Kommt die Gentechnik durch die Hintertür?
Genverändertes Gemüse und Fleisch könnten schon bald im Supermarkt liegen – ohne spezielle Kennzeichnung. Der Bundesrat kann das im Alleingang erlauben.
aktualisiert am 28. August 2017 - 10:03 Uhr
Die Biotechnologen basteln an der schrecklich schönen neuen Welt. Mit der vor fünf Jahren entwickelten Genom-Chirurgie können sie direkt das Erbgut von Lebewesen manipulieren. Eines der neuen Instrumente ist Crispr/Cas9. Es funktioniert simpel: Crispr erkennt einen spezifischen Abschnitt auf der Erbsubstanz DNA, das angehängte Enzym Cas9 schneidet dort zu. So lassen sich einfach, billig und schnell Gene herumschieben – bei Pflanzen, Bakterien und Menschen.
Chinesische und US-Forscher haben mit der Crispr-Technik bereits in den Genen menschlicher Embryonen herumgewerkelt. Britische Biologen haben die dazu nötige Bewilligung der Behörden. Das Wissenschaftsblatt «Nature» spricht von einer «mächtigen Technologie», die das Potenzial habe, «die Natur zu übertrumpfen».
Man habe den Gottes-Code geknackt, schrieben Journalisten. Das erinnert an die vollmundigen Heilsversprechen, mit denen die Gentechnik vor 25 Jahren gestartet ist. Damals hiess es, man könne die Menschheit von ihren grossen Geisseln wie Krebs, Aids oder Alzheimer erlösen und den Welthunger besiegen. Versprechen, die bis heute nicht eingelöst sind.
Mit Crispr/Cas9 arbeiten nun Forscher auf der ganzen Welt. Letztes Jahr hat die US-Landwirtschaftsbehörde das erste damit veränderte Lebensmittel freigegeben: einen Champignon, der langsamer braun wird, damit er länger verkauft werden kann. Die Forscher tüfteln auch an länger haltbaren Kartoffeln herum, an Mais, der mehr Stärke produziert, an Weizen, der weniger Kohlenhydrate und mehr Ballaststoffe enthält.
Eine US-Firma hat Rinder ohne Hörner erzeugt, damit ihnen die «schmerzhafte Enthornung» erspart werde. Chinesische und südkoreanische Forscher arbeiten an «super muscly pigs» – Schweinen, die sehr schnell sehr viel Muskelfleisch ansetzen.
Crispr/Cas9 versucht man auch direkt in die Keimbahn einzubauen, um die gewünschte Veränderung mittels Gene-Drive (Genantrieb) rasch an praktisch alle Nachkommen zu vererben. So will man ganze Arten verändern, vermehren – oder auch ausrotten. Die Tigermücke, die Gelbfieber und Zika übertragen kann, soll so sterilisiert und ausgelöscht werden.
Was sich wie Science-Fiction anhört, könnte in der Schweiz bald Realität werden. Derzeit wird noch darüber gestritten, wie man «neue Pflanzenzuchtverfahren» bewerten soll. Der Entscheid wird Folgen haben: Wenn die Verfahren dem Gentechnikgesetz unterstellt werden, fallen sie wohl unter das Gentech-Moratorium bis 2021. Gilt aber das Landwirtschaftsgesetz, dürfen sie gemäss den üblichen Vorschriften für Kultursorten angebaut und verkauft werden. Konsumenten würden dann nicht mal erfahren, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel auf ihren Teller kommen.
Weil «die Auswirkungen dieser Technologien die gesamte Bevölkerung betreffen», fordert die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich, «die breite Öffentlichkeit stärker als bisher in diese Diskussion miteinzubeziehen». Derzeit sieht es aber nicht danach aus. Der Entscheid liege beim Bundesrat. Das Parlament müsse nicht einmal konsultiert werden, sagt Markus Hardegger vom Bundesamt für Landwirtschaft. Man überlege aber trotzdem, es zu tun.
Hardegger selbst hat keine Bedenken. Im Gegenteil, man müsse sich fragen, «ob es sinnvoll ist, einer so präzisen Technik wie der Genom-Chirurgie mit dem Gentechnikgesetz eine grosse Hürde in den Weg zu stellen». Es gebe «aus naturwissenschaftlicher Sicht keinen Grund für eine strenge Regulierung», schreiben auch die Akademien der Wissenschaften Schweiz. Die neuen Techniken seien so sicher wie konventionelle Züchtungsverfahren.
