Der Tag, an dem die Wolke kam
Am 26. April 1986 um 1.23 Uhr ereignete sich in Tschernobyl der grösste anzunehmende Unfall. Die Reaktorkatastrophe veränderte das Leben von Millionen von Menschen - auch in der Schweiz. Vier von ihnen blicken zurück.
Veröffentlicht am 27. März 2006 - 09:20 Uhr
Der 28. April 1986, ein Montag, ist ein ruhiger Tag in der Schweiz. Im Kanton Bern wird gerätselt, wer wohl zum zweiten Wahlgang für den Regierungsrat antritt, in Zürich meldet die Rentenanstalt ein Rekordjahr, und im Bundeshaus ersuchen die Philippinen offiziell um Rechtshilfe, um an das Vermögen von Ex-Diktator Marcos zu gelangen, das dieser auf Schweizer Bankkonten gehortet hat.
In diese Beschaulichkeit platzt die Meldung, dass sich in einem ukrainischen Kernkraftwerk ein schwerer Reaktorunfall ereignet hat. Die Nachricht hat allein schon deshalb Gewicht, weil sie überhaupt existiert: Meldungen über Katastrophen in der Sowjetunion dringen sonst nicht in den Westen. Und vielleicht hätte die Führung in Moskau auch noch länger geschwiegen, wären da nicht in skandinavischen Kernkraftwerken aussergewöhnlich hohe Werte von Radioaktivität gemessen worden.
Der Experte
Serge Prêtre erfährt als einer der Ersten vom Unglück. Ein Journalist des Westschweizer Radios holt ihn aus einer Sitzung und will von ihm eine Stellungnahme zu den hohen Messwerten. Was der Reporter berichtet, klingt für Prêtre beunruhigend, und so sitzt der Chef der Abteilung Strahlenschutz bei der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) schon zwei Stunden später im Bundeshausstudio. Noch weiss er nicht, was passiert ist: «Aber die gemessene Strahlung deutete auf einen schlimmen Reaktorunfall hin - auf einen sehr schlimmen sogar.»
Doch Tschernobyl, der Ort der Katastrophe, ist 1'700 Kilometer entfernt im Osten, und die Wetterlage scheint günstig: Die radioaktive Wolke, die über Skandinavien strahlt, sollte die Schweiz nicht treffen. Prêtre fährt am nächsten Morgen wie gewohnt ins HSK-Büro im Paul-Scherrer-Institut in Würenlingen AG. Erst ein Kollege mit einem Dosimeter reisst ihn endgültig aus der Routine: Prêtres Schuhsohlen strahlen radioaktiv. Aus der einen Wolke sind viele geworden, und eine davon hat die Schweiz erreicht: «Damit begann ein Monat, während dessen ich kaum einmal den Boden berührte.»
Prêtre, der Strahlenschutzspezialist, wird vom Bundesrat in die Kommission für AC-Schutz (KAC) berufen. Die nächsten Wochen verbringt er im geheimen Bundesratsbunker, tief unter der Erde. Nur abends fährt er nach Hause ins aargauische Windisch: «Ich musste abschalten können, um den Stress zu überstehen.»
Seine damalige Aufgabe beschreibt Prêtre heute lakonisch: «Wir mussten jeden Tag vor 17 Uhr ein Pressecommuniqué herausgeben.» Es sind Verlautbarungen an ein verunsichertes Land. Medien berichten über Radioaktivitäts-Masseinheiten wie Nano-Curie, Becquerel und Millirem, die kaum jemand versteht. Man klammert sich an Meldungen, die man begreift: etwa jene, dass in gewissen deutschen Bundesländern Sandkästen abgedeckt und verstrahlte Lebensmittel vernichtet werden.
Die KAC rät dem Bundesrat, auf solche Massnahmen zu verzichten: «Wir stellten in der Kommission bald fest, dass die radioaktive Belastung an der unteren Schwelle lag», sagt Prêtre heute. «Strenge Massnahmen hätten die Bevölkerung zwar möglicherweise beruhigt, aber als zweiten Effekt wohl das Gefühl hervorgerufen, dass die Lage schlimm sein muss.»
Stattdessen gibt die Kommission Empfehlungen ab, was die Leute essen dürfen und was sie eher meiden sollten. «Es gab einen Tag der Milch, einen Tag des Spinats, einen Tag des Schaffleisches», so Prêtre. «Ich ass alles bedenkenlos. Mir war klar, dass in der Schweiz keine Gefahr für die Gesundheit bestand.» Was aus den Tiefen des Bundeshauses in Form von Communiqués verkündet wird, verunsichert jedoch oft mehr, als es zu beruhigen vermag: Die Milchverkäufe brechen ein, als die Kommission warnt, Schwangere und Kleinkinder sollten keine Frischmilch mehr trinken. Schaffleisch lässt sich nicht mehr verkaufen, weil Messungen erhöhte Radioaktivität ergeben haben. Salat und Spinat bleiben in den Läden liegen, weil die Kommission empfiehlt, das Gemüse gründlich zu waschen.
