Weggeputzt von der Schweizer Ordnungsliebe
Die Schweiz liebt aufgeräumte Landschaften. Asthaufen, Hecken oder Steinmauern gibt es immer weniger. Das hat Folgen für vielerlei Vogelarten – wie den Steinkauz.
Ordnung ist das halbe Leben. Für manche Menschen gilt das nicht nur in ihrer Stube. Sie wünschen sich auch eine sauber aufgeräumte Natur.
Der Biologe Jonas Leuenberger zählt nicht dazu. Er steht auf einem Feldweg und zeigt auf die Hänge rund um die Solothurner Gemeinde Nuglar-St. Pantaleon: Hochstamm-Obstbäume in Reih und Glied, so weit das Auge reicht. 10'000 Stück insgesamt, heisst es auf der Website der Gemeinde. «Wunderschön», sagt Leuenberger, «aber leider ist zwischen den Bäumen alles ausgeräumt.»
Die Ordnungsliebe ist eine Schweizer Spezialität – und hat Folgen für vielerlei Vogelarten. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Auf über 100 Flächen entlang der französischen und deutschen Grenze erhoben die Forschenden die Anzahl Brutvögel. Mit einem frappanten Resultat: Im Schnitt brüten im Schweizer Grenzgebiet 2,5 Arten weniger pro Quadratkilometer als im grenznahen Ausland. Gerade Kulturlandarten wie Neuntöter, Gartenrotschwanz oder Goldammer haben es bei uns sehr schwer.
Auch der Vogel, den Leuenberger nur zu gern wieder in den Obstgärten von Nuglar-St. Pantaleon sähe: der Steinkauz. Diese hübsche Eule mit ihren zitronengelben Augen und den cremeweissen Überaugenstreifen ist eine Charakterart der Obstgärten. Um sich wohlzufühlen, braucht sie aber mehr als einen eintönigen Wiesenteppich mit Bäumen drauf. Sie nistet am liebsten in den Höhlen schon etwas morscher Bäume. Versteckt sich tagsüber in Feldscheunen und -hütten, Ast- und Steinhaufen, Trockenmauern und Holzstapeln. Passt in Hecken, auf Ästen oder auf Zaunpfählen ihre Beute ab – Mäuse, Eidechsen und Insekten, die wiederum auf blumenreiche Wiesen angewiesen sind.
Millionen Bäume abgeholzt
In den vergangenen Jahrzehnten ist dieser strukturreiche Lebensraum fast völlig aus der Schweiz verschwunden. Millionen von Hochstamm-Obstbäumen wurden abgeholzt. In den verbliebenen Baumgärten hielt die Ordnungsliebe Einzug. Der Steinkauz zog sich zurück. Einst im ganzen Mittelland und Jura verbreitet, zählen Ornithologen heute schweizweit nur noch 150 Steinkauz-Brutpaare.
In der Nordwestschweiz starb der Kauz um das Jahr 1980 aus. Im Elsass und im Süden Deutschlands überlebten kleine Bestände. Sie zu vergrössern und den Steinkauz wieder in die Schweiz zu locken, ist das Ziel eines seit über 20 Jahren laufenden Projekts, das Jonas Leuenberger im Auftrag der Vogelschutzorganisation BirdLife Schweiz leitet. Im grenznahen Ausland mit grossem Erfolg: Im Elsässer Projektgebiet hat sich der Bestand auf gut 100 Paare versiebenfacht, im süddeutschen auf über 30 Paare mehr als verdoppelt. Auf Nordwestschweizer Boden hingegen lässt der Steinkauz auf sich warten.
«In Gesprächen mit Landwirten bekamen wir teilweise den Eindruck, dass in der Schweiz die Toleranz gegenüber unaufgeräumt aussehenden Feldern und Betrieben klein ist.»
Matthias Tschumi, Schweizerische Vogelwarte Sempach
Weshalb das so ist, hat die Vogelwarte untersucht. Sie verglich je 99 Flächen in Süddeutschland und auf der Schweizer Alpennordseite, die aufgrund der generellen Gegebenheiten alle für den Steinkauz geeignet sind. «Bei genauerer Betrachtung zeigten sich deutliche Unterschiede bei der Bewirtschaftung und bei den für den Steinkauz wichtigen Strukturen», sagt Forschungsleiter Matthias Tschumi. Zum einen würden die Wiesen in der Schweiz intensiver genutzt, ökologisch wertvolle Blumenwiesen seien rarer. Zum anderen finde der Steinkauz bei uns nur wenige sogenannte Kleinstrukturen. Anders in Baden-Württemberg, wo es im Schnitt dreimal mehr Asthaufen, Hecken oder Steinmauern gibt und gar fünfmal mehr Baumhöhlen.