Wenn es nach dem Bundesrat ginge, wäre in vier Jahren der Anbau gentechnisch manipulierter Pflanzen erlaubt. Das Parlament sprach sich diesen Frühling aber deutlich dagegen aus. Auch die Bevölkerung lehnt gentechnisch veränderte Lebensmittel klar ab, ergab kürzlich eine Umfrage des Instituts GfS.
Eva Gelinsky ist Mitglied der Ethikkommission. Crispr-Produkte dürften nicht so schnell zugelassen werden, warnt die Agrarwissenschaftlerin. «Alle Lebewesen können mit den neuen gentechnischen Verfahren sehr grundlegend, schnell und vergleichsweise einfach verändert werden. Deshalb müssen wir nicht nur Chancen, sondern auch Risiken in Betracht ziehen.» Es brauche dringend unabhängige Risikoanalysen.
«Präzise» ist das am häufigsten verwendete Wort im Zusammenhang mit Crispr/Cas9. Doch Präzision sei nicht gleich Sicherheit, sagt Tamara Lebrecht von den Critical Scientists Switzerland. «Auch eine präzise Veränderung kann unvorhergesehene Folgen haben.» Daher wäre es ein Fehler, wenn die Schweiz das bewährte Vorsorgeprinzip aufgäbe. Es bedeutet, dass Produkte erst auf den Markt gelangen, wenn die Hersteller mit unabhängigen Risikoanalysen oder Langzeitstudien zeigen können, dass sie unbedenklich sind. In den USA sind die Hürden viel tiefer. Neue Produkte dürfen so lange verkauft werden, bis bewiesen ist, dass sie schädlich sind.
Die Eidgenössische Ethikkommission sieht «aus risikoethischer Sicht» keinen Grund, die Anforderungen an die neuen gentechnischen Verfahren und Produkte zu senken. «Wie die im Labor veränderten Pflanzen in der Natur reagieren, wissen wir nicht», sagt Eva Gelinsky. «Die Biotechnologen glauben immer noch, man müsse bei der Pflanzen-Maschine nur an einer Schraube drehen, und sie verhalte sich so, wie man es will. Eine Pflanze ist aber kein statisches Produkt, sondern ein Organismus, der in dauernder Wechselwirkung mit seiner ebenfalls nicht statischen Umwelt steht.»
Bestärkt wird diese Einschätzung durch neue Studien. Sie zeigen, dass die Crispr/Cas9-Technik unerwünschte Wirkungen haben kann. Forscher der New Yorker Columbia-Universität korrigierten etwa eine Genveränderung, die Mäuse blind macht.
Als sie hinterher das ganze Genom untersuchten, entdeckten sie viele ungewollte Veränderungen. Bei zwei Mäusen zählten sie mehr als 1500, dazu über 100 grössere wie gelöschte oder neu eingefügte Genabschnitte.
Zwei Biotech-Firmen, deren Aktienkurs nach der Veröffentlichung tief getaucht war, forderten das Fachmagazin auf, die Studie wegen methodischer Mängel zurückzuziehen. «Sie zeigt nicht eindeutig, dass alle diese Mutationen auf die Crispr-Anwendung zurückzuführen sind», sagt auch Markus Hardegger vom Bundesamt für Landwirtschaft.
Anders sieht es der Biochemiker Michael Antoniou, der am King’s College London mit Crispr/Cas9 arbeitet. Die neue Technik entfalte offensichtlich bislang unberechenbare molekulare Wirkmechanismen, sagt er. «Das zeigt, dass wir nicht alles über die Wirkung von Crispr/Cas9 wissen.»
Die Saatgutindustrie verändert Pflanzen mit der Crispr/Cas9-Technik. Sie will verhindern, dass die Politik deren Zulassung «unnötig belastet». Um Entscheidungsträger und Wissenschaftsgremien auf Kurs zu bringen, hat die Internationale Vereinigung der Saatgutfirmen den Ratgeber «Wie man über die neuen Pflanzenzüchtungs-Innovationen spricht» verfasst. Darin rät sie, man müsse sich auf die Vorteile des Produkts konzentrieren statt auf das gentechnische Verfahren.
Ausserdem müsse man herausstreichen, dass sich diese Produkte nicht von konventionellen Lebensmitteln unterscheiden. Eine spezielle Regulierung sei daher unnötig.
Gemäss zwei EU-Rechtsgutachten sind die neuen Verfahren jedoch eindeutig als genetische Manipulationen zu beurteilen und müssen dem europäischen Gentechnikgesetz unterstellt werden. Entscheidend sei nicht das Endergebnis, sondern der Entstehungsprozess.