Wenn Tiere träumen
Wie schlafen Tiere? Mit neuen Methoden bringen Forscher Licht ins Dunkel.
aktualisiert am 5. März 2018 - 17:53 Uhr
Das Faultier hangelt sich möglichst energiesparend von Ast zu Ast und frisst nährstoffarme Blätter. Oder es schläft, und zwar 16 bis 18 Stunden pro Tag. So die gängige Meinung, die in diversen Zoos mit wissenschaftlichen Methoden verifiziert werden konnte. Doch dann sah der Schlafforscher Niels Rattenborg im Dschungel Panamas nochmals genauer hin. Und siehe da: In Freiheit lebende Faultiere schlafen täglich knapp zehn Stunden – massiv weniger als ihre exzellent versorgten, aber wahrscheinlich etwas gelangweilten Artgenossen im Zoo.
Biologen erforschen seit Jahrzehnten den Schlaf der Tiere und erleben dabei immer wieder Überraschungen. Auch was die Bienen betrifft, musste die gängige Lehrmeinung korrigiert werden. Jungbienen sind für das Putzen der Waben verantwortlich und stecken jeweils bis zu anderthalb Stunden lang mit dem Kopf in einer Zelle der Wabe. Darum galten sie als eifrig. Eine krasse Fehleinschätzung: Die Jungbienen putzen selten, sie machen vor allem Nickerchen.
Wenn die Fühler nach unten sinken, schlafen Insekten
Die Forscher versuchen herauszufinden, was Schlaf überhaupt ist. Insekten gelten als schlafend, wenn sie auf normale Reize nicht reagieren und wenn ihre Muskelspannung so weit nachlässt, dass Beine, Kopf und Fühler, sofern sie solche haben, nach unten sinken. Man kann sogar nachweisen, dass Insekten entgangenen Schlaf bei Gelegenheit nachholen.
Bei Säugetieren verraten geschlossene Augen, eine regelmässige, ruhige Atmung und entspannte Muskeln den Schlaf. Forscher können die Hirnströme mit auf den Kopf geklebten Elektroden messen und auf diese Weise verschiedene Schlafphasen unterscheiden.
Ein kleines Tier brauche viel Schlaf, ein grosses wenig, hiess es lange. Auf den ersten Blick stimmt das: Fledermäuse schlafen bis zu 20 Stunden, Meerschweinchen zehn, Kaninchen neun, Schweine acht, Kühe und Pferde vier Stunden pro Tag. Doch Elefanten schlafen mit vier Stunden deutlich «zu viel» für ihre Grösse. Auch Hunde und Tiger widerlegen mit elf respektive 16 Stunden Schlaf die Faustregel. Klar ist: Es gibt im Tierreich Kurz- und Langschläfer, auch innerhalb einer Art.
Heute gehen die Forscher davon aus, dass die Schlafgewohnheiten von der Ernährung abhängig sind: Pflanzenfresser schlafen wenig, Fleischfresser viel. Wer grosse Mengen energiearmer Blätter oder Gräser zu sich nimmt, braucht dafür viel Zeit. Zudem müssen Pflanzenfresser vor Raubtieren auf der Hut sein, für die sie im Tiefschlaf eine leichte Beute wären. Fleischfresser dagegen sind nach einem Jagderfolg für längere Zeit satt. Da können sie auch ausgiebig schlafen. Allesfresser wie wir Menschen haben entsprechend ein mittleres Schlafbedürfnis.
Beim Wiederkäuen dösen Schaf und Kuh unauffällig weg
Allerdings stimmt auch diese Theorie nach dem neusten Stand der Forschung nicht wirklich. Mittels Hirnstrommessung wurden Kuh und Schaf dabei ertappt, wie sie beim Wiederkäuen gern mal unauffällig wegdösen. Manche unterbrechen dafür nicht einmal das Kauen. In den acht Stunden, die eine Kuh täglich mit Wiederkäuen verbringt, kann da einiges an Schlaf zusammenkommen.
