Der Fluss meines Lebens
Es drohen Krieg, Krankheiten, Entbehrungen. Warum bereist einer trotz all der Strapazen den Niger von der Quelle bis zum Atlantik? Die Antwort ist einfach: Er muss.
Veröffentlicht am 2. Juni 2014 - 09:22 Uhr
Der Nebel sank lautlos durch die dicht verwobenen Kronen der Bäume und füllte den Regenwald wie eine graue Flüssigkeit. Ich hielt instinktiv die Luft an, und gerade als ich wieder ausatmete, bohrte sich ein Schrei durch den Nebel, ein verzweifelter Schrei, der sich zu einem schrillen Pfeifen dehnte und in einem Röcheln endete. Dann war es vollkommen still.
«Sie töten dich nicht», warnte mich Kaba und riss den Vorderlader von der Schulter. Wir warfen uns auf den Boden. «Sie hacken dir die Hände und die Füsse ab.» Seit Tagen marschierte ich mit dem einheimischen Jäger durch das Grenzgebiet zwischen Sierra Leone und Guinea. Er hatte versprochen, mich zur Quelle des Niger zu führen.
Doch im Wald wimmelte es von Rebellen, und eine ihrer grausamen Spezialitäten war es, ihre Opfer mit Buschmessern und Äxten zu verstümmeln. Man hatte mich gewarnt. Aber ich wollte den Niger bereisen, den drittgrössten Fluss Afrikas. Auf ganzer Länge. Die Quelle war ein Muss.
Abenteuer. Ich mag das Wort nicht. Wenn ich mich nicht irre, kommt es in keinem meiner Bücher vor. Ende des 12. Jahrhunderts wurde es dem altfranzösischen Begriff «aventure» entlehnt, der so viel wie «Begebenheit», «Erlebnis» oder «Wagnis» bedeutete. Heute wird unter einem Abenteuer meist ein riskantes Unternehmen verstanden, und vielleicht liegt mein Unbehagen daran, dass mir selbst meine Reisen nicht als riskant erscheinen. Es geht nicht ums Risiko. Es geht um Sehnsüchte, die ich in die Tat umsetze. Gut vorbereitet und innerhalb meiner Grenzen. Wenn mich jemand als Abenteurer bezeichnet, ist mir das unangenehm.
Ich weiss nicht, wie lange wir nach dem Schrei im Nebel verharrten und in die Stille des Waldes horchten. Irgendwann legte Kaba den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete mir, ihm leise zu folgen. Wir gingen den hastigen Schritt von Menschen, die auf der Flucht sind, ohne Pause, ohne ein Wort, und schliesslich erreichten wir unbeschadet die Quelle des Niger.
Sie besteht aus mehreren ovalen Naturbecken, die am Fuss eines senkrechten Felsens im subtropischen Wald liegen und von einer üppigen Pflanzenkuppel überragt werden. Von hier aus strömt der Niger auf seinem 4160 Kilometer langen Weg durch Guinea, Mali, Niger und Benin bis nach Nigeria, wo er in einem breitgefächerten Delta in den Atlantischen Ozean mündet.
Als ich damals das kühle Quellwasser trank, konnte ich nicht ahnen, dass meine Reise sieben Monate dauern würde. Stechmücken, Kakerlaken, Schlangen und Ratten. Die lähmende Hitze auf dem Fluss. Endlose Nächte auf den schmierigen Planken der Marktboote, zusammengepfercht mit Schafen, Ziegen, Hühnern. Unterwegs überlebte ich nicht nur Rebellen, sondern auch Malaria und die Ruhr. Flusspiraten, Organjäger, Gerüchte über Ebola. In Nigeria geriet ich in den Bürgerkrieg. Man schoss auf mich. Ich wurde Zeuge schlimmer Gräueltaten.
Warum setzt sich einer solchen Risiken und Strapazen aus? Ist es nicht doch der Nervenkitzel? Der ultimative Kick? Wissenschaftler wollen herausgefunden haben, dass «sensation seeking», also die Suche nach Aufregung, im genetischen Code mancher Menschen verankert ist. Psychologen sprechen von «Angstlust» und behaupten, «Risikosucher» kämen im Leben besser zurecht, weil sie es gewohnt seien, schwierige Situationen zu meistern. Für einige Soziologen hingegen ist die «Suche nach dem Thrill» nichts anderes als ein Indikator für die alarmierende emotionale Leere in der Hyperkonsumgesellschaft, die die Menschen massenweise mit Gummiseilen um die Beine in den Abgrund treibt.
Warum also tut sich einer eine sieben Monate lange Reise auf dem Niger an? Die Antwort ist einfach: Er muss. Er hört eine innere Stimme und folgt ihr. Er kann nicht anders.