Das hat Gründe. So wurden in der Schweiz mehr Hochstamm-Obstbäume gerodet als in Süddeutschland. Die Direktzahlungen sind anders ausgerichtet. «Und in Baden-Württemberg besitzen oft nicht Landwirte die Obstgärten, sondern Private, für die der Ertrag weniger wichtig ist», sagt Tschumi. Eine Rolle spiele wohl auch die Grundhaltung gegenüber unproduktiven Flächen. «In Gesprächen mit Landwirten bekamen wir teilweise den Eindruck, dass in der Schweiz die Toleranz gegenüber unaufgeräumt aussehenden Feldern und Betrieben klein ist.»
Dieselbe Erfahrung macht Jonas Leuenberger. «Ich merke immer wieder, dass Bauern Kleinstrukturen als unsauber empfinden. Oder sie befürchten, als faul angeschaut zu werden, wenn es nicht überall aufgeräumt aussieht.»
Umdenken in Sicht
Doch es gebe auch immer mehr Bauern, die gemeinsam mit Naturschutzorganisationen vielfältige, kleinstrukturierte Landschaften schaffen. Ein Beispiel sind die beiden ungefähr 15 Meter langen Hecken aus brusthohen Sträuchern, auf die Leuenberger in den Wiesen über Nuglar-St. Pantaleon nun deutet. Am Ende des einen Heckenstreifens sind ein Asthaufen und ein Steinhaufen aufgeschichtet. Etwas weiter vorn schimmert die nackte Erde durch die spärlichen Gräser und Kräuter. «Zwischen solch lückiger Vegetation sucht der Steinkauz gern Nahrung», sagt Leuenberger.
Die ersten Nordwestschweizer Steinkäuze erwartet Leuenberger aber nicht hier, sondern im Baselbieter Leimental, nahe der Grenze zum Elsass. Um es zu besuchen, trifft er sich mit Lukas Merkelbach, dem Regionalverantwortlichen für das Steinkauzprojekt. Der Weg führt durch saubere, sattgrüne Wiesen, bis an den Rand gemäht. Kaum Hecken, Sträucher oder Bäume, die den Landmaschinen in die Quere kämen. Eine Landschaft, die typisch ist für das Schweizer Mittelland.
Doch zwischendurch findet sich immer mal wieder ein Obsthain. Merkelbach erzählt von geplanten Projekten, von langwierigen Verhandlungen mit Bauern und deutet hie und da auf Kleinstrukturen, die im Rahmen des Projekts entstanden sind. Verwildert sieht es aber auch dort nicht aus, wo die Naturschützer für Vielfalt gesorgt haben: eine Hecke da, eine Strauchgruppe dort, ein Asthaufen, zwei mächtige Äste eines toten Baums am Boden. Vieles wirkt bewusst gestaltet. Merkelbach bestätigt: «Aufwertungen stossen auf weniger Ablehnung, wenn sie den Eindruck erwecken, dass sich jemand um die Landschaft kümmert.»
Dann wird es doch etwas wilder. Merkelbach steuert einen steilen Hang am Dorfrand von Biel-Benken an. Oberhalb des Wegs liegt ein kleiner Rebberg. Unterhalb etwas, das aussieht wie eine Mischung aus Wiese, Obstgarten und buschigem Wald. Nichts für Spiessbürger und Ordnungsfanatikerinnen. Aber Gold wert für viele selten gewordene Vogelarten.
«Von etwas mehr Unordnung und Kleinstrukturen würden nicht nur Vögel profitieren.»
Urs Tester, Abteilungsleiter Biotope und Arten bei Pro Natura
Vor einer Sitzbank wuchert eine Brombeerhecke. «Hier kann man im Sommer sitzen und zuschauen, wie vier Meter entfernt die jungen Neuntöter von ihren Eltern gefüttert werden», sagt Merkelbach. Zudem brüte an dem Hang der Gartenrotschwanz. «Auch die Zaunammer, der Wendehals und die Dorngrasmücke sind zurück – nur der Steinkauz noch nicht.»
Weit hätte er nicht. Ein paar Hundert Meter westlich beginnt Frankreich. In den Elsässer Gemeinden des Leimentals seien letztes Jahr mehrere Steinkauz-Brutpaare gezählt worden, sagt Merkelbach, als er über die Grenze fährt. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Landschaft nicht gross von jener in der Schweiz. Auch hier gibt es stark bewirtschaftete Flächen. Aber Merkelbach weist auf die Farbe der Wiesen.
«In Frankreich sind sie heller, es wird weniger gedüngt.» Und es steht auch schon einmal ein verlotterter Unterstand in der Landschaft – für den Steinkauz ein wertvoller Unterschlupf. Kleine Bäche und Entwässerungsgräben sind nicht eingedolt, sondern laufen offen durch die Landschaft, gesäumt von Bäumen und Büschen. «Wegen der Feuchtigkeit kann der Bauer die Randstreifen weniger gut bewirtschaften, das gibt Raum für die Natur», sagt Leuenberger.