Kompliziert wird es, wenn Wale oder Delfine ein wenig schlummern möchten. Die Meeressäuger müssen regelmässig an die Oberfläche, um zu atmen. Weil sie das nicht unbewusst können, wenden sie einen Trick an: Sie schlafen nur mit einer Gehirnhälfte und halten für alle Fälle ein Auge offen, während sie im Kreis schwimmen und regelmässig Luft holen. Was bei diesem Halbseitenschlaf, auch «unihemisphärischer Schlaf» genannt, im Hirn passiert, ist unbekannt. Ein frei schwimmender Wal lässt sich schwerlich zur Messung seiner Schlafphasen verkabeln.
Bei Vögeln geht das einfacher. Auch sie pflegen den unihemisphärischen Schlaf und schlummern im Zweifelsfall lieber halbseitig als gar nicht. Doch während Delfine erst nach einigen Minuten oder sogar Stunden die Hirnhälfte wechseln, beherrschen Vögel den unihemisphärischen Schlaf nur über kurze Zeiträume.
Trotzdem bringt ihnen der Halbseitenschlaf Vorteile. Faultierbeobachter Niels Rattenborg, der heute nicht mehr im Dschungel schwitzt, sondern die Forschungsgruppe Vogelschlaf am Max-Planck-Institut für Ornithologie im bayerischen Seewiesen leitet, stellte das bei Enten fest: «Sie handhaben das sehr sozial. Wenn sie in Gruppen ruhen, schlafen die äusseren Enten tendenziell halbseitig und halten mit einem Auge Wache.» Das von der Gruppe abgewandte Auge öffnen sie immer wieder für kurze Zeit. Das andere bleibt geschlossen.
Auch Enten schlafen lieber mit beiden Hirnhälften
«Mit der Zeit rücken andere Mitglieder der Gruppe nach aussen, so dass alle irgendwann in den Genuss des beidseitigen Schlafs kommen.» Die Enten haben also eine einvernehmliche Lösung für das Problem gefunden, das Bedürfnis nach Schlaf mit der Notwendigkeit, wachsam zu sein, zu vereinbaren.
Die einseitige Form des Schlafs wird vermutlich dann genutzt, wenn sie den besten Kompromiss darstellt. Der Schlaf mit beiden Gehirnhälften werde aber grundsätzlich vorgezogen, sagt Rattenborg.
Was läuft beim unihemisphärischen Schlaf im Gehirn ab? Rattenborg untersuchte das, indem er einer Taube ein Auge abdeckte und ihr David Attenboroughs Dokumentarfilm «Das Leben der Vögel» zeigte. Schlief die Taube danach ein, brauchte die mit dem offenen Auge verbundene Hirnhälfte mehr erholsamen Tiefschlaf als die andere. Ein Indiz dafür, dass Vögel im Schlaf verarbeiten, was sie zuvor erlebt haben.
Diese Funktion des Schlafs könnte der Grund dafür sein, dass er überhaupt nötig ist. Es ist schon länger bekannt, dass während des Schlafs zahlreiche Reparaturarbeiten in Körperzellen ablaufen. Vor allem aber hilft der Schlaf, Eindrücke zu verarbeiten und Gelerntes im Gedächtnis abzuspeichern.
Ratten träumten vom Labyrinth
Das wurde Anfang der Neunzigerjahre bei einem klassischen Versuch mit Ratten in einem Labyrinth entdeckt. Eigentlich wollte man herausfinden, was im Gehirn der Ratten geschieht, während die Tiere lernen, sich im Labyrinth zu orientieren. Eines Abends jedoch vergass ein Forscher, die Apparatur auszuschalten. Am nächsten Morgen traute er seinen Augen nicht: Die nachts aufgezeichneten Hirnströme glichen denjenigen, die am Tag registriert worden waren. Die Wellenmuster waren so ähnlich, dass die Wissenschaftler daran ablesen konnten, an welchem Kreuzungspunkt im Labyrinth sich die träumende Ratte jeweils befand. Offensichtlich hatte das Tier den Lernprozess also im Schlaf nachvollzogen.
Nach Jahrzehnten der Schlafforschung ist Folgendes gesichert: Schlaf dient der Erholung und hilft, Erlebtes zu verarbeiten. Wird ein Lebewesen wach gehalten, holt es den entgangenen Schlaf später nach. Schlaf ist für Tiere offenbar unverzichtbar und lebensnotwendig. Doch was Schlaf genau ist, weiss man noch immer nicht.
