Nichts geht, wenn die Chemie nicht stimmt
Sie ist ein fester Bestandteil unseres Lebens und begleitet uns im Alltag auf Schritt und Tritt. Doch wer denkt schon bei Lippenstift, Kochen oder Kondomen an die Chemie? Ein Blick auf stoffliche Zusammenhänge zum Auftakt des «Internationalen Jahrs der Chemie 2011».
Veröffentlicht am 7. Februar 2011 - 11:33 Uhr
Beim Stichwort Chemie denken viele an Gift und Gestank. Dabei basiert alles Leben auf chemischen Prozessen. Unser Organismus besteht aus etwa 20 Elementen, die im Körper in zahlreichen Verbindungen vorkommen. Über die Nahrung führen wir uns Rohstoffe zu, um sie zu Bausteinen des Lebens zu verarbeiten oder in Energie umzusetzen.
Auch im Alltag haben wir ständig damit zu tun: Die Mobiltelefone funktionieren dank Chemie, Cola besteht wie viele Süssgetränke hauptsächlich aus Zutaten, die chemisch hergestellt sind. Und unser aller Wohlstand basiert zu einem grossen Teil auf einer chemischen Reaktion – nämlich der Verbrennung fossiler Energieträger. Die chemische Forschung spielt auch bei der Entwicklung alternativer Energiequellen und -speicher oder umweltfreundlicher Materialien eine wichtige Rolle. Ressourcenschonender, nachhaltiger Fortschritt ist ohne Chemie nicht denkbar. Dieser Aspekt steht denn auch im Fokus des von der Uno ausgerufenen «Internationalen Jahrs der Chemie 2011».
Handy, Notebook und MP3-Player brauchen eine unabhängige Stromversorgung. Akkus funktionieren nach demselben Prinzip wie Batterien: Ein Metall, das den Minuspol (Anode) bildet, steht einem anderen Metall gegenüber, das den Pluspol (Kathode) bildet. Sobald der Akku in den Stromkreis eines Geräts eingesetzt wird und Plus- und Minuspol miteinander in Verbindung gebracht werden, findet eine chemische Reaktion statt: Die Kathode gibt Elektronen ab, die Anode nimmt sie auf. Elektrische Ladung wird von einem Stoff auf den anderen übertragen, sodass ein Stromfluss entsteht. Bei Akkus ist dieser Prozess umkehrbar. Man kann sie also aufladen und so Strom speichern. Grosse Akkus – etwa in Elektroautos – könnten sogar die unregelmässige Produktion der Solar- und Windkraftwerke ausgleichen, indem sie geladen werden, wenn das Stromangebot gross ist. Akkus werden künftig kleiner, aber leistungsfähiger sein und weniger Schadstoffe enthalten.
Warum brennen gewisse Stoffe und andere nicht? Entscheidend ist die chemische Struktur der Stoffe. Kohlenwasserstoffverbindungen (CmHn), aus denen Erdöl hauptsächlich besteht, verbrennen zum Beispiel sehr gut. Nach einem Startimpuls durch einen Funken reagieren sie mit Sauerstoff (O2) und verbinden sich zu neuen Molekülen bei sauberer Verbrennung zu Kohlendioxid (CO2) und Wasser (H2O). Wenn sich die Atome aus den Molekülen lösen, um sich neu zu gruppieren, entsteht Energie in Form von Licht und Wärme. Weil bei der Verbrennung von Erdöl das Treibhausgas Kohlendioxid entsteht, gilt es, alternative Treibstoffe zu entwickeln, zum Beispiel nichtfossile Energieträger aus Pflanzen, die ihren Kohlenstoff aus Kohlendioxid in der Atmosphäre beziehen – und damit klimaneutral verbrannt werden können. Eine ökologische Alternative wäre Wasserstoff (H2), der zu unbedenklichem Wasser (H2O) verbrennt. Seine Gewinnung ist allerdings sehr energieintensiv.
Viele Arzneimittel kommen auch in der Natur vor – so auch Acetylsalicylsäure, besser bekannt als Aspirin. Der Stoff steckt in der Weidenrinde, deren schmerzstillende Wirkung bereits in der Antike bekannt war. Im Jahr 1897 gelang es Felix Hoffmann und Heinrich Dreser, die Säure synthetisch und in reiner Form herzustellen. Das hat den Vorteil, dass die Anwendung weniger Nebenwirkungen verursacht – denn in der Baumrinde stecken auch noch andere Stoffe, die auf den Körper wirken.
Sein Erfinder benannte das Getränk nach zwei ursprünglichen Zutaten: der Coca-Pflanze und der Cola-Nuss. Dabei ist Cola nichts anderes als ein Cocktail verschiedener, meist chemisch aufbereiteter Stoffe. Die Hauptingredienzen sind Zucker, Kohlensäure, Koffein, Phosphorsäure und Vanillin. Kohlensäure ist in Wasser gelöstes Kohlendioxid. Das Koffein wird mit flüssigem Kohlendioxid aus Kaffee extrahiert. Die Phosphorsäure sorgt für den erfrischenden Geschmack von Zitronensaft. Und künstliches Vanillin wird hauptsächlich aus Sulfit, einem Abfallprodukt der Papierherstellung, gewonnen.
«Rote Lippen soll man küssen», weiss der Schlager. Schon unsere Ahnen färbten sich die Lippen – unter anderem mit giftigem Quecksilbersulfid, auch als Zinnober bekannt. Heute werden alle Inhaltsstoffe von Lippenstiften auf Unbedenklichkeit geprüft. Als Farbstoffe verwenden Kosmetikfirmen synthetische Pigmente, die nicht in die Haut eindringen. Neben den Farbpigmenten enthalten viele Lippenstifte Titanoxid. Die weisse Substanz deckt hervorragend. Ausserdem wirkt sie farbverdünnend und ermöglicht so verschiedene Schattierungen.