Der Bauer
«Diese Empfehlungen», sagt Ernst Maurer, «die hätten uns fast in den Konkurs getrieben.» Er steht im Gewächshaus, zwischen Peperoni, Dill, Basilikum und Tomaten. Ein Mann mit einem Händedruck, der sagen will: Hier packt einer zu. Und kräftig ist auch seine Sprache: «Was haben die damals für einen Scheiss erzählt über Gemüse, das radioaktiv sein soll. Ich jedenfalls ass mein Zeugs genau gleich, und geschadet hat es mir bisher nicht.»
Drei Hektaren Land bewirtschaftet Gemüsebauer Maurer 1986. Spinat, Salat und Radieschen warten auf dem Feld, zehn Angestellte pflanzen und ernten. Es ist Frühling und Hochsaison auf dem Biobetrieb in Diessbach im Berner Seeland: Man fährt mit einem vollen Lieferwagen auf den Markt nach Bern oder Lyss und abends mit leeren Gemüseharassen zurück.
Und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, verkauft man bestenfalls noch die Hälfte: «Es gab einfach keine Nachfrage mehr», erinnert sich Maurer. «Niemand wollte mehr Gemüse kaufen.» Und die Biokundschaft, die besonders auf gesunde Lebensmittel achtet, schon gar nicht. «Die Käufer kamen an den Stand und fragten: ‹Ist es Freilandgemüse?› Sagten wir Ja, verzichteten sie dankend. Meist waren es jene, die in normalen Zeiten grundsätzlich nichts aus dem Gewächshaus wollten.»
Maurer lädt seinen Lieferwagen trotzdem voll, jeden Mittwoch und Samstag. «Wir konnten ja nicht einfach hinter einem leeren Stand stehen.» Es sind frustrierende Tage, das unverkaufte Gemüse wandert am Abend auf den Kompost. Andere seien einfach mit dem Traktor über den Acker gefahren, sagt Maurer. «Da wurde hektarenweise Salat untergepflügt.» Die Zeit ist demoralisierend - und beängstigend: «Wir wussten nicht, wie lange die Krise dauert. Wir wussten bloss, dass uns irgendwann einmal finanziell der Schnauf ausgeht.» Erst im späten Sommer 1986 zieht der Verkauf wieder an, und im Herbst verkauft Maurer fast wieder gleich viel Gemüse wie vor Tschernobyl. «Der Mensch vergisst schnell», sagt er.
Die Mutter
Claire-Lise Vatter ist Ende April 1986 im siebten Monat schwanger. Die Sängerin und ihr Mann Thomas haben lange gezögert, ob es für ein Kind in dieser Welt eine Zukunft gibt, die sie ihm zumuten wollen. Jetzt freuen sie sich auf die Geburt.
Das Paar verbringt ein paar Tage im Haus der Schwiegereltern am Thunersee. Die beiden geniessen die ruhige Zeit ohne Fernsehen und Radio, und doch dringt die Nachricht vom explodierten Reaktor und der radioaktiven Wolke bis zu ihnen vor. «Mein erster Gedanke war: Jetzt sind wir gefangen», erinnert sich Claire-Lise Vatter, «vor einer solchen Wolke kann man nicht ausweichen.» Die Zukunft, die sie sich für ihr erstes Kind erhofft hat, ist plötzlich düster. «Ich fragte mich: Wird die erste Luft, die es atmet, verseucht sein? Wie werde ich mein Kind ernähren?» Die Ernährung beschäftigt die Schwangere noch wochenlang: «Wir assen nichts mehr aus dem eigenen Garten. Ich trank nur noch uperisierte Milch, obschon mir klar war, dass das bloss eine kurzfristige Lösung sein konnte.» Regelrecht «den Schnauf abgestellt» habe es ihr damals.
Die werdende Mutter ist bedrückt, obwohl sie sich bewusst ist, dass sie in der Schweiz weit weg vom Ort der Katastrophe lebt und dass ihre Probleme verschwindend klein sind im Vergleich zu jenen der Menschen in den verseuchten Gebieten in der Ukraine und in Weissrussland. Trotzdem sprechen sie und ihr Mann mit Freunden übers Auswandern, wollen möglichst weit weg von der Wolke. Man wälzt Pläne und verwirft sie schliesslich wieder. «Wohin sollten wir gehen? Die Radioaktivität war überall.» Und da war dieses Gefühl der Ohnmacht, immer wieder: «Ich fühlte mich mehr denn je verantwortlich für die nächste Generation, aber ich konnte nichts Positives für sie tun.»