Eine relativ neue Erkenntnis ist, dass während des Schlafs im Hirn aufgeräumt wird. Bewegung und Lernen am Tag verbrauchen viel Energie, und die dabei aktiven Nervenzellen beginnen zu wachsen. Damit der Energieverbrauch nicht übermässig steigt und der Platz nicht ausgeht, werden die tagsüber nur wenig gebrauchten Synapsen im Schlaf stark zurückgebaut, die aktiven aber nur geringfügig, wie bei Fruchtfliegen gezeigt werden konnte. Synapsen sind Strukturen im Hirn, die unter anderem bei der Signalübertragung und der Erinnerung eine grosse Rolle spielen.
Wenn aber Schlaf so wichtig ist: Wie können Zugvögel extreme Distanzen ohne nennenswerte Pausen zurücklegen? Niels Rattenborg ist aufgefallen, dass Dachsammern auch im Käfig alljährlich von Zugunruhe gepackt werden. Sie flattern auffallend oft herum und kommen während Wochen mit nur einem Drittel des üblichen Schlafs aus, ohne Müdigkeit zu zeigen. Anzeichen für unihemisphärischen Schlaf gibt es nicht. Trotzdem schneiden die amerikanischen Singvögel bei Gedächtnisaufgaben gleich gut ab wie sonst.
Rattenborg wollte wissen, wie Zugvögel über lange Zeit mit so wenig Schlaf auskommen und dennoch ihren Leistungspegel halten können. Er simulierte den Vogelzug, indem er drei Rosenstare im Windkanal weite Strecken fliegen liess.
Leider hat der Versuch nicht funktioniert. «Die Flugkammer ist zwar zwei Meter lang und einen Meter breit, aber offenbar mussten die Vögel sich zu sehr darauf konzentrieren, immer schön in der Mitte zu bleiben, als dass sie hätten schlafen mögen. Zudem schienen sie die Kabel, mit denen wir ihre Hirnströme messen wollten, auf Dauer zu stören», sagt Rattenborg. Um die leidigen Kabel loszuwerden, entwickelte er gemeinsam mit Kollegen von der Universität Zürich eine Art Rucksack, der die Signale aufzeichnen konnte. Doch trotz Miniaturisierung behinderte die Konstruktion die Rosenstare.
Vögel sind für die Schlafforschung besonders interessant, weil sie neben Säugetieren die einzigen Lebewesen sind, bei denen sich REM- und Non-REM-Schlaf abwechseln (siehe Box «So schlafen Säuger»). Reptilien, die gemeinsamen Vorfahren von Säugetieren und Vögeln, zeigen dieses Schlafverhalten nicht. Es muss sich also in der Evolution zweimal entwickelt haben. Ein Hinweis darauf, dass es wichtig ist.
Bei Säugetieren und Vögeln werden verschiedene, sich abwechselnde Schlafphasen unterschieden, die man über die Messung der Hirnströme und der Muskelaktivität erkennen kann. Auf den Kopf geklebte Metallplättchen messen die Elektroimpulse des Gehirns; diese Ströme werden im Elektroenzephalogramm (EEG) als Wellen aufgezeichnet. Beim Menschen beginnt etwa alle 90 Minuten ein neuer Schlafzyklus, in dem mehrere Schlafphasen unterschiedlicher Länge aufeinanderfolgen. Das bekannteste Schlafstadium ist der REM-Schlaf (Rapid Eye Movement). Diese Phase ist von lebhaften Träumen geprägt und das Gehirn ist fast so aktiv wie im Wachzustand.
REM-Schlaf konnte bisher nur bei Menschen, Säugetieren und Vögeln nachgewiesen werden. Lange REM-Phasen können sich nur Tiere leisten, die vor Fressfeinden einigermassen sicher sind. Typische Beutetiere wie Gazellen zeigen wenig davon, räuberische Nagetiere und Raubkatzen viel.
