86-Jährige bekommt Busse aus Italien – sie war gar nicht dort
Eine Schweizerin soll Maut bezahlen, obwohl sie gar nicht in Italien war. Der Beobachter zeigt, wie sie sich wehren kann und bewegt die Inkassofirma zum Verwerfen der Busse.
Veröffentlicht am 31. Oktober 2024 - 11:05 Uhr,
aktualisiert am 31. Oktober 2024 - 11:05 Uhr
Plötzlich ist da diese Busse im Briefkasten. Aus Italien, für nicht bezahlte Mautgebühren. Stefanie Seiler stutzt, als sie den Umschlag entdeckt. «Ich war bestimmt schon zehn Jahre nicht mehr in Italien, schon gar nicht mit dem Auto», sagt sie. Knapp 138 Euro soll sie bezahlen – davon allein rund 32 Euro für «die bisher entstandenen Inkassokosten», wie im Brief vermerkt ist. Er stammt angeblich von Nivi Credit, einer italienischen Inkassofirma.
Seiler, die 86 Jahre alt ist und eigentlich anders heisst, vermutet einen Betrugsversuch. «Das Ganze kam mir komisch vor», erzählt sie. Im Brief finden sich zahlreiche Grammatikfehler, auch andere Details lassen sie stutzen. Also zeigt sie die Rechnung einer Beamtin der lokalen Polizeistelle im Aargau. Die Inkassofirma gebe es zwar, sagt diese – ob die Rechnung aber tatsächlich von ihr stamme, könne sie auf Anhieb auch nicht sagen. «Ich solle lieber erst mal nichts zahlen, hat sie mir geraten.»
Rechnung ist echt – und trotzdem falsch
Eine Recherche ergibt: Die Rechnung ist echt. Im Auftrag der italienischen Verkehrsbehörde treibt Nivi Credit Schulden im Ausland ein – eben auch in der Schweiz. Nivi kommt vor allem bei ausstehenden Mautgebühren zum Zug. Denn anders als in der Schweiz, wo alle Autobahnen öffentlich sind und mit einer Jahresvignette befahren werden dürfen, werden viele italienische Autobahnen privat verwaltet, für die eine streckenabhängige Nutzungsgebühr fällig wird, die Maut. Über den Ärger mit Nivi Credit und falsche Mautbussen hat der Beobachter schon mehrfach berichtet, unter anderem über Fälle mit der Schuldtitel-Online AG.
Seiler lässt die Rechnung vorerst liegen. Das mitgeschickte Login benutzt sie nicht, zu gross ist ihre Sorge, es handle sich um einen Betrugsversuch. Sie schreibt Nivi stattdessen einen handschriftlichen Brief, in der Hoffnung, das Missverständnis auf diesem Weg zu klären. Die Inkassofirma reagiert knapp drei Monate später mit einer zweiten Mahnung: Mittlerweile ist der Betrag auf 146 Euro gestiegen. Seiler ist ratlos: «Ich weiss nur eins: Ich bin nicht in Italien gewesen. Ganz sicher nicht.»
Wie kommt das Inkassobüro an die Autonummer?
In Italien ist es üblich, dass bei Ein- und Ausfahrten von Autobahnen die Nummernschilder aller passierenden Fahrzeuge automatisch fotografiert werden. Diese Nummern werden anschliessend von der Inkassofirma mit dem öffentlichen Register abgeglichen, um die Fahrzeughalter zu ermitteln. Mithilfe des Logins auf der Rechnung findet sich das Beweisfoto für Seilers «Vergehen», auf das sich Nivi Credit bezieht.
Tatsächlich gehören die vier sichtbaren Ziffern des abgebildeten Nummernschildes zum Schild von Seilers Auto – aber das Foto ist abgeschnitten, eine weitere, letzte Ziffer deutlich zu erahnen. Spätestens jetzt wird klar: Hier handelt es sich zwar nicht um einen Betrug, um saubere Arbeit aber auch nicht.
Auf Anfrage des Beobachters liefert Sandra Olar den entscheidenden Hinweis. Sie ist Leiterin des Kommunikationsdienstes des Departements Volkswirtschaft und Inneres (DVI) Aargau, dem das Strassenverkehrsamt unterstellt ist. Olar erklärt: «Hier handelt es sich allem Anschein nach gar nicht um das Kontrollschild eines Autos, sondern um das eines Motorrads.» Das Format des Schildes lasse diesen Schluss zu.
Weil der Fahrer des Motorrads aber seine Halterdaten gesperrt hat, taucht sein Name im öffentlichen Register nicht auf. Firmen wie die Nivi Credit greifen daher kurzerhand auf die nächstliegende Autonummer zurück. So erhielt Seiler eine Mautrechnung, die sie sich gar nie eingehandelt hat.
Olar empfiehlt: «Die Betroffene soll auf jeden Fall die Inkassofirma kontaktieren und den Fehler melden.» Und sie hat noch einen Tipp: «Am besten lässt auch sie ihre Halterdaten aus dem öffentlichen Register nehmen.» Wer seine Daten sperren lasse, könne sich in Fällen wie diesem besser schützen. «Das hilft, um Missbrauch oder Betrug vorzubeugen.»
Was, wenn man fälschlicherweise eine Rechnung von Nivi erhalten hat?
Grundsätzlich gilt: Verkehrsbussen aus dem Ausland sind ernst zu nehmen. «Wichtig ist, dass man möglichst schnell mit der zuständigen Behörde oder Firma Kontakt aufnimmt und Missverständnisse richtigstellt», erklärt Monika Huber, Rechtsexpertin und Beraterin beim Beobachter. Ignoriert man eine Busse, kann es passieren, dass man im Fahndungssystem ausgeschrieben wird und später sogar das Auto beschlagnahmt wird. Ausführliche Informationen zum Thema ausländische Verkehrsbussen und Antworten auf die gängigsten Fragen finden sich in unserem Ratgeber.
Update: Nivi Credit AG krebst zurück
Stefanie Seiler protestiert schriftlich gegen die Busse, der Beobachter bittet die Nivi Credit AG um eine Stellungnahme. Zunächst tut sich nichts. Nur kurze Zeit nach Veröffentlichung des Artikels kommt jedoch tatsächlich ein Lebenszeichen der Inkassofirma: Verantwortlich gemacht wird ein Erfassungssystem, das den Fehler verursacht habe. Es sei möglich, dass schlechte Lichtverhältnisse zu einer unvollständigen Erfassung der Autonummer geführt hätten. «In Anbetracht dessen und aufgrund der von Ihnen und Ihrer Leserin übermittelten Informationen teilen wir Ihnen förmlich mit, dass die Akte archiviert worden ist», heisst es.
Ob der Motorradfahrer, dem die Busse eigentlich galt, noch zur Kasse gebeten wird, bleibt unklar. Für Stefanie Seiler wird die gute Nachricht aber zum ganz besonderen Geschenk – nämlich zu einem für ihren 86. Geburtstag.
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 22. Oktober 2024 veröffentlicht und am 30. Oktober 2024 aktualisiert.