Mehr Heuschrecken im Elsass
«Von etwas mehr Unordnung und Kleinstrukturen würden nicht nur Vögel profitieren», sagt Urs Tester, Abteilungsleiter Biotope und Arten bei Pro Natura. Die Naturschutzorganisation erstellt in intensiv bewirtschaftetem Agrargebiet Ast- und Steinhaufen, um Wiesel oder Zauneidechsen zu fördern. Sie hebt unter den Masten von Hochspannungsleitungen kleine Tümpel für Frösche, Kröten und Libellen aus. Und sie veranstaltet Wettbewerbe, damit Landwirte auf ihren Wiesen Mahdreste als Rückzugsorte für Heuschrecken, Schmetterlinge und andere Kleintiere stehen lassen.
Im angrenzenden Ausland gebe es mehr solche Kleinlebensräume, bestätigt Tester, der an der Grenze zum Elsass wohnt. «Im Sommer merke ich mit geschlossenen Augen, ob ich mich in der Schweiz oder in Frankreich befinde – das Zirpen der Heuschrecken ist im Elsass viel lauter.»
Ein wichtiges Mittel, um die Landschaft naturfreundlicher zu gestalten, sind die Biodiversitätsbeiträge von Bund und Kantonen. Doch für Ast- oder Steinhaufen erhalten Landwirte vom Bund bislang keine Zahlungen. Zudem dürfen Kleinstrukturen nicht mehr als ein Prozent der Nutzfläche eines Landwirtschaftsbetriebs betragen.
Massnahmen zur Förderung
Solche Bremsklötze für die Natur verkleinern aus Sicht der Landwirtschaftsorganisation Bio Suisse die dringend benötigte Artenvielfalt. Die Organisation verlangt deshalb von den ihr angeschlossenen Betrieben mindestens zwölf Massnahmen zur Förderung der Biodiversität, darunter auch Kleinstrukturen. Nur dann erhalten sie das Gütesiegel, sagt Mediensprecher David Herrmann.
Bio Suisse geht auch neue Kooperationen ein – wie momentan mit der Crowdfunding-Plattform Bee ’n’ Bee. Diese hilft etwa einem Bündner Winzer, der seinen Rebberg aufwerten will, um die Biodiversität zu fördern. Der Winzer erhalte dafür keine Direktzahlungen, sagt Bee-’n’-Bee-Geschäftsführer Markus Schaub. «Wir möchten solche Vorhaben durch Beiträge von Privatpersonen ermöglichen. Man muss ja nicht alles dem Staat überlassen.»
Auch Urs Tester geht es darum, die Toleranz für eine ungepützelte Landschaft in der ganzen Gesellschaft zu verankern. Nicht nur in der Landwirtschaft. «Besitzer von Naturgärten melden uns immer wieder, dass ihre Nachbarn sich an der Unordnung stören und Angst haben, Unkraut versame in ihre eigenen Gärten.» Solche Einstellungen liessen sich nicht von heute auf morgen ändern; aber sie liessen sich ändern, glaubt Tester.
«Vor 30 Jahren beschwerten sich Gemeinderäte beim Förster, wenn im Wald nicht alles Holz tipptopp aufgeräumt war.» Heute störe sich niemand mehr am Alt- und Totholz im Wald
. «Vielleicht», sagt Tester, «dauert es noch einmal 30 Jahre, bis wir auch im Landwirtschafts- und Siedlungsgebiet so weit sind.»
Für viele Tiere wäre es ein Gewinn. Denn: Unordnung bedeutet für sie Leben.
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5 Kommentare
Mein Ach so ökologischer Nachbar hat mir soeben aufgetragen meine Wildpflaumenhecke zu schneiden. Weil er ein E-Auto fährt, dass seine Solaranlage genug Sonnenlicht bekommt. Das ist so schizophren ... Und ich muss, weil es das Gesetz es so verlangt. Der Grenzabstand für Gebäude ist kürzer als der Grenzabstand bei Bäumen. Das sollte mal geändert werden.
Und über den geköpften Steinadler vom welschen Windpark redet kein Mensch. Da wollen sich die Medien mit der Windenergie-Lobby nicht anlegen.
Aber da kolidieren die eigenen Interessen des Arten und Landschaftsschutz mit der grünen Alternative.
Ja wir haben einen nichtaufgeräumten Garten. Die Vögel sind es zu Tausenden Dankbar.
Leider Schauen die vorbeigehenden immer schief zu und. Ist und aber Egal.
Vielleicht merken die Hausbesitzer irgendwann mal, dass es so nicht weiter gehen kann. Die Mutter Natur wird sich immer mehr zur wehr setzen. Dagegen haben wir Besucher auf diesem Planeten keine Change.
"Der Steinkauz zog sich zurück." Herr Koechlin hat einen interessanten, aufschlussreichen Artikel geschrieben. Aber dieser Euphemismus - vermutlich unbewusst - zeigt, wie viele bedrohliche Phänomene umgangssprachlich verharmlost werden. Meinem Verständnis nach hat sich der Kauz nicht zurückgezogen (wohin? wo ist die neue Ansammlung?), sondern er wurde hier allmählich dezimiert, ausgerottet mangels geeigneter Lebensräume. Man sollte die Fakten klar benennen, damit die Leserschaft richtig versteht, was passiert (ist).
Leider haben Sie absolut recht mit diesem sehr zutreffenden Kommentar!
Veronika Weber