Zum ersten Mal vernahm ich die Stimme in der Kindheit. Mein Elternhaus im badischen Breisach steht einen Steinwurf vom Ufer des Rheins entfernt, wo ich als Junge fast täglich angelte und den Frachtschiffen nachsah, um mich an Bord zu träumen und phantastische Reisen zu unternehmen. Ich muss zehn Jahre alt gewesen sein, als die Viking-Raumsonden Bilder vom Mars sendeten. Im Fernsehen sah ich eine Wüste aus kantigen Brocken, dann zeigte der Beitrag eine ähnliche Landschaft in der Sahara, und in der letzten Sequenz war ein Fluss zu sehen, der sich majestätisch durch den Sand wälzte: der Niger.
Und da war sie, die Stimme. Sie sagte: Wenn du gross bist, bereist du diesen Fluss. Auf ganzer Länge, sagte die Stimme. Und sie verstummte nie mehr. Und aus einer kindlichen Spinnerei wurde ein Traum, aus dem Traum über die Jahrzehnte eine fixe Idee. Und dann rief die Stimme: Jetzt! Und ich brach auf.
Geht man in der Etymologie des Wortes «Abenteuer» einen weiteren Schritt zurück, gelangt man zum vulgärlateinischen «adventura» – «das, was sich ereignen wird». Diese ungewisse Zukunft ist es, die bei der Abreise in ein fernes Land dieses verheissungsvolle Kribbeln unter meinen Rippenbögen auslöst. Der Reisende setzt sich dem Fremden aus und wartet ab, was passiert. Vor allem mit ihm selbst.
Auf dem Niger liess ich mir von den Alten die Ursprungsmythen erzählen, ich suchte nach einem Flussgott, trank Tee mit einem Emir, traf Hundefresser, Flusspferdjäger, Regenmacher, Wasserfrauen. Und auf meiner Passage überwogen – trotz vieler Schreckensmomente – Zustände des Glücks.
Wie im Nigerbogen, unterhalb von Timbuktu: Am nördlichen Ufer warfen sich gewaltige Dünen in den Fluss, einsame Lehmgehöfte duckten sich in malerischen Sandbuchten, Pinassen mit geblähten Segeln trieben vor der ockerfarbenen Kulisse stromaufwärts, während die Morgensonne messerscharfe Grate auf die Sandrücken zeichnete, die in makellos geschwungenen Linien ins Wasser tauchten. Die Wüste stürmte gegen den Niger an, und ich überliess mich der trägen, reibungslosen, unwiderstehlichen Bewegung des Flusses und tat nichts weiter, als hinunterzutreiben, überwältigt vom nutzlosen Augenblick und unfähig, an etwas zu denken oder etwas festzuhalten.
Als ich meine Aufzeichnungen ordnete, fand ich nichts über diesen Reiseabschnitt. Es war, als sei einfach nichts geschehen, was sich aufzuschreiben gelohnt hätte. Jahre später setzte meine Erinnerung die Bilder wieder zusammen, aber damals schien es, als sei ich durch ein leeres Land getrieben, in dem die Zeit sich zog und dehnte und es keinen anderen Grund für die Bewegung gab als die Bewegung selbst.
Diesen rauschartigen Zustand empfinde ich als höchste Belohnung des Reisens. Er löst eine wohltuende Sprachlosigkeit aus. Er bringt keine Worte hervor, keine Erzählungen. Und er ist einen hohen Einsatz wert.
In Zeiten der sogenannten Krise, die mit einer breiten Verunsicherung einhergeht, sind wir immer weniger zu riskieren bereit. Zugleich wird das «Abenteuer» immer häufiger bemüht. Die Werbung verkauft uns alles Mögliche als Abenteuer. Ein Auto zu fahren, ist ein Abenteuer. Eine Zigarette zu rauchen, ist ein Abenteuer. Selbst die Wohnung zu tapezieren, kann ein Abenteuer sein.
Ich rauche nicht, ich besitze kein Auto und verabscheue Tapeten. Und der kommerzialisierte Abenteuerbegriff ist mir nicht zuletzt deshalb suspekt, weil er den ganzen materiellen Ballast verkörpert, den ich zurücklassen möchte, wenn ich mit einer leichten Tasche über der Schulter zu einer Reise aufbreche, ins Anderswo.
Seit 20 Jahren bin ich unterwegs. Afrika, Lateinamerika, Indien, Südpazifik, Nahost. Ich brauche das Reisen, die erhöhte Stimulanz durch fremde Menschen, Landschaften, Klänge und Düfte, um mich wohlzufühlen. Das Reisen ist eine Droge, doch sie wirkt nicht nur entspannend. Es ist alles dabei: Euphorie, Erschöpfung, Einsamkeit – und Angst.
Gerade die Angst ist eine unentbehrliche Reisegefährtin. Man denke an die Antilope. Sie hat nur eine Chance gegen die Löwen, wenn sie im richtigen Moment losrennt. Auch ich bin oft gerannt.
Wie auf der Strassenkreuzung in Onitsha. Nach 30 Stunden auf einem Marktboot war ich gerade erst in der Stadt in Zentralnigeria angekommen, als direkt vor mir ein Mann auf die Strasse gestossen wurde. Jugendliche mit Macheten schlugen ihm Arme und Beine ab. Sein Kopf rollte vor meine Füsse. Einer der Schlächter kam mit dem Buschmesser auf mich zu und zeichnete mit dem Blut des Hingerichteten ein Dreieck auf meinen Oberarm. Ich war wie gelähmt. Meine Gedanken setzten aus. Als ich wieder zu mir kam, rannte ich – wer weiss, wie lange ich schon rannte. Erst viel später erbrach ich mich.
