Grundsätzlich gilt für den grössten Urwald der Schweiz: Betreten erlaubt. Aber man sollte es vorsichtig tun und auf den markierten Wegen bleiben. Denn der Bödmerenwald im Kanton Schwyz ist durchzogen von Felsbändern mit tiefen Schrunden und Löchern – teils versteckt unter dem federnden Moosboden und darum umso tückischer. Das passt zum Geheimnisvollen, das diesen Ort zuhinterst im Muotatal umgibt: kitschig schön wie ein Märchenwald, zugleich geprägt von einer schroffen Urtümlichkeit, die einschüchtern kann. 

Die Schweiz ist ein Waldland. Ein Drittel der Fläche ist von Bäumen bewachsen, gesamthaft über 550 Millionen, 143 verschiedene Arten. Und sie breiten sich stetig weiter aus. Jahr für Jahr holt sich der Wald Boden in der Grösse des Bielersees zurück, heisst es beim Verband der Waldeigentümer. 724 Zonen sind als Naturwaldreservate geschützt. Aber Urwald? Fehlanzeige. Jedenfalls beinahe. 

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Urwald ist, wenn der Mensch nicht eingreift

Lediglich drei Gebiete erfüllen hierzulande die Kriterien, die die Ministerkonferenz zum Schutz der Wälder in Europa 1996 dafür festgelegt hat. Demnach ist ein Urwald «ein Waldgebiet, das nie durch menschliche Eingriffe gestört wurde und in seiner Struktur und Dynamik die natürliche Entwicklung zeigt». Neben dem Bödmerenwald, so gross wie 400 Fussballfelder, trifft das noch auf zwei kleinere Flächen in Graubünden und im Wallis zu (siehe weiter unten)

Der Urwald im Schwyzer Berggebiet hat seinen Ursprung vor 7000 Jahren. Das kann durch Pollenanalysen nachgewiesen werden. Nachdem sich die Gletscher der letzten Eiszeit zurückgezogen hatten, bildete sich damals an diesem Ort ein Pionierwald aus Bergföhren und Birken, der sich bis zum heutigen Erscheinungsbild als alpiner Fichtenwald weiterentwickelt hat. Wegen des furchigen Karstbodens war die Bödmeren von jeher nur schwer zugänglich, sodass sie für menschliche Nutzung unattraktiv war – die Grundlage für ihre Unberührtheit bis in die Gegenwart. 

Die charakteristischen Felsspalten haben noch einen anderen Effekt, der die Vegetation beeinflusst. Die Region gehört mit einer Niederschlagsmenge von 2,4 Metern pro Jahr zu den nassesten der Schweiz – aber der Boden speichert kaum Wasser. Zur Mystik des Bödmerenwalds gehört, dass es weder Bäche noch Tümpel gibt. Alles versickert sofort und fliesst ab in Richtung des darunterliegenden Höllochs; nicht nur das grösste Höhlensystem der Schweiz, sondern eine der grössten Höhlen weltweit.

Baumfamilien leben und sterben zusammen

Ein besonderes Merkmal ist die sogenannte Rottenbildung der Bäume auf der Bödmeren. Knorrige, bis zu 500 Jahre alte Fichten krallen sich in den steinigen Grund, umgeben von deutlich jüngeren Bäumen. Wie eine Familie stehen sie zusammen und stützen sich gegenseitig – und sterben als Gruppe gemeinsam ab, die Alten wie die Jungen. Das Totholz im Urwald bleibt liegen, bis es mit der Zeit vermodert und die Basis für den Lebenszyklus der nächsten Generation bildet. Das liegen gebliebene Holz ernährt auch Insekten, Moose, Pilze und Flechten, die es im Bödmerenwald in grosser Vielfalt gibt. Die Engelshaarflechte etwa, die wie Lametta an den Fichtenästen hängt, ist ausserhalb des Schwyzer Urwalds nur ganz selten zu finden.       

Ein Ort, der wildes Wachsen und stilles Sterben vereinigt, kann für die Menschen auch ein Ort der Sinnsuche sein. Der Singer-Songwriter Shem Thomas, dessen Karriere bei «The Voice of Switzerland» lanciert wurde, hat das ausgiebig durchexerziert. Mehrere Monate lang lebte er im Wald, «um den Kopf durchzulüften». Die Inspiration daraus floss in Thomas’ aktuelles Album «8». Vom Bödmerenwald kommt der Musiker seit seiner Auszeit nicht mehr los: «Ich liebe es, dort meine Sinne zu öffnen und in meine Mitte zu kommen. Trotz seiner Wildheit ist dieser Wald für mich ein safe place.»

So erkunden Sie den Bödmerenwald

Der beste Einstieg zur Erkundung des Bödmerenwalds ist der Urwaldpavillon. Er befindet sich an der Pragelpassstrasse vis-à-vis der Alpwirtschaft Unter Roggenloch. Dort ist auch der Startpunkt des Themenwegs Urwaldspur (3,5 Kilometer). Eine längere Rundwanderung bietet der Urwaldweg (10 Kilometer). Mehr hier.