Jede Küche ist auch ein Chemielabor. Hitze löst chemische Reaktionen in den Lebensmitteln aus. Das hat unter anderem zur Folge, dass sich Geschmack und Konsistenz der Nahrungsmittel verändern. Manchmal findet schon eine Reaktion statt, wenn man zwei Zutaten mischt. So bricht etwa die Säure des Weins beim Beizen die Eiweisse im Braten auf. Natürlich liegen die Zutaten meist nicht in chemisch reiner Form vor, sondern als Gemisch vieler Stoffe. Eine Karotte zum Beispiel enthält Wasser, Stärke, Zuckerarten, zahlreiche Mineralien, Vitamine und viele weitere Inhaltsstoffe. Es gibt aber Ausnahmen, zum Beispiel Kristallzucker: eine praktisch reine Substanz mit dem chemischen Namen Saccharose. Erhitzt man Zucker, oxidiert er. Das heisst, er verbindet sich mit Sauerstoff – und wird zu leckerem Karamell.
Herkömmliche Solarzellen verwandeln die Strahlungsenergie des Sonnenlichts mittels eines physikalischen Prozesses in elektrische Energie. Sie bestehen zum grössten Teil aus Silizium, das wir in seiner oxidierten, mit Sauerstoff verbundenen Form als Sand kennen. Silizium ist das zweithäufigste Element, aber in seiner reinen Form nur mit grossem Aufwand zu gewinnen. Deshalb sollen künftig andere Materialien auf chemischem Weg elektrische Energie aus Sonnenlicht liefern, zum Beispiel organische Farbstoffe: Solarzellen, die auf dem Funktionsprinzip der Photosynthese basieren, gibt es bereits. Die Haltbarkeit dieser Zellen nach ihrem Erfinder, dem Schweizer Michael Grätzel, Grätzel-Zellen genannt – ist allerdings beschränkt, weil sich die bisher eingesetzten Farbstoffe relativ schnell zersetzen.
Chanel Nr. 5 ist der berühmteste Duft der Welt, und das mit gutem Grund. Denn dieses Parfum hat künstliche Duftstoffe salonfähig gemacht: Es enthält nebst dem ätherischen Öl der Ylang-Ylang-Blüte auch synthetische Substanzen wie 2-Methylundecanal, einen Duftstoff, der in natürlicher Form in der Schale der Zwergorange (Kumquat) vorkommt. Heute basieren die meisten Parfums auf synthetischen Inhaltsstoffen. Sie haben zahlreiche Vorteile: Früher mussten für ein kleines Fläschchen mit reiner Essenz mehrere 100 Kilogramm Blumen oder Früchte extrahiert werden – ein teures und sehr aufwendiges Unterfangen. Je nach Reifungsgrad und Arbeitsbedingungen variierte die Note jeweils. Erst im Chemielabor konnten Parfums in immer gleicher Qualität hergestellt werden, was sie für jedermann erschwinglich machte. Synthetische Düfte rufen zudem meist weniger allergische Reaktionen hervor als natürliche und sind somit hautverträglicher.
Das Geheimnis von Waschmitteln und Seifen aller Art sind die sogenannten Tenside. Deren Moleküle sind lang und dünn, wobei das eine Ende Wasser anzieht, das andere Öl. Tenside sind also ein Bindeglied zwischen zwei Substanzen, die sich eigentlich gegenseitig abstossen. Sie verhindern, dass das Wasser einfach von Fettspuren abperlt; öl- oder fetthaltige Flecken lassen sich damit also entfernen. Die meisten heute verbreiteten Tenside basieren auf Erdöl. Wollen wir auch in Zukunft sauber bleiben, werden wir also Alternativen aus nachwachsenden Rohstoffen verwenden müssen.
Alle unsere Kunststoffe bestehen aus sogenannten Polymeren (griechisch poly = viel, meros = Teil). Bei diesen Molekülketten handelt es sich meist um aneinandergereihte Kohlenstoffatome, mit denen andere Atome wie Wasserstoff, Fluor oder Chlor verknüpft sind. Einige Polymere, etwa PVC, sind in Verruf geraten, da sie wegen ihrer Zusatzstoffe Lebensmittel verunreinigen oder bei der Verbrennung Umweltgifte erzeugen können. Doch Kunststoffe haben auch zahlreiche Vorteile. Ein besonders praktisches Polymer ist Polyethylenterephthalat, besser bekannt als PET. Dabei handelt es sich um Polyester, der wie Glas zu luftdichten Flaschen verarbeitet werden kann. Das Polymer ist aber deutlich leichter und benötigt zur Herstellung nur halb so viel Energie. Bleibt es rein, kann es beliebig oft rezykliert werden. Zudem kann man aus PET auch Textilfasern herstellen. Sie haben den Vorteil, dass sie nicht knittern und schnell trocknen. Ein Polymer mit ganz speziellen Reizen ist Polyurethan. Es ist dem natürlichen Latex ähnlich, aber doppelt so fest wie das Naturprodukt aus Kautschuk, daher ermöglicht es dünnere Kondome.
Weitere Infos
Der britische Chemiker John Emsley hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher zum Thema Chemie im Alltag geschrieben, zuletzt «Fritten, Fett und Faltencreme»; Wiley VCH, 2009, 276 Seiten, Fr. 24.90
Schweizer Website zum Internationalen Jahr der Chemie: www.chemistry2011.ch