Den Schlafgewohnheiten von Tieren mit vier und mehr Beinen widmete sich Irene Tobler seit Jahrzehnten. Die Schlafforscherin der Universität Zürich wird auch als Grande Dame der Schlafforschung tituliert. Es treibt sie die Frage um, ob tatsächlich alle Tiere schlafen. Die Küchenschaben zum Beispiel. Oder Skorpione. Findet man Schlaf bei ursprünglichen Organismen? Und wie kann man ihn definieren? Auf der Suche nach den Ursprüngen des Schlafs hat sich Tobler an immer urtümlichere Lebensformen herangearbeitet.
Sie setzte Schaben, eine Art, die es seit mindestens 300 Millionen Jahren gibt, in Petrischalen und hielt die Insekten mit Rütteln wach, wenn sie Anzeichen von Schlaf zeigten. Dann verglich sie die Tiere mit einer ausgeschlafenen Vergleichsgruppe. Die wach gehaltenen Exemplare waren weniger aktiv und ruhten, bis sie ihr Schlafdefizit ausgeglichen hatten.
Skorpione gibt es sogar seit mehr als 400 Millionen Jahren. Tobler hielt ihre Versuchsexemplare wach, indem sie bei Anzeichen von Schlaf mit einem Hämmerchen gegen ihren Käfig schlug. «Das können sie gar nicht leiden», sagt sie. Und wie bei den Schaben konnte sie nachweisen, dass Skorpione Schlafentzug zu kompensieren versuchen. Sie brauchen also Schlaf in einer bestimmten Menge und verfügen über die notwendigen Regulierungsmechanismen.
Vor zehn Jahren wurde in China das Fossil eines entengrossen Sauriers aus der Gruppe der Theropoda gefunden. Das Tier hatte seinen Kopf unter die vorderen Gliedmassen gesteckt. Eine Schlafhaltung, die Vögel einnehmen, indem sie den Kopf unter einen Flügel stecken, um ihn warm zu halten. Heute halten die meisten Wissenschaftler die Theropoda für die Vorläufer der Vögel. Die chinesischen Forscher nannten das Fossil Mei long: friedlich schlafender Drache.
Jetzt hat die Forscherin den nur einen Millimeter langen Fadenwurm Caenorhabditis elegans im Visier. Diese besonders einfache Lebensform könnte sie noch näher zu den Ursprüngen des Schlafs führen. Weil sein genetischer Code bekannt ist, wird der Wurm von Forschern als «gläserner Organismus» geschätzt. Zum Schlaf der Larven konnten bereits Studien durchgeführt werden. Doch bei erwachsenen Tieren ist das nicht so einfach, denn Caenorhabditis ist fast permanent in Bewegung, womöglich auch im Schlaf. «Die Ruhephasen sind sehr kurz. Es ist fast unmöglich, die Weckschwelle des erwachsenen Wurms zu bestimmen», sagt Tobler.
Bisher ist kein Tier bekannt, das ohne Schlaf auskommt
Die Schlafforschung widmet sich daher zunehmend einem anderen winzigen Lebewesen, dessen Genetik gleichfalls ein offenes Buch ist: der Fruchtfliege Drosophila. Fast die gesamte Forschung zur Schlafgenetik findet mittlerweile an Fruchtfliegen statt. Bereits konnten Ähnlichkeiten mit dem Schlaf der Säugetiere festgestellt werden. Auch Fruchtfliegen kompensieren Schlafentzug, und es gibt Lang- und Kurzschläfer unter ihnen.
Trotz intensiven Studien ist kein Tier bekannt, das ohne Schlaf auskommt. Doch was im Schlaf passiert und welche Funktion er hat, sind noch immer offene Fragen. «Schlaf ist ein sehr komplexes Verhalten – auch wenn es die Zoobesucher langweilt», sagt Irene Tobler. «Klar ist, dass es nicht ein Gen für Schlaf gibt, das sich beliebig ein- und ausschalten liesse.»
Der Schlaf werde also nicht von einer bestimmten Substanz herbeigeführt, nach der schon Aristoteles intensiv gesucht habe, sagt Tobler. «Schade eigentlich, denn die wäre das ideale Schlafmittel.»