz Recht gab (Urteil 1C_144-2017 vom 02.06.2017). Ihn einer verkehrspsychiatrischen Begutachtung zu unterziehen, sei nicht gerechtfertigt gewesen, weil sich der Mann seit sechs Jahren im Strassenverkehr bewährt habe, so das Gericht: «Es erscheint plausibel, dass es sich an diesem Abend beim Rauschtrinken um ein isoliertes Ereignis handelte, das keinen Bezug zum Strassenverkehr hat.»
Das Bundesgericht räumt in seinem Urteil zwar ein, dass der Leumund des mehrfach mit Alkohol am Steuer erwischten Mannes erheblich getrübt ist. Nicht verständlich sei es allerdings, dass die Aargauer Behörden einen Eignungstest angeordnet hatten, ohne dem Mann den Führerausweis vorsorglich zu entziehen, wie das üblich ist. Damit ging das Strassenverkehrsamt davon aus, dass das Gefährdungsrisiko gering war. Als Folge des Urteils muss der Aargau die Gerichtskosten von knapp 3000 Franken übernehmen und dem Mann für sämtliche Verfahren eine Entschädigung von 6000 Franken überweisen.
«Dem Aargauer Strassenverkehrsamt fehlt immer noch die richtige Balance im Umgang mit potentiellen Verkehrssündern», sagt Daniel Leiser, Experte für Strassenverkehr im Beobachter-Beratungszentrum. «Während das Vorgehen früher viel zu lasch war, ist es heute viel zu streng.» Der Hintergrund: Zwischen 2003 bis 2006 kamen bei schweren Verkehrsunfällen im Kanton drei junge Frauen ums Leben. Verursacht wurden sie von Lenkern, die bereits vorher – zum Teil massiv und mehrfach – aufgefallen waren (der Beobachter berichtete). Nach einer parlamentarischen Untersuchung der Vorfälle verschärfte das Strassenverkehrsamt seine Praxis massiv. Anschliessend gab es mehreren Rügen vom Bundesgericht, weil die Aargauer wie im oben beschriebenen Beispiel Führerscheine entzog oder Aufgebote zum Eignungstest verschickten, ohne dafür eine rechtliche Grundlage zu haben.
Bei Alkohol am Steuer gibt es so gut wie keine Entschuldigung, weshalb strikte Grenzwerte gelten. Mitglieder des Beobachters erfahren mithilfe eines Merkblatts, wie hoch sich die Bussen je nach Promillegehalt belaufen, wann der Fahrausweis weg ist und weshalb schon eine tiefe Alkoholkonzentration als Fahren im angetrunkenen Zustand (FiaZ) angesehen werden kann.
Auch in anderen Kantonen hat sich die Praxis verschärft – spätestens seit «Via Sicura» vor vier Jahren schweizweit in Kraft getreten ist. Dieses Massnahmenpaket sollte die Zahl der Verkehrstoten auf ein Minimum senken. Doch immer wieder werden Fälle bekannt, bei denen die Behörden übers Ziel hinausschiessen. Erst vor kurzem berichtete zum Beispiel der Tages-Anzeiger über eine Zürcherin, die aufgrund einer anonymen Meldung zur verkehrspsychiatrischen Begutachtung aufgeboten wurde. Sie war verdächtigt worden, ein Drogenproblem zu haben. Es gab allerdings keinen Beweis, dass sie tatsächlich Drogen konsumiert hätte, geschweige denn, dass sie unter Drogeneinfluss Auto gefahren wäre. Bezahlen musste sie den Test trotzdem.
Haben Sie auch solche oder ähnliche Erfahrungen mit dem Strassenverkehrsamt gemacht?
Dann schreiben Sie an info@beobachter.ch oder in die Kommentarspalte.