Im Schlaf die Seele aufräumen
Träume helfen, Erlebtes zu verdauen, und weisen auf künftige Veränderungen hin. Doch sie müssen sorgfältig gedeutet werden.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Die einen wachen regelmässig mitten in der Nacht schweissgebadet auf. Andere können sich beim Erwachen nur vage an das Geträumte erinnern. Und dann gibts noch jene, die behaupten, in ihrem ganzen Leben überhaupt noch nie geträumt zu haben.
Wie auch immer: Jeder Mensch träumt, auch wenn er oder sie sich dessen nicht bewusst ist. Das zeigen Versuche im Schlaflabor. Ob man sich daran erinnert, hängt einerseits damit zusammen, wann und wie man aufwacht aus einem Traum, durch den Wecker oder weil man einfach genug geschlafen hat. Die Erinnerung an Träume hängt zudem mit der eigenen Einstellung zusammen: Wer sich mit seinen Träumen beschäftigt, sie positiv bewertet und glaubt, dass sie etwas für ihn bedeuten, wird sich eher an Träume erinnern.
Früher glaubte man, Träume seien auf die REM-Phase beschränkt. Diese wird deshalb oft auch Traumphase genannt. Jetzt stellten die Forscher jedoch fest, dass Träume in allen Schlafphasen vorkommen. Werden Schlafende in der REM-Phase aufgeweckt, können sie sich allerdings öfter an einen Traum erinnern als in anderen Phasen. Ob der Mensch in dieser Phase tatsächlich mehr träumt, ist jedoch nicht sicher. Vielleicht ist es nur leichter, sich ans Geträumte zu erinnern.
Auch Traumberichte können nicht eindeutig der Phase zugeordnet werden, aus der sie stammen. In der Regel sind Träume ausserhalb der REM-Phase kürzer und weniger reichhaltig. Doch auch hier ist nicht belegt, ob dies tatsächlich so ist oder nur mit dem Erinnern zu tun hat.
Unbekannt ist zudem, ob Träume für die Psyche notwendig sind und es ohne sie zu psychischen Störungen käme. Zwar treten nach längerem Schlafentzug seelische Störungen auf; wie weit dies aber mit den Träumen zusammenhängt, ist nicht klar. Versuche mit Entzug von REM-Schlaf können darauf keine Antwort geben, da der Mensch eben auch in den andern Phasen träumt. So streiten sich die Wissenschaftler über Sinn und Zweck der Träume. Während die einen den Träumen jeden tieferen Sinn absprechen, setzen sie andere in Psychotherapien ein.
Die amerikanischen Forscher Allen Braun und Thomas Balkin beispielsweise sind der Meinung, dass die REM-Phase testet, ob das Gehirn genug Schlaf bekommen hat. Träume betrachten sie als ein aufgepfropftes Phänomen dieser Testphase. Barbara Meier Faber und Ingrid Strauch, die bis vor kurzem an der Universität Zürich Träume erforschten, sind nach Auswertung vieler Träume aus dem Schlaflabor und aus Traumtagebüchern überzeugt, dass «uns Träume einen Einblick in die psychische Aktivität während des Schlafs geben».
Für Meier und Strauch präsentieren Träume szenisch ausgestaltete Erlebnisse und keineswegs nur zufällig ausgewählte Gedächtniselemente. «Diese sinngebende Gestaltungskraft des Traums veranschaulicht, dass die Psyche die Zeit des Schlafens nutzt, um Erinnerungen und im Wachen angesammelte Eindrücke in neue Erlebnisse umzusetzen und damit wiederaufleben zu lassen.» Träume könnten somit helfen, Erfahrungen zu verarbeiten und Probleme zu lösen. Ähnlich definiert Erich Fromm den Traum als «Seelentätigkeit unter Schlafbedingungen». Für ihn haben alle Träume Sinn und Bedeutung.
Träume scheinen die Menschen schon seit jeher beschäftigt zu haben. Sie wurden schon in alten Zeiten erzählt und zu deuten versucht. So etwa die Geschichte von Joseph aus dem Ersten Buch Mose, der dem Pharao die Träume von den sieben schönen und fetten und den sieben magern und hässlichen Kühen sowie den sieben schönen und dicken und den sieben dünnen Ähren deutete und deswegen aus dem Gefängnis kam.
Die Grundlage für die moderne Traumarbeit in der Psychologie legte Sigmund Freud mit seinem Buch «Die Traumdeutung». Er geht davon aus, dass in den Träumen Unbewusstes in verschlüsselter Form dargestellt wird: infantile, irrationale, triebhafte Wünsche, die im Schlaf der Kontrolle unseres Wachbewusstseins entzogen sind. Freuds Theorie ist verschiedentlich modifiziert und ergänzt worden. So wies der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung darauf hin, dass Träume auch auf die Zukunft gerichtet sind und Hinweise auf Ziele des Träumenden geben. Für Jung drücken Träume die Weisheit des Unbewussten aus. Seiner Meinung nach enthalten Träume nebst verdrängten Wünschen und Bedürfnissen auch nicht gelebte Seiten einer Person.
Carl Gustav Jung wie Erich Fromm weisen Symbolen in den Träumen eine wichtige Bedeutung zu. «Die Symbolsprache ist eine Sprache, in der innere Erfahrungen, Gefühle und Gedanken so ausgedrückt werden, als ob es sich um sinnliche Wahrnehmungen, um Ereignisse in der Aussenwelt handeln würde», schreibt Erich Fromm. Um Träume zu deuten, genüge es aber nicht, die universale Bedeutung der Symbole beizuziehen.
So bedeutet zum Beispiel die Sonne nicht für jeden dasselbe. Ein Wüstenbewohner erlebt die Sonne unter Umständen als zerstörend, während sie für einen Nordländer eher angenehm wärmend ist.
Daneben können Symbole in Träumen auch eine ganz persönliche Bedeutung haben. Zum Beispiel das Feuer: Wer damit vor allem ein romantisches Lagerfeuer verbindet, wird seinen Traum mit anderen Emotionen verknüpfen als jemand, der von Feuer träumt und kürzlich einen Hausbrand erlebt hat.
Ann Faraday leitet in ihrem Buch «Deine Träume Schlüssel zur Selbsterkenntnis» dazu an, Träume selbst zu interpretieren. Zuerst soll man den Traum wörtlich nehmen und schauen, ob er auf dieser Ebene einen Hinweis gibt. Er könne Träumende vor etwas warnen, das sie im wachen Zustand übersehen oder nicht genügend ernst genommen hätten.
Danach liesse sich versuchen, den Traum im übertragenen Sinn zu deuten und zwar in Verbindung mit etwas Erlebtem aus den letzten Tagen. Ann Faraday betont, Träume würden nichts sagen, was wir schon wüssten. Richtig gedeutet sei ein Traum, «wenn er dem Träumer im Hinblick auf seine gegenwärtige Lebenssituation einleuchtet und ihn veranlasst, sein Leben konstruktiv zu ändern».
Die Professorin und Lehranalytikerin Ingrid Riedel kommt in ihrem Buch «Träume Wegweiser in neue Lebensphasen» anhand zahlreicher untersuchter Träume zum Schluss, dass sich darin Ubergänge von einer Lebensstufe in die andere ankündigen. Ingrid Strauch und Barbara Meier wiederum sehen den besonderen Gewinn der Träume darin, dass sie uns Nacht für Nacht Raum bieten, kreativ mit unseren Lebenserfahrungen umzugehen. «Träume eröffnen uns eine Art zweites Leben, das stets neu ist, in dem wir uns auf neue Erlebnisse einlassen und spielerisch mit der Welt umgehen können.»