Sohn Roman kommt am 5. Juli 1986 zur Welt, ein gesundes Kind. Von verstrahlten Lebensmitteln spricht da niemand mehr, man sitzt wieder draussen. Die Katastrophe scheint überstanden, aber Zweifel bleiben: «Plötzlich konnte man wieder Champignons aus Polen kaufen», erinnert sich Vatter. «Aus einem Gebiet also, das deutlich stärker verstrahlt war als die Schweiz. Und in den Zeitungen las man kaum mehr etwas über die Katastrophe, obschon die Radioaktivität immer noch da war. Das machte mich wütend.»
Die bedrückenden Tage im Mai wirken bei den jungen Eltern nach: «Wir beschlossen, uns zu engagieren.» Sie beschäftigen sich intensiver mit gesunder Ernährung. Erste Projekte entstehen, und 1992 - sechs Jahre nach Tschernobyl - eröffnen Claire-Lise und Thomas Vatter in Bern den ersten biologischen Supermarkt der Schweiz. «Es war nicht bloss die Katastrophe, die uns zu diesem Schritt bewogen hat», sagt sie heute, «aber die Erinnerung daran hat uns in unserer Arbeit bestätigt.»
Der Befürworter
Als er von der Katastrophe in Tschernobyl hört, weiss Michael Kohn zwei Dinge: Dies ist ein Rückschlag für die Kernenergie, und nun beginnt eine lange Zeit für deren Verteidigung. Kohn steht Mitte der achtziger Jahre auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Er ist Verwaltungsratspräsident der Elektrizitätsgesellschaft Atel - bekannt als «Energiepapst» und engagierter Befürworter eines Kernkraftwerks im aargauischen Kaiseraugst, das mitten im Bewilligungsverfahren steckt und seit Jahren von einer aktiven Gegnerschaft heftig bekämpft wird. Das KKW Gösgen im Kanton Solothurn, ebenfalls ein Projekt von ihm, hat sieben Jahre vorher ohne grossen Widerstand seinen Betrieb aufgenommen, und Kohn ist der Meinung, dass auch «Kaiseraugst» gebaut werden müsse.
«Als ich die Nachricht am Radio hörte, dachte ich zuerst an das Elend und die Schäden, die diese Katastrophe verursacht», sagt der Mann, der über Jahrzehnte die Schweizer Energiepolitik mitgeprägt hat. Kohn hat als Treffpunkt für das Gespräch das Kernkraftwerk Gösgen vorgeschlagen, «um zu betonen, dass Gösgen nichts mit Tschernobyl zu tun hat».
«Bedrückt und nachdenklich» sei er bei der Nachricht über die Katastrophe geworden, erinnert sich Kohn, nicht nur wegen der Opfer: «Die Sowjets hatten durch ihre unglaubliche Schlamperei eine Technik diskreditiert, die dies nicht verdient hatte.» Eine Technik, an die Kohn fest glaubt. Und er weiss schon nach den ersten Berichten: «Das ist Chefsache. Jetzt muss ich hinstehen und antworten.»
Kohn steht hin, gewährt den Medien unzählige Interviews, sagt Sätze wie «Tschernobyl hat versagt und nicht die Kernenergie» oder «Ein Unfall wie in Tschernobyl würde sich in der Schweiz sicher nicht zutragen». Er spricht von völlig anderen Reaktortypen, von menschlichen Fehlern, die, sollten sie geschehen, in den Kernkraftwerken hierzulande von den redundanten Sicherheitssystemen aufgefangen würden. 20 Jahre danach sind ihm diese Sätze in Fleisch und Blut übergegangen. Das Engagement ist geblieben: «Ich bin aus Überzeugung für die Kernenergie», sagt er und deutet auf den Kühlturm: «Das Werk hier ist doch der Beweis für die Zuverlässigkeit - das läuft wie ein Örgeli.»
Aber hat man denn damals, im Frühling 1986, auf Sie gehört, Herr Kohn? «Ich war ein Einzelkämpfer und lange Zeit allein auf weiter Flur», sagt Michael Kohn und kontert die Frage mit einem Hinweis: Vier Volksabstimmungen über die Kernenergie habe es seit 1979 gegeben, «und jedes Mal wuchs die Zahl der Befürworter. Da kann ich doch nicht so falsch liegen.»
Doch Kaiseraugst ist nicht mehr zu retten - der Widerstand dagegen hat mit der Reaktorkatastrophe unerwarteten Auftrieb erhalten: Im Frühling 1988, zwei Jahre nach Tschernobyl, beschliessen die Initianten, auf das Projekt zu verzichten.