«Ich liebe das Spiel, das Unbekannte, das Abenteuer», schreibt der französische Autor André Gide in seiner Autobiografie «Stirb und werde». Der leidenschaftliche Reisende liebte es, woanders zu sein als dort, wo man ihn vermutete. Er spielte mit dem Unbekannten, um frei denken zu können. Die Welt teilt die Karten aus, und der Reisende oder – wer ihn so nennen will – der Abenteurer spielt sein Spiel, so gut er kann.
Dem Spieler jedoch, sagt der französische Soziologe Jean Duvignaud, gehe es weder um den Gewinn noch um das Glück. Ihn reize vielmehr die «attente catastrophique», die Erwartung der Katastrophe.
Ist es das, was ich auf dem Niger suchte? Musste ich etwas Gefährlicheres tun, als den Büroaufzug zu nehmen oder bei Rot über die Strasse zu gehen? Etwas, was Hemingway oder van Gogh getan hätten? Eine Art lustvolle Selbstzerstörung?
Nein. Ich bin kein Adrenalinjunkie. Die Gefahr treibt mich nicht an, sie ist Teil meiner Art, zu reisen. Ich reise, um eigene Gewissheiten zu erschüttern und meinen Geist beweglich und wach zu halten. Zurücklassen. Verlernen. Sich seiner selbst entledigen. Und sich durchdringen lassen, von der Geschichte eines fremden Menschen, von einer Landschaft, einer Musik, einem Duft.
Jede Reise ist eine Initiation. Der Reisende geht als einer fort und kommt als ein anderer zurück. Seine Passage ist ein Übergang zwischen zwei Stadien. Sie bewirkt die Verwandlung.
Rückblickend war das Erlebnis der grausamen Hinrichtung in Onitsha so etwas wie der Höhepunkt meiner Initiation auf dem Niger, eine Art ritueller Tod, bei dem ein altes Leben zurückblieb, um einem neuen Platz zu machen. Davor war ich gereist, um eine gute Zeit zu haben. Seither frage ich mich, wie ich mit meinem Umherschweifen dazu beitragen kann, die Lebensumstände von Menschen zu verbessern. Auch deshalb berichte ich seither aus Kriegsgebieten wie Somalia, Sudan oder Kongo, über den Ölkonflikt im Nigerdelta, Blutdiamanten aus Sierra Leone, den Kinderhandel auf den Kakaoplantagen der Elfenbeinküste.
Mein letztes Boot bestieg ich in Yenagoa im Nigerdelta. Über dem Fluss wälzte sich eine dunkle Wolkenwand heran, und der Kapitän steuerte den Kahn direkt hinein. Aus den hinteren Reihen reichten die Passagiere eine schwarze Plane über die Köpfe nach vorne. Kurz darauf prasselten wenige Millimeter über meinen Ohren schwere Tropfen auf das Plastik.
Ich kauerte in der Dunkelheit, die Beine an die Brust gezogen wie ein Embryo im Bauch der Mutter, und plötzlich war ich ganz sicher, dass es mir auf meiner Reise nie um die Mündung des Niger gegangen war, sondern um das Fliessen, um beständiges, ruhiges, reibungsloses Fliessen, um andauernde Bewegung, die Zauberformel, die Orte in Raum verwandelt, in grenzenlosen Raum, durch den man unaufhörlich treiben kann. Mit einem Mal verspürte ich den brennenden Wunsch, meine Reise jenseits der Mündung fortzusetzen.
Ich glaube, dass die Neugier auf das Fremde, das Unbekannte ein Grundzug des menschlichen Wesens ist. Und immer führt diese Neugier zu physischer oder geistiger Bewegung. Nur so ist persönliche Entwicklung möglich. Wo dabei l’aventure, das Wagnis, beginnt und wo dieses aufhört, bestimmt jeder für sich selbst.
Der Regen hörte so plötzlich auf, wie er eingesetzt hatte. Die Plane wurde über meinem Kopf zurückgezogen. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnten; dann bekam ich eine Gänsehaut. Sieben Monate lang hatten mich die Ufer des Niger begleitet – jetzt waren sie verschwunden. Vor mir lag der sanft geschwungene Horizont des Atlantischen Ozeans.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich in diesem Moment in Tränen ausbrach. Eine ungeheure Last muss damals von mir abgefallen sein. Ob ich nun wollte oder nicht: Etwas Einmaliges ging zu Ende. War es ein «Abenteuer»? Manche Dinge sind einfach zu gross für so ein kleines Wort.
Michael Obert, 48, gehört zu den bekanntesten Reiseschriftstellern und -journalisten Deutschlands. Seine siebenmonatige Reise auf dem Niger beschreibt er in dem Buch «Regenzauber» (National-Geographic-Verlag, 2011, 568 Seiten, CHF 29.90)